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Was eine afrikanische Sängerin erzählt

Kenya Ogoya Ehepaar

Ogoya Nengo, [siehe auch hier], der preisgekrönte Edelstein der Dodo-Musik in Kenya, ist im Begriff, ihren Kreis zu vollenden. Nach mehr als einem halben Jahrhundert auf der Bühne scheint Nengo gerade erst ihre Karriere zu starten, sich ihren Weg hineinzusingen in die Herzen der vielen Menschen in den Dörfern und großen Städten rund um die Welt. Bobastles Nondi plauderte mit ihr vor dem Auftritt im Goethe-Institut Nairobi am 4. April 2009.

Wer ist Ogoya Nengo?

Ogoya Nengo ist Musikerin, Interpretin, Großmutter, Pflegekraft und Ehefrau, auch wenn mein Mann inzwischen verstorben ist.

Ist Ogoya Nengo dein richtiger Name?

Mein Name ist Anastasia Oluoch Akumu. Akumu ist mein Ehemann. Ogoya Nengo ist mein Bühnenname und so werde ich auch in dem Dorf genannt, wo ich geheiratet habe. Ogoya ist abgeleitet von Magoya, dem Dorf, wo ich geboren bin, es liegt nahe bei dem Fluss Nzoia in der Provinz Nyanza in West-Kenya. Du weißt: wo ich herkomme, werden Frauen selten bei ihrem Namen genannt. Die Leute nennen dich nach dem Namen, den dein Clan trägt, dein Stamm, das Dorf, der Distrikt, nach geographischen Besonderheiten wie Bergen, Seen oder Ebenen, nach deinen prominenten Verwandten oder prominenten Leuten in deinem Dorf und später nach deinen Kindern. Es wird als respektlos angesehen, eine Frau bei ihrem realen Namen zu nennen, wenn sie verheiratet ist.

Nengo meint andererseits ganz einfach „der Preis“. Ogoya Nengo soll daher bedeuten „die mit einem Preis bedachte Tochter des Magoya“.

Warum nennt man dich „die mit dem Preis bedachte“?

Erstens bin ich eine Frau und jede Frau hat einen Wert. Wie hoch oder niedrig dein Wert ist, hängt davon ab, wie du dich selbst einschätzt. So auch in meinem Fall: schon als junges Mädchen wusste ich, dass ich „hochpreisig“ war. Zweitens galt schon seit meinen frühen Tagen, dass man etwas zu zahlen hast, wenn man mich für eine Aufführung bekommen will. Und in den Dörfern konnte jede Sache, die mit einem kleine Preis verknüpft war, als kostspielig wahrgenommen werden, einfach wegen der allgemeinen Armut der Bevölkerung.

Wann hast du dein Talent entdeckt?

Vor langer Zeit, als ich noch ein kleines Mädchen war! Das ist schon mehr als 50 Jahre her. Als wir noch kleine Mädchen waren, hatten wir unsere Mutter oder ältere Verwandte zum Fluss zu begleiten, um Wasser zu holen oder um zu baden. Wir fühlten uns eigentlich wie auf einer Vergnügungsreise, wir spielten, sangen und tanzten den ganzen Weg über und auch am Ufer des Flusses, vor oder nach dem Baden. Als Kinder konnten wir aus vollem Herzen singen und tanzen bis wir völlig außer Atem waren. Und auch wenn wir zu den Feldern gingen, um nach dem Vieh zu sehen: wenn das Vieh graste, war alles, was wir taten – spielen, singen und tanzen. Aber immer und überall war man einhellig der Meinung, dass meine Stimme hervortrat aus all den Mädchen, von denen einige meine Schwestern waren, und sie wuchsen auch auf, um große Dodo-Sängerinnen zu werden. So befand ich mich, als ich eines Tages die Pubertät erreichte, schon in einer Position, dass ich in öffentlicher Funktion sang. Das war in den 1950er Jahren.

Es ist also richtig zu sagen, dass du dich selbst durch die Spiele der Kindheit entdeckt hast?

Nicht wirklich! Selbst als Kinder waren wir keine Krachmacher. Wir ahmten gewöhnlich ältere Frauen und Männer nach, die bei Begräbnissen sangen, oder bei Trink-Parties, Hochzeits-Zeremonien und vielen anderen familiären oder sozialen Anlässen im Dorf. Dabei waren meine Mutter und mein Vater beide schon von sich aus perfekte Sänger. Ich muss also sagen: das Singen liegt in unserm Blut. Ich bin die zuletzt geborene, und all meine fünf Schwestern und der einzige Bruder waren schon Interpreten.

Soll das heißen, dass Dodo-Singen etwas ist, das in diesem Teil der Welt weithin von verschiedenen Leuten praktiziert wird?

Ja und nein! Ja: weil es damals, als ich aufwuchs und sogar bis weit in die 1980er Jahre, viele solche Funktionen gab, zu denen Interpreten verschiedenster Formen eingeladen waren. Wir hatten sogar Wettbewerbe. Die Leute befassten sich allgemein damit. Das Land war übersät mit traditionellen Interpreten. Aber die Dinge haben sich seitdem geändert. Jetzt gibt es nur noch wenige Anlässe, bei denen man etwas aufführt. Und das hat den Wettbewerb viel höher gepuscht, umgekehrt auch manche Interpreten für immer von der Bühne runtergepuscht.

Was hat dich fähig gemacht, all das erfolgreich durchzustehen?

Meine Stimme und die Komposition meiner Lieder. Siehst du: du kannst eine große Stimme haben, aber wenn das, worüber du singst, ohne Relevanz für die Gemeinschaft ist, oder wenn du eine schlechte Sprache verwendest, werden sich die Leute von dir abwenden. Als Dodo-Sängerin weiß ich sogar, dass es eine gewisse Klasse von Leuten ist, die meine Musik hört. Ich muss ihre Sprache zu sprechen, ich muss ihre Themen berücksichtigen, muss ihren Stil tanzen. Und ich muss schon sagen: Dodo Fans sind eine sehr spezielle Sippschaft in der Gesellschaft.

Traditionelle Musik, insbesondere des Luo Volkes, wird assoziiert mit schlechter Sprache und einem gewissen Grad von Vulgarität. Kann Dodo sehr unterschiedlich sein?

Es hängt davon ab, wo du herkommst und in welchen Funktionen du zuhaus bist. Alles wird in einem Kontext gesehen und beurteilt. Dodo ist in dieser Hinsicht nichts völlig Außergewöhnliches. Du hast eben deine Gedanken zu jedem besonderen Zeitpunkt mit deinem Publikum zu verbinden.

Worüber singst du?

Ich singe über alles! Ich singe über das Leben, wie ich es sehe und lebe, ich singe über Leute, die ich treffe und mit denen ich zu tun habe. Ich singe über politische Dinge, wie sie sich für mich darstellen. Ich singe über alles, einschließlich dem Aufstieg des US-Präsidenten Barack Hussein Obama; Obama wuodwa (Obama, unser Sohn). Ich singe über Dinge, wie sie um mich herum geschehen.

Was sind einige deiner Lieblingsthemen und was sagst du darüber?

Gare Matatu, das bedeutet „Autobus“, insbesondere die Autobusse, die auf Kenyas Straßen berüchtigt sind, da stehen die Passanten einander auf beiden Seiten gegenüber, und der Einstieg ist von hinten, und das beleuchtet die dunkle Seite des Fahrgasttransports und die Belästigung, denen Frauen ausgesetzt sind, in einer solch unkontrollierten Gesellschaft. Passagiere besteigen diese Wagen von hinten, und wenn du Frau bist, stößt dich der männliche Kartenverkäufer oder Chauffeur nach hinten, so dass du rüber steigen musst, um reinzukommen. Manchmal ist der Wagen gefüllt bis zur Tür, wobei die Frauen hinten wieder rausgestoßen werden und Männer, die ausgestreckt drüberhängen, reiben sich gegen die Rückseiten der Frauen, so wie der Wagen schlingert und schleudert. Und das sind Männer, die deine Söhne oder Schwiegersöhne sein könnten. Es passiert heute noch.

Dhiang Okelo Masira (die Kuh ist Ursache all dieser Leiden), das erzählt von der Notlage der Frauen nach der Heirat, wie sie über die Jahre hinweg in Gebrauchsartikel verwandelt werde. Es ist wie mit Kühen.

Wenn einmal eine Kuh als dein Brautpreis bezahlt ist, hörst du auf, ein eigenes Wesen zu sein, stattdessen bist du in eine Sache für den Mann verwandelt, der dich oft genug wie eine Fußmatte behandelt. So befindest du dich in der Ehe, statt für das eigene Glück und das der Familie, ganz einfach in der Situation der Kuh, die wahrscheinlich längst geschlachtet oder verkauft wurde von deinen Leuten.

Die meisten Dodo-Sängerinnen sind auf ihre Dörfer eingeschränkt. Wie hast du den Weg hinaus zur Stadt gefunden?

Wieder: durch meine Stimme und den Zufall! Die Leute suchen mich für Aufführungen bei Begräbnis-Zeremonien, Hochzeiten und andere soziale Zeremonien, politische Funktionen und Kampagnen, Graduiertenfeiern und vieles andere. So kam dann dieser Tag, an dem ich eingeladen war, einen Ehrengast zu unterhalten (den Schwiegersohn) in Alego, im Siaya District, und das Schicksal wollte, dass der Ehrengast sich als Musikproduzent aus Nairobi entpuppte, William Tabu Osusa vom Katebul Production House [s. Anmerkung am Ende dieses Beitags]. Ich hatte keine Ahnung, dass ich für meinen nächsten Boss sang! Tatsächlich, wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich wirklich auf bestmögliche Weise präsentiert. So, aber nach diesem Treffen kam Tabu ins Dorf, um nach der alten Frau zu schauen, die sich auf ihre Art in sein Herz gesungen hatte, und er fragte, ob sie bei ihm Aufnahmen machen könnte. Ich sah, wie sich eine neue Welt für mich öffnete.

Während ich in den Katebul Studios des GoDown Arts Centre in Nairobi war, hörte ein anderer möglicher Interessent namens Opiyo Okatch, ein zeitgenössischer Tänzer, meine wunderbare Stimme, während er seinen Tanz probte, und er verliebte sich auf der Stelle. Er dachte einfach, dass dieser Tanz besser gehen würde, wenn er ihn zu dieser Stimme tanzen würde. So nahm er Kontakt auf, und ich, als die Musikerin, die ich bin, gab ihm eine Chance, und gut: Tabu Osusa verstand es.

Und die Dinge liefen dann sogar noch besser, wie du hier sehen kannst, ich bin flankiert von einer jüngeren Generation von Männern: Olith Ratego und Makadem [das sind die zwei Ketebul Afro-Fusion Musiker, die im Augenblick Ogoya Nengo in der Stadt begleiten und bei ihrer Goethe-Instituts-Tour als ihre Interpreten arbeiten].
Mit Katebul und Opiyo Okatch bin ich durch Kenya (speziell Nairobi), Uganda, South Africa, Mozambique, Deutschland, Frankreich und Brasilien getourt. Ich habe auch ein Album mit Katebul aufgenommen, es sollte bald heraus sein. Sie haben das Mädchen in mir wiedererweckt!
Mit diesem Album hoffe ich, auch auf Video produziert zu werden; ich wünsche auch mich selbst auf der Leinwand zu erleben wie andere Musiker.

Was hat sich über die Jahre verändert in deiner Welt der Musik?

Sehr viel hat sich verändert in der Musikwelt. Zum Beispiel wurden wir, als wir anfingen, nicht direkt bezahlt. Stattdessen wurden wir von unseren Zuhörern mit Beweisen ihrer Wertschätzung bedacht: das konnten Maiskörner sein, Sorghum, Hirse, Erbsen oder dergleichen; Ziegen, Schafe, Kühe und Bullen und solche Sachen. Dann begannen sich die Dinge zu ändern und wir fragten nach ganz bestimmten Sachen. Und dann wurden wir mit Geld bezahlt.

Eine andere Sache, die passierte, ist, dass soviel Lärm in die Musik eingeführt wurde. Zum Beispiel hatten wir immer Ohangla, Tung, Orutu, Nyatiti und sogar Grammophone dabei, was alles laut genug war. Noch konnten wir also mit unseren puren Stimmen singen neben diesen Instrumenten auf einer konkurrenzfähigen Bühne, wo jeder sein Publikum erreichen und sogar die Aufmerksamkeit der Mehrheit gewinnen konnte. Wir konnten klar inmitten dieser Musikformen herausgehört werden. Das gelang uns, weil jeder seine Musik spielte und das Publikum so sehr auf musikalische Qualität, nicht auf Quantität ausgerichtet war.

Aber heutzutage kannst du nur eingeladen werden auf eine Bühne, wo du in Konkurrenz trittst mit Lastwagenladungen von Sound-Systemen, so dass es, wenn die angeschaltet sind, nicht nur deine Stimme verschlingt, sondern dir auch Kopf, Herz und Magen umdreht und Schmerzen verursacht. Das ist Lärm!

So viele Dinge sind in unsere Musik eingeführt worden. Dodo-Musik wurde eigentlich nur mit Poko (Kürbis), Peke (Bottle-Tops), Kayamba und Whistle gespielt. Aber man sagte mir, dass jetzt die meisten Instrumente und viele andere Effekte von einer Maschine produziert werden können, was bedeutet, dass einige von unsern Leuten, die diese Instrumente spielen, überflüssig werden, wenn wir diesen Weg mitmachen.

Was ist gleich geblieben?

Die Hörerschaft. Ob in den Dörfern von Kenya oder in den großen Städten der Welt, – du findest immer noch ein passioniertes Publikum, das nach deiner Musik verlangt und dir Aufmerksamkeit schenkt.

Was würdest du gern ändern, wenn du fortfährst mit Musik?

Den Lebensstil der Musiker in meiner Kategorie! Siehst du, wenn die Leute sehen, wie du überall herumreist, in Flugzeugen, wie du umgehst mit den Hohen und Mächtigen, schwarz und weiß, dann erwarten sie, dass du Geld hast. So viel Geld, dass du in einer Position bist, mit ihnen zu teilen! Aber das ist nicht der Fall.

Wieder ist es so, wenn die Leute kommen und mich in meinem Haus besuchen, sollten sie ein wunderschönes Haus finden, das dem Status eines Musikers zukommt, von dem sie hören und lesen. Aber das ist nicht der Fall.

Wie könnte dies deiner Meinung nach geändert werden?

Indem man für uns viele Jobs schafft und viele Tourneen vermittelt, durch die wir gutes Geld bekommen können. Auf diese Weise muss ich mich nicht  um die Bewirtschaftung meines Landes sorgen, wofür ich ja jemanden beschäftigen könnte, während ich mich auf die Musik konzentriere.

Wir können sogar mit einer großen Band voller traditioneller Musikinstrumente auftreten, die wir in unseren Shows einsetzen, und wir werden gemietet, wenn wir nicht gerade irgendwo beschäftigt sind.

Ich denke, die Leute lieben es, alte Frauen als Entertainer zu erleben, wann immer sie in die Tage von früher zurückkehren wollen; die älteren jedenfalls. Und die jüngeren könnten auch den Weg der Erinnerung gehen, sehen und hören, was für eine Musik ihre Vorväter und Mütter gemacht haben.

Gibt es irgendetwas Negatives über Musik zu berichten?

Es hängt alles davon ab, wie du dich außerhalb der Bühne und auf der Bühne benimmst. Wenn du dich selbst in einer Weise aufführst, die dich als negativ kennzeichnet, wird die Musik negativ für dich sein. Aber wenn du es ernst nimmst als Karriere, wird die Musik dich ebenfalls mit Respekt behandeln.
Sicher, – überall gibt es Leute, die Musikern und besonders Frauen mit Verachtung begegnen. Aber daher kommt gerade der Unterschied. Traditionelle Musik wird doch weithin mit Respekt und Würde behandelt. Und ganz besonders Dodo hat ein erstklassiges Publikum. Wir bringen eine besondere Unterhaltung für besondere Leute bei besonderen Gelegenheiten. Das bringt uns durchaus einen gewissen Level von Respekt.

Was können wir von dir in kommenden Tagen erwarten?

Musik, Musik und noch mehr Musik! Ich werde gerade immer besser!

Kenya Ogoya Frauengruppe

Quelle Fotos: Sven Kacirek und Stefan Schwander 2013 / Text: Bobastles Nondi in dem Journal Artmatters (Kenya, Nairobi) am 8. April 2009 / Übersetzung JR

ZITATE aus der Wissenschaft

In einer mit anderen traditionellen Kulturen kaum vergleichbaren Weise wird Musikkultur in afrikanischen Gesellschaften vom einzelnen Musiker geprägt. Gemeint sind hier Gesellschaften mit oraler oder besser gesagt auraler Tradition, denn die musikalische Tradierung von einer Generation zur nachfolgenden ist überwiegend aural oder verbal. In traditionellen afrikanischen Musikkulturen wird Musik im Spannungsfeld zwischen den Musikern und der Gesellschaft gestaltet, wobei der eine Teil nicht ohne den anderen existieren kann. Die Gesellschaft kennt verbindliche Verhaltensmuster, denen sich keiner entziehen kann, auch nicht der traditionelle Musiker. Die auf dieser Basis bestehende ’sonische Ordnung‘ ist für alle Beteiligten verbindlich und erst dann gefährdet oder im Wandel begriffen, wenn sich einige der sie prägenden Voraussetzungen, vor allem die sozialen Bedingungen, geändert haben. Diese Entwicklung ist in Afrika durch den Kolonialismus und dessen Folgen wie die später einsetzende Urbanisierung eingeleitet worden.

(…)

Jede Musik besteht in einem kulturellen Kontext. In der Vergangenheit haben manche Autoren die hohe ‚Funtionalität‘ der Musikpraxis in Afrika als diskriminierendes Merkmal gegenüber der Kunstmusik Europas hervorgehoben. Solche Perspektiven beruhen jedoch auf einer Fehleinschätzung und gehen darauf zurück, daß vielen abendländischen oder abendländisch geschulten Beobachtern die ähnlich hohe Funktionalität der europäischen Musikpraxis und ihre Einbettung in einen komplexen sozio-kulturellen Rahmen längst unbewußt geworden war. Bezüglich Afrika kann daher die Frage nach dem kulturellen Kontext nur danach ausgerichtet sein, zu untersuchen, welche spezifischen Kontexte in den einzelnen Musikkulturen und für einzelne Musikgenres hier verbreitet sind. Es geht nicht darum, ein Mehr oder Weniger von Kontext im Vergleich zu anderen Weltkulturen festzustellen.

Quelle MGG (Musik in Geschichte und Gegenwart, neue Fassung, Sachteil Band I 1994) Afrika südlich der Sahara, Sp. 131 f und Sp. 121 f Autoren: Artur Simon, Gerhard Kubik.

Einblicke in den Kontext der Dodo-Musik, – sie gehört zum Volk der Luo. Dazu siehe die Wikipedia-Artikel zur Ethnie,zur Sprache und zur Gliederung der Luo-Sprachen.

Anmerkung zu William Tabu Osusa vom Katebul Production House 

I’ve recently moved to Nairobi and so earlier this week had the pleasure of visiting the Ketebul offices in the downtown industrial area and meeting the super-cool team. Tucked away in an unassuming street, Ketebul is situated in the Go Down Arts Centre, a graffited music enclave of made up of some seriously hip outlets.

Fortsetzung HIER („Meeting Katabul: an interview mit Tabu“) http://www.singingwells.org/meeting-ketebul-an-interview-with-tabu/

Siehe auch den am 18.08.2014 veröffentlichten Youtube Film:

Dodo Group feat Ogoya Nengo – The Singing Wells project

Recorded on the 28th November 2011 in Rang’ala village, Nyanza, Kenya, as part of the Singing Wells field trip to record the music of the Luo of Kenya.

Welche Menschen stecken hinter dem Projekt? Wie sehen sie aus? Bitte weiterklicken – HIER.

Neues von der Bestenliste!

Noch einmal zum Preis der Deutschen Schallplattenkritik

Africa Kenya Music Ogoya Nengo bitte anklicken!

Selbstverständlich: diese CD ist nicht die einzige, die auf der Liste steht. Und einiges, was ich dort sehe, wird sich früher oder später in meinem Regal einfinden. Schauen Sie selbst HIER. Aber diese hier wird vielleicht am seltensten in den Berichten hervorgehoben. Ich habe mich, nachdem ich sie dort sah, immer wieder aufs neue gehört: jetzt auf einer Autofahrt nach Bonn (-Hardtberg) und zurück, das bedeutet 2 mal 50 Minuten, CD-Dauer 40’34“, ich kannte schon alles, aber was heißt kennen? Gar nichts!!! Ich kann in Ruhe Einzelstücke doppelt und dreimal hören  (zugegeben, ich habe mich auf der Rückfahrt zwischendurch in WDR2 über den Stand BVB : FCB informiert), allerdings ohne die spärlichen Infos des Booklets nacharbeiten zu können. Aber ich kann Vorsätze fassen und Übungen einschalten. Als erstes werde ich zu Hause die Stücke nummerieren, das Booklet ist künstlerisch wertvoll, auch der Spannungsablauf der Musikfolge ist gut disponiert, aber nicht fürs ernsthafte Studium. Meine erste Übung betraf den Rhythmus Tr. 9: immer wieder von vorn starten und jeden wiederkehrenden Kleinrhythmus identifizieren und den Wechsel wahrnehmen, so, wie den Wechsel des Musters bei der Umdrehung eines Kaleidoskopes. Aber – so mahne ich mich – reduziere Afrika nicht auf die Trommeln. Der Kontinent steckt noch mehr in den Gesängen. Und greife nicht so hoch: dies ist nicht „Afrika“, sondern ein Punkt Afrikas. Das genügt für Stunden und Tage. Wo genau liegt eigentlich Kenya? Und wo Siaya County?

Wie wär’s, wenn Du zuhaus bist (ich duze mich): an dieser Stelle fortzufahren?

Nachtrag 12.05.2015

Die weiteren Ansätze: Hier und hier.

Ostersonnentag in Köln

Polke mit Dom

Blick aus der Polke-Ausstellung

Polke Blick hinaus

Blick in die Polke-Ausstellung „Bildergalerie“ HIER

Zitat aus dem „Ausstellungsbegleiter“ (Dr. Barbara Engelbach):

Um 1968 schuf Polke Gemälde, die sich mit Wahrnehmung und Aufnahme der modernen Kunst in der Nachkriegszeit auseinandersetzen. Werke der Moderne, die im Nationalsozialismus als „entartet“ geächtet wurden, stellte man in den 1950er und 60er Jahren aus, um an die Kunst vom Beginn des 20. Jahrhunderts wiederanzuknüpfen. Die grundlegenden Veränderungen der Gesellschaft durch Nationalsozialismus und Holocaust wurden zugleich ignoriert. Auf solche Verleugnungen reagierte Polke mit provokanten Bildern. So kann in dem Werk Konstruktivistisch im Ausschnitt ein Hakenkreuz entdeckt werden. Das Gemälde Negerplastik zeigt auf einem mit kitschigen Rehkitzen, rauchenden Häschen und kleinen Bären gemusterten Stoff eine aufgemalte afrikanische Skulptur. Sie steht im Kontrast zum trivialen Kinderstoff. Jedoch spielen sowohl der Stoff als auch die afrikanische Skulptur mit gängigen Klischeevorstellungen, einerseits von der Kindheit, andererseits von dem exotisch Fremden. Der Bildtitel verweist auf die Publikation Carl Einsteins von 1915, die erstmals die afrikanische Kunst und ihren Einfluss auf die moderne Kunst gewürdigt hatte. (…)

ZITAT Carl-Einstein-Gesellschaft

Die Ästhetisierung dessen, was die Völkerkunde zuvor [n]ur als difformes Objekt erkannte, hebt Einstein um 1920 wieder durch die Ethnologisierung seines Diskurses auf. Seit Mitte der 20er Jahre verschmilzt er ethnologisches und psychoanalytisches Denken und wendet sich mit solchermaßen geschärftem Blick der europäischen Kunst und Kultur selber zu („Ethnologie du Blanc“).

Ich hebe diesen Aspekt aus persönlichen Gründen hervor: in der Polke-Ausstellung sieht man auch einen Film, den der Künstler 1974 in Afghanistan und Pakistan gemacht hat. Es ist dieselbe Zeit, in der ich Afghanistan erlebte, beim Frühlingsfest im April 1974 entstanden in Kabul und Mazar-e-Sharif an die 200 Aufnahmen mit Musikern aus verschiedenen Regionen des Landes. Ich habe in ungetrübter, fast naiver Begeisterung zahllose Radiosendungen darüber gemacht, viele in Zusammenarbeit mit Abdul Wahab Madadi. Damals grassierte eine Art Afghanistan-Fieber. Ich erinnere mich an den Gitarristen Siegfried Böttner, der in den 60er Jahren noch ein Star der Neue-Musik-Szene war, Kagel-Werke in Darmstadt uraufführte, und verändert aus Afghanistan zurückkehrte. (JR)

Zur selben Zeit erschien das Kursbuch zum Thema Kleinbürgertum. Darin stellt Hans Magnus Enzensberger fest, es sei „die einzige Klasse, die Kunst und Mode, Philosophie und Architektur, Kritik und Design erzeugt.“ Der Ausruf „Wir Kleinbürger!“ lässt aber ahnen, dass jeder Angriff zweischneidig ist, hat doch – wie Enzensberger weiter schreibt – das Kleinbürgertum „jede alternative Regung unverzüglich enteignet und absorbiert.“

Quelle Textheft Ausstellungsbegleiter ALIBIS Sigmar Polke ( B. Engelbach)

NACHSPIEL

Zu den schönsten Abschlüssen eines Besuches im Kölner Museum Ludwig gehört – neben einer Mahlzeit im hauseigenen Restaurant – der Aufenthalt im Buchladen, ein Quell neuer Wünsche.

Buchhandlung Ludwig 20150405_143534

Entdeckung: das posthum veröffentlichte Buch von Werner Hofmann „Die Schönheit ist eine Linie“ 13 Variationen über ein Thema. Verlag C.H.Beck München 2014. Ich liebe es, wenn sich langwierige (sinnvolle) Verbindungen ergeben, meinetwegen in Schlangenlinien, wie hier: zu einem bestimmten Kapitel in dem Buch „Was war Kunst?“ von Wolfgang Ullrich. Das Kapitel begann, genau wie Hofmanns Buch, mit der „Line of Beauty and Grace“ des englischen Malers William Hogarth (1697-1764)  und endete bei der Doppelhelix von Watson und Crick:

Ullrich Linie

Und von hier lenkt mich ein einziger Griff hinter mich ins Bücherregal zu der kleinen Schrift über das Schlangen-Ritual von Aby Warburg. (Aber mit Sigmar Polke hat dieses Ablenkungsmanöver wenig zu tun, obwohl… obwohl… man kann nie wissen…)

Warburg

Hoffnungsloses Ostern …

… jedenfalls beim Zeitunglesen

ST Wochenende

Als Osterwochenendlektüre winkt uns die Schlagzeile Der Herr der Hasen (na sowas: in dem Erholungsort Glonn entstehen die Kunststoffformen für Schokoladenhosen), Vorsicht am Ende der Klammer: ein Versprecher, – letztlich geht eben alles in Richtung O-Vokal, aber der Osterinselartikel hat mich doch etwas aufgeregt: abgesehen vom gewissermaßen naturgegebenen Unsinn ihres Namens geht aus dem Text selbst mit keiner Zeile hervor, dass die Inselgeschichte eher vom Wahnsinn der Menschen und der Irreleitung durch religiöse Ideen kündet als vom Heilsweg, den das Christentum mit Ostern verbindet. Allein die wohl beiden gemeinsame Aussicht auf „mystische Geschichten“ soll uns weiterlocken.

ST Wochenende mystisches

Gleich daneben findet man auch noch das Angebot einer Schiffsreise „ins mystische Island“!

Und in der Stadt erhielt ich heute morgen das mystische CDU-Ei, das ich zuhaus ganz spontan mit geistigen Dingen in Kontakt brachte. Um den Zauber zu bannen…

Osterei CDU

Ich habe nochmal nachgelesen, was bei Jared Diamond abschließend zur Osterinsel steht.

„Was sagte der Bewohner der Osterinsel, der gerade dabei war, die letzte Palme zu fällen?“ Schrie er wie moderne Holzfäller: „Wir brauchen keine Bäume, sondern Arbeitsplätze!“? Oder sagte er: „Die Technik wird unsere Probleme schon lösen, keine Angst, wir werden einen Ersatz für das Holz finden?“ Oder vielleicht: „Wir haben keinen Beweis, dass es nicht an anderen Stellen auf der Osterinsel noch Palmen gibt, wir brauchen mehr Forschung, der Vorschlag, das Abholzen zu verbieten, ist voreilig und reine Angstmacherei“? Ähnliche Fragen stellen sich in jeder Gesellschaft, die ihre Umwelt absichtlich geschädigt hat. Wenn wir in Kapitel 14 auf dieses Thema zurückkommen, werden wir sehen, dass es eine ganze Reihe von Gründen gibt, warum Gesellschaften dennoch solche Fehler begehen.

Quelle Jared Diamond: KOLLAPS Warum Gesellschaften überleben oder untergehen S.Fischer Verlag Frankfurt am Main 2005 (Seite 147)

Wenn ich recht sehe, bleibt nicht viel Platz für Mystik…

Anfang und Ende der Inhaltsangabe dieses Buches:

Diamond Inhalt Anfang a Diamond Inhalt Ende b

ZITAT

Die meisten der Rätsel sind inzwischen halbwegs befriedigend gelöst. Sprachforscher haben nachgewiesen, dass die Osterinsulaner von Westen her, aus Polynesien, eingewandert sind. Der Zeitpunkt ist umstritten. Vielleicht erst im 12. Jahrhundert. Pollenanalysen haben ergeben, dass auf der Insel einst die größten Palmen der Welt wuchsen. Der Wald wurde abgeholzt, um die Statuen zu transportieren, um Kanus zu bauen und um Leichen einzuäschern.

Dem Raubbau folgte die Erosion des Bodens, der immer weniger Feldfrüchte hergab. Mit den Bäumen verschwanden die Landvögel. Auf Delfinfleisch und Fisch mussten die Insulaner verzichten, weil das Holz für seetüchtige Boote fehlte. Ein Teufelskreis. Die ökologische Katastrophe führte zu Stammeskriegen und schließlich – gegen Ende des 17. Jahrhunderts – zum rapiden Rückgang der Bevölkerung. 1994 hat Hollywoodstar Kevin Costner aus dem Stoff einen viel diskutierten Film gemacht (Rapa Nui); und just tauchte die beispielhafte Geschichte in dem Buch Kollaps des amerikanischen Geografen Jared Diamond wieder auf, das weltweit auf den Bestsellerlisten steht.

Quelle ZEIT online 29.05.2009 „Das Eiland am Ende der Welt“ von Thomas Schmid  HIER

Wissenswertes aus anderer Quelle (ZDFneo TERRA X  03.01.2010)

Heiße Spur auf Rapa Nui / Verlorenes Paradies

Die Osterinsel gibt Generationen von Wissenschaftlern Rätsel auf. Einst war die Insel ein Palmenparadies – eine Oase inmitten des Südpazifiks. Dann passierte etwas Merkwürdiges: 16 Millionen Palmen verschwanden und die riesengroßen Statuen, für die das Eiland heute bekannt ist, wurden umgestürzt.

 HIER (http://www.zdf.de/terra-x/schliemanns-erben-heisse-spur-auf-rapa-nui-5319172.html) Ab 16:18 Haben etwa eingeschleppte Ratten den Untergang des Waldes verursacht?

Der Zeitungsbericht ganz oben, der hier zum Anlass wurde, – Westdeutsche Zeitung WZ Wochenende 4. April 2015 -, endete mit den Sätzen:

Wenn die Sonne hinter den Steinfiguren langsam im Ozean versinkt, ist das ein wunderschöner Moment zum Grübeln und Sinnieren. Mancher Betrachter bastelt sich eine eigene Theorie über die Herkunft der Moai zurecht. Und mancher ist froh, dass es nicht auf alles eine Antwort gibt.

Dabei muss man es wirklich nicht belassen…

Die sogenannte Realität

Ich interessiere mich neuerdings für die Cayman Islands. (Ich war noch nie in der Karibik.)

Die Gipfel eines unterseeischen Gebirges, des bis nach Kuba reichenden Kaimanrückens, bilden die Inselgruppe. Ihren Namen verdanken die Inseln den hier lebenden Echsenarten, den Kaimanen, die man zu Beginn mit Krokodilen verwechselt hatte.

1503 von Kolumbus entdeckt, nachdem er von der geplanten Route abgewichen war. Später britisches Überseegebiet. Hauptexportmittel waren über lange Zeit Schildkröten und Muscheln. So lese ich in Wikipedia.

Aber ehrlich gesagt, was mich aufmerksam gemacht hat, ist eine Notiz in der ZEIT (19. März 2015 Seite 54):

… auf den Cayman Islands [sind] 80 000 Unternehmen registriert, aber nur 53 000 Einwohner.

Einerseits muss ich zugeben – Wirtschaftsstrukturen interessieren mich weniger als musikalische, andererseits bin ich deshalb noch lange kein Traumtänzer. Was tun? Ich mache mir Notizen und warte, ob sie weiterwirken. Noch kaufe ich das entsprechende Buch nicht. Ich lese in Wikipedia den Abschnitt, der nach dem Satz über Schildkröten und Muscheln folgt. Überschrift: Wirtschaft. Nicht nachlassen, die paar Zeilen kannst du absinken lassen, bitte HierWas braut sich da zusammen?

Die Cayman Islands liegen weit vor unserer Küste, off shore, vor jeder Küste, es ist der freie Raum da draußen. Aber man ist nicht einsam dort: eine ganze Schicht ist hier zu Hause, eine „globale Schicht, die aus hochvermögenden Einzelpersonen und Familien, Eigentümern/Managern großer Konzerne und Dienstleistungsunternehmen besteht“ (John Urry), sie verwenden „eine bestimmte ökonomische Strategie, quasi Kampftechnik, (…)  um ihre Gewinne zu erhöhen.“ Man nutzt den freien Raum.

Die Cayman Islands sind nur ein Beispiel, es gibt unzählige andere Orte außerhalb der „verwalteten Welt“, deren Verherrlichung natürlich nicht das Ziel dieser Notiz ist. Zugleich gilt es die Orte außerhalb zu entromantisieren.

Man denke an Offshore-Bohrinseln, auf denen Offshore-Energie-Unternehmen Öl aus dem Meeresboden pumpen. Man kann es onshore gut verkaufen, und diese Regel gilt eben nicht nur für Öl. Ich zitiere aus der Buchbesprechung, die referiert,

wie sich Konzerne und ihre Eigentümer, man kann auch sagen, das Kapital, darauf besonnen haben, dass sie gegenüber Staaten und Arbeitern einen Startvorteil haben: Sie sind mobil. Sie können ihr Geld über die Landesgrenzen hinweg verschieben und die Welt nach den geringsten Löhnen, niedrigsten Steuersätzen und lockersten Umweltauflagen absuchen.

Es geht also nicht nur um den Öl-Verkauf oder um billige Herstellung und profitablen Verkauf sonstiger Güter, sondern auch um die „Entsorgung“ von Müll und giftigen Chemikalien – und auch um das Angebot anderswo verbotener oder verpönter Dienstleistungen und Praktiken wie etwa Drogenkonsum oder Sex mit Teenagern.

Und nun der entscheidende Text:

Es ist nicht so, dass sich diese Offshore-Welt nicht verändern ließe, dass man sie nicht in eine Onshore-Welt zurückverwandeln könnte. Nötig wären hierfür Bündnisse unter einzelnen Regierungen, eine Art zwischenstaatliche Solidarität, theoretisch ist das möglich. In der Praxis versprechen sich Regierungen mehr vom zwischenstaatlichen Wettbewerb um die Gunst der Konzerne, in der Hoffnung auf Wachstum und Arbeitsplätze.

Und Ähnliches gilt auch für das Freihandelsabkommen TTIP, das man nach Strich und Faden bekämpfen sollte. Doch darüber später.

Quelle der Zitate und Anregungen: DIE ZEIT 19. März 2015 Seite 54 In die Tiefe des Raumes Wie schafft es das Kapital eigentlich, alles auszulagern, was seine Interessen stört? John Urry und Thilo Bode benennen in ihren Büchern die Tricks des Systems. Von Wolfgang Uchatius.

Zur Analyse eines exotischen Videoclips

Warisan Bintan 

Eine Übung

Mich interessieren zunächst alle Vorurteile, die sich beim Betrachten und Anhören dieses Videoclips einstellen, und erst im Nachhinein die unvoreingenommene Beschreibung dessen, was hier „wirklich“ stattfindet oder gemeint ist.

Vermutlich ist das erste Etikett, das sich dem westlichen Betrachter angesichts dieses Clips aufdrängt, zumindest ab 0:42 sobald der Bass eingesetzt hat, vollends wenn ab 1:03 der Solosänger dazugekommen ist: KITSCH. Übrigens sieht man nur Einzelmusiker (Laute, Geige, Akkordeon, Tamburin), kein Ensemble, das für diesen kommerziellen Sound zuständig sein könnte. Der weichliche Gesang passt zu den betont anmutigen Gesten des Sängers, der Name „Sultan Mahmoud“ lässt auf einen subalternen Schmeichelgesang tippen. Die absteigenden Sequenzen der instrumentalen Melodie, ihre dürftige Wiederholung, der quadratische Zuschnitt, die Variante der Sequenz im Sologesang, – alles ist voraussehbar, mit Ausnahme des schnellen Abstiegs (zum erstenmal bei 1:01), der an den arabischen Maqam Hijaz erinnert, – ein exotistischer Farbfleck. Die Melodie insgesamt entspricht in ihrer Machart billigen westlichen Heimatschnulzen. Ein Moment des Aufhorchens ergibt sich  bei 3:08 bis 3:12, wird aber durch das Auftauchen eines Hintergrundchorklangs und die Wiederkehr des Sängers sogleich zunichte gemacht. Und die Tänze? Die Kleidung ist zu schön, zu kostbar, zu nett und abwechslungsreich, auch die Bewegungen sind wie mal eben für den Film erfunden. Unmotiviert der Wechsel an den Strand. Aha: Wir sind auch Naturkinder! Aber es gibt eine Handlung… Eine Frau  huscht vorbei, dann eine Art Apotheose der Laute, ein Adelsschlag durch den Sultan? Und eh du’s gedacht, ist alles vorbei. Ein romantisches Traumbild.

Oder ein didaktischer Film? Für die breite Masse, die die alte Musik (vertreten durch die Laute) nur erträgt, wenn sie in Kitsch gebettet in Erscheinung tritt? Vielleicht ist die Bedeutung des Films, – das was er meint, wichtiger als das was wir (wir) hören und sehen?

Jetzt erst wird es wirklich interessant. Wir schauen der Wissenschaftlerin in die Papiere, während sie den Einheimischen über die Schulter geschaut hat, die den eigenen Videoclip anschauen.

Jähnichen Seite 1 sw (Bitte anklicken!)

Inseln und Orte: Pulau Penyengat, Tanjung Pinang, Riau Lingga, Singapore.

Ich habe versucht, mir ein Fazit der Arbeit zu notieren, es folgt dem abschließenden Text der Arbeit von Gisa Jähnichen, ohne zu beanspruchen, eine wirklich genaue Übersetzung zu liefern. Man sollte es an Ort und Stelle nachlesen, vor allem aber die Synopsis zum Verlauf des Filmes Punkt für Punkt studieren (Seiten 150 bis 159 ausdrucken, damit man sie im Querformat lesen kann).

Der Handlungsablauf des Videoclips kombiniert eine Reihe von Geschichten. Eine davon betrifft die Reise als ein Symbol. Dieses Symbol wird auf zwei Ebenen behandelt: die eine ist die Reise des Islam in die Malayische Welt, die Ankunft des Glaubens und der kulturellen Implikationen, die die Ankunft des Islam begleiten, darunter die symbolische Bedeutung des Gambus.

Die andere Ebene ist die Reise eines jeden guten Malayen zu entscheidenden Orten der religiösen und kulturellen Geschichte, von denen einer auf Penyengat Island gelegen ist, einer Insel, die über Tanjung Pinang auf dem größeren Bintan Island im Riau Archipelagu zu erreichen ist.

Eine weitere Geschichte betrifft das Verhalten des Gambus-Spielers, der als Pilger auf dem Panyengat Island eintrifft und von Liebe zu einer Schönen der Vergangenheit ergriffen wird. Am Ende kehrt er mit dem Gambus in Händen zurück, dem Symbol des kulturellen und religiösen Erbes.

Eine zentrale Geschichte betrifft den engen Zusammenhang zwischen Musik und Tanz, was für Lebendigkeit, Freude, Frieden, Harmonie und Gemeinschaft einsteht, ausgedrückt in verschiedenen Möglichkeiten des gemeinsamen Tanzens.

Und noch eine andere Geschichte ist die Begegnung mit dem Sultan und dem Prinzen, worin sich ein tief verwurzelter Respekt für die Autorität, das Königtum und – insgesamt – für die malaysische Geschichte manifestiert.

Musikalisch umfasst die Geschichte ein artifizielles Taqsim in Nahawand und Hijaz. Absteigende Skalenfragmente von Hijaz erscheinen auch am Ende jedes „Kopak Tengah“ (mittlere Section, „Übergang“). Diese Beobachtung kann bestätigt werden durch die generelle Tendenz, dass Maqam-Fragmente oft in Übergängen, Abschlüssen und Anfängen musikalischer Einheiten erscheinen. Sie dürften einen Eindruck von Seriosität, legitimer Zuordnung und kultureller Angemessenheit der Aufführung vermitteln.

(Ich übergehe hier die formal-poetische Zuordnung des gesungenen Textes. JR)

Die Kreativität des Komponisten kann in seiner Fähigkeit gesehen werden, all die teilweise widersprüchlichen symbolischen Bedeutungen zu überbrücken, die er in ein akzeptables historisches Gesamtbild zu fügen sucht.

Einige dieser Widersprüche liegen in der Wahrung prae-islamischer Bestandteile in den künstlerischen Ausdruckformen, so etwa wenn dem Tanz das gleiche Gewicht wie der musikalischen Vorführungen zugebilligt wird. Die Wahl von Farbmischungen mit Rot und Orange, die Lebendigkeit signalisieren, mögen sogar aus einer älteren Sichtweise heiliger Kräfte stammen, wie sie im Hinduismus überliefert wird. Die Wichtigkeit wechselnder rhythmischer Aktivitäten, durch die Emotionalität befördert wird, auch die Allusion sexuell ablenkender Momente, welche die erzählten Geschichten würzen, bedeutet eine andere Sphäre ekstatischer Elemente. Diese Bestandteile kontrastieren in gewisser Weise mit der Absicht, den Respekt gegenüber den Errungenschaften der Vergangenheit, den Autoritäten, dem Königtum, dem Sultanat und den hohen Lehrern des muslimischen Glaubens voranzutreiben. Interessanterweise dominiert Gelb als königliche Farbe klar über das islamische Grün, worin sich eine individuelle Neigung zeigen mag, die Zeichen des Königtums über die religiöse Tendenz zu setzen.

Jedenfalls deuten Bewegungen und Aktionen ebenso wie die Kombination von Musik und szenischen Abläufen auf das starke Verlangen nach einem sicheren geschützten Dasein in Lebensfreude und einer friedlichen Harmonie durch eine gemeinsame Weltsicht.

Das ultimative Symbol materialisiert sich im Gambus, das nicht nur ein Musikinstrument ist, sondern ein Werkzeug, in dem das Vermächtnis der Vergangenheit fortwirkt. Musikalische Geschichte, so scheint es, zeigt sich im Engagement des Gambusspielers: er wählt den Teil der Geschichte, der erhalten werden soll. Dieser Teil zeigt sich im Maqam-Prinzip, wie auch immer fragmentiert und de-komponiert innerhalb der harmonischen Progressionen des Stückes. Es ist mit dem Gambus verbunden und untrennbar von der materiellen Manifestation und ihrer Sichtbarkeit.

(Nach dem Text von Gisa Jähnichen, incl. möglicher Missverständnisse meinerseits. JR)

Ich frage mich nach der Lektüre dieser wissenschaftlichen Arbeit, ob die in meinem Einleitungstext angedeuteten westlichen Vorurteile behoben oder gemindert worden sind. Wenn die Bedeutung des Instruments und der Maqam-Anteile so wesentlich sind, so scheinen sie mir doch im Film allzu stiefmütterlich behandelt, am Schluss sogar deutlich dem Traumbereich zugewiesen.

Zweifellos fehlt mir ein wichtiges Kriterium, nämlich die Übersetzung des gesungenen Liedtextes, dessen verbale Aussagen ebenso wichtig wie die symbolischen Zuordnungen sein dürften. Vielleicht sogar entscheidende Indizien von Ideologie oder politischem Programm zutage brächten.

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Mehr über das Gesamtprogramm des Festivals in Aserbeidschan: HIER

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Es ist noch zu wenig, also irreführend, was ich über den Hintergrund des Videoclips exzerpiert habe. Ein weiterer Versuch:

Es geht um die Promotion des insularen (!) Vermächtnisses der Malay Singapurischen Bevölkerung, einer Minorität im Staate Singapur. Ihre Identität stellt Kultur an die Seite der Religion. Obwohl eine Anzahl von südasiatischen Muslimen aus Indian und Pakistan existiert, glauben die Malay Singapurer an ihr eigenständiges Erbe, das  durch eine enge Verbindung zu arabischen Modellen charakterisiert ist, eine wenig kritische Adaption materieller Symbole und eine Re-Interpretation schon vorhandener expressiver Mittel. (…)

Diese Video „Warisan Buntan“ wurde 2003 in Pulau Penyengat und Tanjung Pinang gedreht, Inseln, die zu Riau Lingga gehören, insbesondere zu der größeren Insel Bintan. Riau Lingga hat eine wichtige bedeutung für alle Singapurer Malayen: es wird als der Ort gesehen, von dem alle Kultur und Weisheit kommt, samt allen eingewanderten kulturellen Elementen. Bintan ist auch anderen Singapuren bekannt als Urlaubsziel, Wochenendzuflucht, eine aufgeschlossene obwohl muslimische Zone, wo persönliche Freiheit geschätzt wird. Riau Lingga gehört zu Indonesien, dem Land, das überraschenderweise mehr Einfluss als Malaysia hat, nach den Begriffen Malayischer Kultur. Tanjung Pinang, die Hauptstadt von Bintan Island, ist das kulturelle Zentrum und attraktiv wegen seiner sichtbaren Verbindung mit der Vergangenheit. (…)

Die winzige Insel Penyengat war während des 18 Jahrhunderts der Sitz der mächtigen Bugis Herrscher. Der Palast und die königlichen Grabstätten gehörten Sultan Haji, von dem die erste Malayische Grammatik geschrieben worden sein soll. Als Hintergrund des Videos wurde das neu errichtete kulturelle Zentrum gewählt, das ein Publikum aus der Malayischen Welt durch Musik und Tanzaufführungen anziehen soll. Wichtige Szenen wurden in der Königlichen Moschee aus dem Jahre 1844 aufgenommen, die im alten Stil grün und gelb bemalt ist. (…)

Die Insel kann von Tanjung Pinang aus in kaum 15 Minten Bootsfahrt erreicht werden. Man sieht sie von der Küste der Hauptinsel Bintan aus.

Interessanterweise wird die schlichte Geographie schon als symbolischer Hinweis verstanden: Penyengat Island gehört zu der Hauptinsel Bintan, die zum Riau Archipelago gehört, welcher zur großen Malayischen Welt gehört. Dementsprechend wird der ganze Erdball gewissermaßen verbunden und harmonisiert durch die Wahl seines kleinsten Teils als Punkt des Aufbruchs.

Quelle Englischer Text von Gisa Jähnichen „Warisan Bintan: Maqam within a visualized heritage“ in www. mugam.az (2015) HIER.

Auswahl und Übersetzung J.R.

Mir scheint, man muss eine Vorstellung von der komplexen kulturellen Situation an genau diesem seltsamen Punkt der Welt haben, ehe man den Videoclip mit dem Wort Kitsch belegt.

Ravanastron – ein alter Irrtum

Urahn der Violine? 

Dieser Name fällt immer noch, wenn von der mythologischen indischen Heimat der Streichinstrumente die Rede sein soll. Der Ursprung dieser Theorie liegt offensichtlich in Europa, bei Wikipedia findet man folgenden Passus:

 Der französische Naturwissenschaftler Pierre Sonnerat (1748–1814) ließ sich in Voyage aux Indes orientales et à la Chine, fait depuis 1774 jusqu’à 1781 neben indischer Geschichte und Mythologie auch über die als harmonielos und unvollkommen beklagte  indische Musik und die ravanastron aus. Er schrieb, dass sich Bettelmönche, die er Pandarons nannte, auf der Fiedel ravanastron begleiteten. Ravanas Musikbogen ravanahattha, wie er in den altindischen Epen vorkommt, hatte sich zu einer Bogenharfe und schließlich zu einer Stachelgeige, also zu einem von der pinaki vina verschiedenen Instrumententyp entwickelt.

Zahlreiche frühere Musikologen beriefen sich auf Sonnerat und hielten den Streichbogen für eine sehr alte indische Erfindung. Der belgische Musikhistoriker François-Joseph Fétis (1784–1871) zitierte in seiner Biografie über Antonio Stradivari (Antoine Stradivari, luthier célèbre) von 1856 Sonnerats Feststellung zum Alter der ravanahattha und erklärte, dass der Violinenbogen aus Indien stamme.1915 fasste Curt Sachs die bisherige Einschätzung der ravanastron mit dem Wort „Stammvater aller Streichinstrumente“ zusammen.

Quelle Wikipedia HIER. (Die Anmerkungen und Links habe ich weggelassen.JR)

Nicht bekannt ist demnach, dass auch der große Instrumentenkundler Curt Sachs seine Ansicht später revidiert hat.

Den letzten Stand der Wissenschaft kann man im MGG (Musik in Geschichte und Gegenwart) Sachteil Band 8 Artikel „Streichinstrumente“ 1998) nachlesen, Autorin ist Marianne Bröcker. Wenn hier vom „Quellenbestand“ die Rede ist, kann man davon ausgehen, dass nichts unberücksichtigt geblieben ist, was zum Thema gehört und überprüfbar war.

Inzwischen gelten diese Theorien als überholt, denn nach dem bisher bekannten Quellenbestand haben Streichinstrumente weder ein so hohes Alter, noch sind sie auf eines der früher diskutierten Instrumente zurückzuführen. Tatsächlich lassen sie sich nicht vor dem 10. Jahrhundert nachweisen und entstanden, wie Werner Bachmann überzeugend dargestellt hat, offensichtlich in Mittelasien (…)

Die Existenz des Streichinstrumentenspiels läßt sich in Indien erst im 12. Jahrhundert und in Ostasien im 13. Jahrhundert eindeutig nachweisen (…). In Europa begann es sich Anfang des 11. Jahrhunderts, über das arabische Spanien und Byzanz kommend, zu verbreiten und entwickelte hier sehr schnell eine große Vielzahl an regional unterschiedlichen Streichinstrumenten. (…)

Es ist davon auszugehen, daß der Ursprung der Streichinstrumente nicht in der ‚Erfindung‘ eines neuen, eigens entwickelten Instrumentes zu sehen ist, sondern daß existierende Saiteninstrumente nicht mehr gezupft, sondern mit einem Reibstab oder Bogen angestrichen wurden.

Man kann sich also nach wie vor auf die im Jahre 1966 vorgelegten Forschungen von Werner Bachmann berufen, wenn gleich er selbst am Ende des Kapitels zur philologischen Untersuchung auf Grund literarischer Belege – eine seltsame Theorie zur uigurischen Herkunft des Streichbogens zitierend – vorsichtigerweise schreibt:

Trotz dieser und ähnlicher Untersuchungen aus jüngster Zeit ist die „Indientheorie“ im Forschungsbereich der Vor- und Frühgeschichte des Streichinstrumentenspiels bisher noch nicht faktenmäßig widerlegt und wird auch neuerdings zur Diskussion gestellt.

Wie gesagt: das war der Stand 1966. Die Musikethnologin Marianne Bröcker ist mit dem von ihr referierten Stand 1998 nicht weniger vertrauenswürdig als Bachmann. Hier sein Inhaltsverzeichnis, soweit es unser Thema betrifft:

Bachmann Streichinstrumente Inhalt

Zum Begriff Ravanastron siehe die Korrektur des Artikels der Enyclopedia Britannica HIER.

Polnische Volksmusik

Notizen (Gedächtnisstützen)

Nach dem gestrigen Konzert im WDR Funkhaus Köln muss ich mir auch visuell in Erinnerung halten, was ich gehört habe und niemals vergessen will: die Kapela Maliszów.

Man kann es nicht einfach auf sich beruhen lassen: eine phantastische Musik im wahrsten Sinne des Wortes, – aber vielleicht überhaupt nicht, wenn man sie ohne jede Vorbereitung hört. Wer hier zufällig reinklickt, weiß möglicherweise kaum, was daran außergewöhnlich sein soll. Es gibt kluge Leute, die sogar Adorno gelesen haben, und sie sagen ohne lange zu überlegen, das sei archaisch, atavistisch, unentwickelt, harmonisch arm, – man darf die Vorurteile gar nicht erst benennen, sonst klingen sie nach Sachverstand statt nach schierer Unbildung. Ich wette, dass kein perfekt „westlich“ ausgebildeter Berufsmusiker, ob Klassik, ob Jazz, notieren könnte, was dieses Mädchen an großer Trommel und Becken traumhaft sicher und locker „aus den Armen schüttelt“. Man ahnt, dass es sich insgesamt um einen Dreiertakt vom Mazurkatypus handelt, man sieht den gleichmäßig klopfenden Fuß des Vaters am Cello, aber es bleibt ein Rätsel, wie sich die flinken Figuren des Geigers und die präzisen, graziösen Schläge über dieses Schema verteilen. Übrigens: seit ich solche Musik kenne, ist Chopin ein anderer Komponist für mich geworden. Ich verstehe, weshalb er sein Leben lang Mazurkas komponiert hat, eine schöner und ergreifender als die andere. Die letzte auf dem Totenbett.

Vor Jahren habe ich ein paar Essays über Chopins Mazurka geschrieben, aber ich wusste noch nicht genug, später war ich auf einem besseren Stand, und ich sollte mich allmählich überwinden, den Vortrag von 2012 (Folkwang Universität), mit dem ich mir viel Mühe gegeben habe (auch mit Notationen!), ins Internet zu setzen, – dann aber nach Warschau und aufs Land zu fahren, um es mal richtig zu lernen!

Im folgenden leider ohne bewegte Bilder, aber sehr lebensecht. Wer kann die Ballada pogórzánska (ab 9:48) ohne tiefe Bewegung hören?

Interessant ist es auch, den Zeitsprung rückwärts ins Jahr 2011 nachzuvollziehen:

Mehr über den Sendetermin des gestrigen Kölner Konzertes finden Sie im Hörfunk WDR 3 HIER. (17. März!)

Sayyed Qutb – vom Dorfkind zum Islamisten (II)

Ein biographischer Essay von Hans Mauritz (Teil II ! Teil I siehe HIER)

Für Sayyed Qutb war die Reise nach Amerika alles andere als Erfüllung eines Traums. Um den unbequemen Publizisten loszuwerden, schickt ihn das Erziehungsministerium, vielleicht auf Anordnung des Palastes, auf „Mission“, mit dem vagen Auftrag, in den Staaten über Lehrpläne und Pädagogik zu forschen. Abgrenzung und Ablehnung prägen seine Reise von Anfang an. Bei der Überfahrt setzt er durch, dass er mit moslemischen Passagieren und nubischen Matrosen das Freitagsgebet verrichten darf. Eine betrunkene, halb nackte Dame, die in seine Kabine eindringen will, weist er empört hinaus. Aus seinen Briefen und Aufzeichnungen wird ersichtlich, dass er das Land nicht mit den Augen eines Mannes sieht, der neue Horizonte entdecken will. Auf den Strassen von New York erblickt er Menschen, die „auf der Suche nach ihrer Beute“ fieberhaft dahingetrieben werden, „scharfe funkelnde Blicke, voll von Gier, Verlangen und Lüsternheit“, und begreift, dass sie dabei sind, einem „Leben in Völlerei, Genuss, Gelüsten und Konsum“ nachzujagen. Bald quält ihn das Heimweh und die Sehnsucht nach Freunden: „Wie sehr brauche ich jemanden, mit dem ich über andere Themen als Geld, Filmstars und Automodelle sprechen könnte“. Die amerikanische Kultur sieht er beherrscht von American Football, Cowboy-Filmen, Thrillern und dem seichten Small Talk, der auf Partys herrscht.Was Sayyed Qutb entdeckt, ist ein von Materialismus geprägtes Land, ohne spirituelle Dimension.

Am State College of Education in der Kleinstadt Greeley im Bundesstaat Colorado verbessert er sein Englisch, lässt sich aber sonst nicht ernsthaft auf Studium und Forschung ein. Im Gegensatz zu Taha, der sich in Frankreich allen Prüfungen stellt, um „Diplome zu erlangen, die keiner seiner Mitbürger jemals vor ihm erworben hatte“, ist Qutb zu solchen Herausforderungen nicht bereit. Das Leben in der amerikanischen Provinz beobachtet er scharf und reagiert darauf mit Unverständnis und Ablehnung. Die Amerikaner, meint er, leben nicht in solidarischer Gemeinschaft, sondern abgeschottet, jeder für sich selbst. Ihre Welt hört auf an ihrem Gartenzaun, und Gartenarbeit ist ihre liebste Freizeitbeschäftigung. Was er vermisst, ist wahre Lebensfreude. Zutiefst erniedrigt fühlt er sich, als ihm der Zutritt in ein Kino verwehrt wird, weil man ihn wegen seines dunklen Teints für einen Afro-Amerikaner hält. Heftig attackiert er den Rassismus der Weissen: „Sie sprechen über Farbige, auch über Ägypter und Araber allgemein, als wären sie nur halbe Menschen (…). Ich habe erlebt, wie sie die Farbigen mit verabscheuenswürdiger Arroganz und widerlicher Barbarei behandeln.“ Trotz der zahlreichen Kirchen, meint er, sei niemand so weit entfernt von Spiritualität und Heiligkeit der Religion. Eine Tanzveranstaltung, die in Anwesenheit des Geistlichen in den Räumen einer Kirchgemeinde stattfindet, widert ihn an: „Arme legten sich um Taillen, Lippen trafen auf Lippen, Brüste auf Brüste, und die Atmosphäre war angefüllt mit Leidenschaft“. Den unerfahrenen keuschenTräumer, der einem weiblichen Idealbild huldigt, empört der ungezwungene Umgang zwischen den Geschlechtern und die Freizügigkeit in Sachen Erotik und Sexualität. Sayyed Qutb, der sich schon in Kairo entwurzelt fühlte, den die vom Westen inspirierte Lebensweise abstiess, der in der liberalen Wirtschaftordnung nichts als Egoismus, Kolonialismus und Ausbeutung sah, wird der Aufenthalt in Amerika in seiner radikalen Opposition bestärken und weiter treiben auf einem Weg, der Heil und Rettung allein im Islam sucht.

Abdel Nasser

Nach seiner Rückkehr aus Amerika verstärkt Sayyed Qutb seine Annäherung an die Moslembruderschaft und ihre Positionen. Die amerikanischen Erfahrungen fliessen in seine Schriften ein. In seinem Buch „Der Kampf zwischen Islam und Kapitalismus“ (1951) konstatiert er, dass in Ägypten der Landbesitz noch immer genau so ungerecht verteilt ist wie zur Zeit der Feudalherrschaft. Der Staat schützt nicht die Interessen der Mehrheit, sondern jene der Elite und der ausländischen Investoren. Materielle Abhängigkeit vom Westen hat ideologische Abhängigkeit hervorgebracht, und daraus ist eine Generation von „braunen Engländern“ entstanden, die ihre ägyptisch-arabische und islamische Identität verlieren. Qutbs Angriff gegen den Kapitalismus bedeutet jedoch keineswegs, dass er mit dem Kommunismus sympathisert, denn dessen Atheismus würde die Ägypter ihrer angeborenen Spiritualität berauben.

Im Herbst und Winter 1951/52 erheben sich die Ägypter gegen die britischen Besatzer. In Ismailiyya demonstrieren und sterben Polizisten, Arbeiter, Azharis und Studenten. Gegen den Willen ihrer Führer kämpfen auch Moslembrüder in vorderster Linie. In Kairo Down Town brechen Feuersbrünste aus: vor allem Etablissements, die Ausländern gehören, gehen in Flammen auf, über 700 Betriebe und Geschäfte werden zerstört. Bevorzugte Ziele sind Kinos, Bars, Tanzlokale und Treffpunkte der Schickeria wie das Café Groppi am Midân Talat Harb.

Wenige Tage vor dem Staatsstreich der Freien Offiziere am 23. Juli 1952 kommt es zu einem geheimen Treffen zwischen Abdel Nasser und seinen Verschwörern mit ausgewählten Moslembrüdern im Haus von Sayyed Qutb. Die Freien Offiziziere brauchen die Zusammenarbeit der Moslembrüder, damit diese ihren Einfluss auf die Massen geltend machen. Qutb seinerseits sieht gemeinsame Anliegen wie soziale Gerechtigkeit, nationale Unabhängigkeit und Annäherung an die arabisch-islamische Welt und an die blockfreien Staaten. Er hofft, die Revolutionäre könnten zum Vehikel werden für die Renaissance des Islam. Im August wird er eingeladen, im Offiziersclub von Zamalek einen Vortrag zu halten über „Intellektuelle und spirituelle Befreiung im Islam“. Unter den Zuhörern ist Abdel Nasser selbst, der ihm gratuliert und seinen Schutz verspricht. Qutb wird zu einer Art kulturellen Beraters des Revolutionsrates und träumt davon, eine Führungsrolle als Architekt des neuen Ägyptens zu einzunehmen. Je mehr aber der Revolutionsrat die Kontrolle über den Staat übernimmt, desto mehr trüben sich die Beziehungen zu den Moslembrüdern. Die Offiziere wollen ihre Macht nicht an einen Konkurrenten verlieren, der eine weit grössere Anhängerschaft im Volk besitzt als sie.

Als Nasser im Dezember 1952 die politischen Parteien verbieten lässt, bleibt die Moslembrüderschaft zunächst verschont. Als Reaktion auf die Verschlechterung der Lage tritt Sayyed Qutb im Februar 1953 auch offiziell den Moslembrüdern bei. Er fühlt sich wie neu geboren und avanciert rasch zum Mitglied der Führung und zum Chef der Propaganda-Abteilung. Im Januar 1954 befiehlt Abdel Nasser die Auflösung der Organisation. Mit 450 anderen wird Qutb vorübergehend festgenommen. Als im Oktober 1954 ein Moslembruder auf Nasser schiesst, der vor einer Viertelmillion von Anhängern in Alexandria spricht, ist dies willkommener Vorwand, um mit den Brüdern aufzuräumen. Sie werden vor ein Volkstribunal gestellt und angeklagt, einen blutigen Aufstand geplant zu haben. Qutb wird gefoltert, „anti-gouvernementaler Aktivität“ beschuldigt und zu fünfzehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Von seiner Zelle aus muss er die positiven Errungenschaften des Regimes zur Kenntnis nehmen: Bodenreform und Landverteilung an die kleinen Bauern, Verstaatlichung von Grossgrundbesitz und ausländischem Eigentum, kostenlosen Schulbesuch, Industrialisierung , Nationalisierung des Suez-Kanals und Bau des Aswân-Staudammes, Gesundheitsfürsorge, Bau von Wohnungen für die Armen und Trinkwasser für alle: Anliegen ganz im Geiste Qutbs, aber realisiert von einem Gewaltregime, das nach seiner Überzeugung gegen die Werte des Islam verstösst.

Die „Flitterwochen“ zwischen Säkularen, Modernisten und Sozialisten auf der einen und Traditionalisten und „Islamisten“ auf der anderen Seite haben nur wenige Monate Bestand gehabt. Wie wäre wohl Ägyptens Geschichte verlaufen, wenn statt der Gewaltspirale auf beiden Seiten Kompromiss, Zusammenarbeit und Austausch von Ideen stattgefunden hätte? Stattdessen haben sich die beiden Lager brutal bekämpft. Seit der Revolution von 2011 hat sich der Konflikt verschärft. Die Moslembrüder hatten unter Morsi ihre „Chance“, haben sie verspielt und sind vom politischen Parkett verschwunden. Ihre Aktivisten warten im Gefängnis auf ihren Prozess, andere Islamisten sind abgetaucht und haben sich im schlimmsten Fall jenen angeschlossen, die anderswo einen „islamischen Staat“ errichten wollen. (16)

Sayyed Qutb hat neun Jahre im Tura-Gefängnis verbracht und miterlebt, wie Gefangene geprügelt, gefoltert und von Hunden zerfleischt wurden. Hier, berichten Zeugen, verliert er die letzten Illusionen, was den moslemischen Charakter des Nasser-Regimes angeht. Seine im Kerker entstandenen Schriften „Im Schatten des Islam“ und „Zeichen auf dem Weg“ rechnen ab mit einem Regime, von der er aus eigener Anschauung nur die Konzentrationslager kennt (17). Wer Sayyeds Lebensgeschichte verfolgt, kann nachvollziehen, wie sich ein „aufgeklärter“ Publizist zu einem Denker wandelt, der sein Heil einzig im Islam sucht. Was wir jedoch nicht akzeptieren dürfen, ist das totalitäre Programm, das er nun verkündet und das weiterwirkt bis in den radikalen Islamismus unserer Tage.

„Zeichen auf dem Weg“ zur Gottesherrschaft

Sayyed Qutb analysiert nicht nur das Nasser-Regime, sondern alle Staatsformen, welche die Welt beherrschen, seien sie kapitalistischer, sozialistischer oder faschistischer Natur. Alle sind von Grund auf böse, weil in ihnen die Souveränität الحكيميّة , „al-hakîmiyya“, nicht in Gottes Hand liegt, sondern in der Hand eines Diktators, einer herrschenden Klasse oder Partei (18). Herrschaft des Menschen über Menschen aber führt unweigerlich zu Unterdrückung. Nur die Herrschaft Gottes und seines Gesetzes, der Sharî‘a, in einem durch und durch islamisch geprägten Staat befreit von Tyrannei, Armut, Angst und Laster (19). Staatsformen, in welchen Menschen wie Götzen angebetet werden, gehören für Qutb zu الجاهليّة , „al-jâhiliyya“, der Zeit heidnischer Ignoranz und Barbarei, die vor dem Siegeszug des Islam geherrscht hat und in den Diktaturen des 20.Jahrhunderts auferstanden ist. In solchen Gesellschaften unterdrückt der Starke den Schwachen, häufen Individuen unglaubliche Reichtümer an, verdrängen Materialismus und Egoismus die Sorge um das Wohl der Allgemeinheit und breiten Dekadenz und Unmoral sich aus (20). Als جاهيلي (heidnisch, ignorant, barbarisch) brandmarkt Sayyed Qutb aussereheliche Beziehungen und Homosexualität, und er verurteilt Frauen, die sich ihr attraktives Aussehen und ihren Sexappeal zunutze machen, um im Beruf Erfolg zu haben, statt sich der Erziehung ihrer Kinder zu widmen. Die Jâhilîyya prägt nicht allein die „heidnischen“ Gesellschaftssysteme, sondern hat auch alle moslemischen Gesellschaften der Moderne infiziert, so sehr, dass nicht nur moslemische Regimes, sondern ganze Völker ausserhalb des wahren Islam leben. Auch wer an Allah und seinen Propheten glaubt, betet, fastet und nach Mekka pilgert, verharrt in Barbarei und Ignoranz, solange sein Leben „nicht gegründet ist auf Unterwerfung unter Gott allein.“

Moderne Regimes sind nur schwer zu stürzen, denn sie stützen sich auf Militär und Polizei. Qutb glaubt nicht, dass die Moslembrüder dies ändern, indem sie am politischen Leben teilnehmen, es unterwandern und Schritt für Schritt zur Macht gelangen. Er hofft auch nicht auf einen Aufstand der Massen, denn diese hat man durch Zuckerbrot und Peitsche, durch Gewalt und Propaganda zu gefügigen Untertanen gemacht. Er sieht das Heil allein in einer Avant-Garde, الطليعة „al-Talî’a“ , einer auserwählten Schar von Moslems, welche die Menschen zum wahren Islam zurückführen und zu professionellen Revolutionären werden, welche das Regime zu Fall bringen. „Predigen allein genügt nicht mehr, um die Herrschaft Gottes auf Erden zu etablieren“.

Allahs Herrschaft kann nur errichtet werden, wenn sie sich nicht auf die moslemische Welt beschränkt. Damit sie universal wird, muss zum جهاد „al-jihâd“ aufgerufen werden. Der Verbstamm ج ه د meint „sich bemühen, sich anstrengen, streben, kämpfen“ und „den heiligen Krieg gegen Ungläubige führen“. Der Begriff ist im Koran nicht frei von Ambiguität. Während manche Theologen den Akzent auf „einen geistigen Kampf“ legen, der darauf zielt, Begierden und böse Neigungen zu zügeln, und andere den heiligen Krieg nur dann erlauben, wenn Moslems von Ungläubigen angegriffen werden, rechtfertigen wiederum andere den Jihad als „Krieg gegen alle, die nicht an Allah glauben.“ Sayyed Qutb verkündet, „dass der Islam (die Hingabe an Allah) eine universale Botschaft ist, welche die ganze Welt akzeptieren oder mit der sie Frieden schliessen sollte. (…) Der Islam ist die wahre Zivilisation.“ Seine Botschaft ist totalitär: „Es gibt nichts jenseits des Glaubens außer Unglauben, nichts jenseits des Islam außer Jâhîliyya, nichts jenseits der Wahrheit außer Unwahrheit.“

Zwar ermahnt er ungestüme Kämpfer zur Geduld: die Avant-Garde braucht eine lange Zeit spiritueller Vorbereitung. Ihre Kämpfer sollen sich zurückziehen, sich abschotten von der Welt, um sich von Irrtümern und Lastern nicht kontaminieren zu lassen. Erst nach dieser Zeit des „Rückzugs“ und der erfolgreichen Mission unter moslemischen Massen wird man zum Angriff übergehen. Allahs Religion „hat das Recht, alle Hindernisse zu zerstören, die in Form von Institutionen und Traditionen die Wahlfreiheit des Menschen einschränken (…). Sie greift keine Individuen an, noch zwingt sie sie, ihren Glauben anzunehmen (…). Der Islam verbietet Moslems, ihre Feinde zu foltern und zu erniedrigen.“ Wie diese Avant-Garde aber Institutionen zerstören und Staaten zerschlagen will, ohne auch Unschuldige zu treffen, sagt er nicht.

Durch Intervention des irakischen Präsidenten wird Sayyed Qutb 1964 auf freien Fuss gesetzt, aber weniger als ein Jahr später zusammen mit Tausenden seiner Gefährten wieder festgenommen, weil Nassers Geheimdienste angeblich einen Umsturzversuch der Moslembrüder aufgedeckt haben. Sein Todesurteil führt zu Protesten in der moslemischen Welt. Am 29. August 1966 wird Sayyed Qutb gehängt. Das Problem der islamistischen Gewalt ist damit freilich nicht gelöst. Qutb wird zum شهيد „shahîd“, zum Märtyrer, der für seinen Glauben gestorben ist  (21). Seine „Wegzeichen“ werden zur programmatischen Schrift. Im Oktober 1981, elf Jahre nach Nassers Tod, wird sein Nachfolger al-Sadât von Jihadisten umgebracht. Eine Generation später wird Osama Ben Laden eine Strategie entwickeln, die den Terror exportiert und sich dabei die Errungenschaften moderner Massenkommunikation zunutze macht. Die letzten Monate haben in Syrien und im Irak gezeigt, wozu die Gewalt von Islamisten fähig ist. Wir können nicht entscheiden, ob Sayyed Qutb all dies gebilligt hätte. Was er geschrieben hat, wirkt jedoch programmatisch fort und bietet manchen Interpretationen Raum: „Wir müssen den Ungläubigen den Islam nicht rational erklären (…), wir werden mit ihnen äusserst offen sein: die Ignoranz, in der du lebst, macht dich unrein, und Allah möchte dich reinigen (…), das Leben, welches du lebst, ist niedrig, und Allah möchte dich erhöhen“. Was Sayyed Qutb verschweigt, sind die Konsequenzen: wer sich nicht „reinigen“ und „erhöhen“ lassen will, dem wehe Gott! Wer das folgende Bekenntnis eines IS-Kämpfers von heute liest, kann nicht umhin, an Qutb zu denken: „Der Islam ist die einzig wahre Religion. Weltweit haben wir leider keinen einzigen echten islamischen Staat (…). Wenn man für eine gute Sache tötet, ist das legitim (…). Wenn Allah sagt, es ist erlaubt, solche Menschen zu töten, dann würde ich das auch machen. Ich folge seinen Gesetzen blind (…). Ich würde sogar meine Familie töten, wenn sie sich gegen den islamischen Staat stellt (…) In zwanzig, dreissig Jahren haben wir das geschafft. Wir kämpfen so lange, bis der ganze Planet islamisch ist.“ (22)

Anmerkungen

  1. Taha Hussein, „Kindheitstage“, „Jugendjahre in Kairo“ und „Weltbürger zwischen Kairo und Paris“, Edition Orient, 1985 ff. Das arabische Original الآيام “al-ayâm“, „Die Tage“, ist in drei Bänden 1926, 1940 und 1955 erschienen. Vgl. Hans Mauritz, „Taha Hussein – vom blinden Jungen aus Oberägypten zum Dichterfürsten“, http://www.leben-in-luxor.de/luxor_essays_mauritz_taha.html

  2. Sayyed Qutb, „Kindheit auf dem Lande. Ein ägyptischer Moslembruder erinnert sich“, aus dem Arabischen von Horst Hein, Edition Orient 1997. Das Original ist unter dem Titel طفل من القرية „Tifl min al-qarya“ 1946 erschienen.

  3. Was Taha Hussein a fellol?” siehe HIER

  4. Dabei spielten gerade im geistigen Leben von Musha die Sufi-Orden eine wichtige Rolle. Vgl. Nicholas Hopkins „Sufi Organization in Rural Asyut: The Riffa’iyya in Musha”, in “Upper Egypt. Identity and Change”, The American University in Cairo Press, 2004.

  5. عفريت „’ifrît“ pl. عفاريت“’afârît“ sind Dämonen und Teufel, die im Volksglauben noch heute lebendig sind.

  6. القرينة ist „ein weiblicher Dämon der Frauen, bes. Kindbettdämonin“ (Hans Wehr, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart.)

  7. Vgl. den Roman von Mansura Eseddin, „Hinter dem Paradies“, Zürich 2011. In einem Interview gesteht die Schriftstellerin, wie sehr sie vom Mysteriösen und Unheimlichen fasziniert ist: „Der Wahnsinn fasziniert mich, die Frage, wie das wilde Tier aus dem Menschen herausbricht (…). Sie würden sich wundern, wie elementar meine Ängste sind“. (H.Mauritz, „Gestohlenes Leben. Die ägyptische Schriftstellerin Mansura Eseddin“, KEMET 4/2013, pp.73-76). Das Motiv des Zwillings, der sich nachts in eine Katze verwandelt, behandelt Hassan Abd al-Mawgud in seinem Roman „Das Auge des Katers“, Lisan-Verlag, Basel 2006.

  8. Auch heute noch haben ägyptische Eltern die Wahl, ihre Kinder in Staatsschulen oder in von al-Azhar geführten Instituten einzuschulen. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder in Privatschulen, vor allem ausländische Schulen.

  9. „Efendi“ oder „afendi“, plural „afendiyât“ war der Titel für einen europäisch gekleideten Ägypter, für einen Mann aus dem Mittelstand und für Lehrer an staatlichen Schulen.

  10. Wer wie der Schreibende seit langem in Oberägypten gelebt hat, ist mit ähnlichen Schildbügerstreichen vertraut.

  11. العدالة الاجتماعيّة في الاسلا „al-’adâla al-igtimâ’iyya fi al-Islâm“, 1949

  12. „Er begann sich Gedanken zu machen über diesen tiefen Graben, der die Reichen von den Armen trennt.“ („Jugendjahre in Kairo“, p.146.) Vor allem die Cholera-Epidemie von 1947 macht ihm bewusst, wie sehr sein Land „unfähig ist, das zu bekommen, was die freien Völker erlangen: das Gefühl eines Minimums an menschlicher Würde.“ („Au-delà du Nil“, Paris 1977, pp.246 f

  13. Die folgenden Kapitel unserer Arbeit stützen sich auf John Calvert, „Sayyid Qutb and the Origins of Radical Islam“, The American University in Cairo Press, 2011. Zitate, für die keine andere Quelle genannt werden, stammen aus diesem Buch.

14. Nagib Mahfûs, „Mirrors“, AUC, pp.119-122. Die deutsche Übersetzung „Spiegelbilder“, Unionsverlag Zürich, ist vergriffen.

15. „Weltbürger zwischen Kairo und Paris“, p.32

16. Über junge Ägypter, die in Syrien auf der Seite des „Daëch“ kämpfen vgl. Manar Attiya, „ces jeunes qui font la guerre sainte“, al-Ahrâm Hebdo, 24.-30.9.2014, p.24

17. „Tatsächlich ist Qutb überzeugt, dass die Wärter und Folterer in den Konzentrationslagern Gott vergessen haben. Sie beten ihn nicht mehr an, sondern setzen an seiner Stelle Nasser und den Staat zum Götzen ein.“ Gilles Kepel, „Le prophète et le pharaon“, Gallimard, folio histoire, 2012, pp.21ff

18. «al-  hakîmiyya» ist ein Neologismus, gebildet vom Verbstamm ح ك م , der „herrschen, regieren, richten, urteilen, entscheiden, befehlen“ bedeutet.

19. Alle Zitate nach John Calvert, s.o., Anm. 12, pp.212-225

20. „Diese Jahiliyya basiert auf der Rebellion gegen Allahs Herrschaft auf der Erde; sie überträgt den Menschen eine der grössten Eigenschaften Allahs, nämlich die Souveränität, und macht Menschen zu Herren über andere.“ (Shahîd Sayyid Qutb, „Zeichen auf dem Weg“, aus dem Englischen von Muhammed Shukri, TEXT HIER.) 

21. Die „Shiitische Republik Iran“ hat den „Märtyrer Sayyed Qutb“ 1984 mit der Herausgabe einer Briefmarke geehrt.

22. „Erhan A. würde für den islamischen Staat töten“ (Interview mit einem jungen Islamisten, der auf dem Absprung nach Syrien ist), Tages-Anzeiger, „Das Magazin“, nr.40, 2014.

John calvert - Qutb Qutb Wiki Commons

Sayyed Qutb – vom Dorfkind zum Islamisten (I)

Ein biographischer Essay von Hans Mauritz

Kindheit auf dem Lande

                            Qutb das Dorf Musha Das Dorf Musha

Zwanzig Jahre nach Taha Husseins berühmtem Buch „Kindheitstage“ (1) sind unter dem Titel „Ein Kind vom Dorf“ die Erinnerungen eines Autors erschienen, der ebenfalls aus Oberägypten stammte und sein Werk übrigens „Seiner Exzellenz Dr. Taha Hussein“ gewidmet hat (2). Sayyed Qutb سيّد قطب wurde 1906, siebzehn Jahre nach Taha Hussein, im Dorf Musha موشا , fünfzehn km südlich von Assiût, geboren. Auch er wird aus der Enge des Dorfes herausfinden, in Kairo studieren, sich einen Platz im öffentlichen Leben erobern und im Ausland seinen Horizont erweitern. Die Wege der beiden haben sich gekreuzt, bevor das Schicksal sie in ganz entgegengesetzte Richtungen trieb: Taha wurde zum weltbekannten Schriftsteller und Gelehrten, der sich dafür engagierte, dass Ägypten den Weg einer vom Westen inspirierten Entwicklung einschlug, ohne seine Identität zu verleugnen. Sayyed aber wurde vom Kämpfer für nationale Unabhängigkeit zum Vordenker eines radikalen Islamismus, verbrachte Jahre in den Konzentrationslagern Abdel Nassers und bezahlte schliesslich mit dem Tod am Galgen. Die beiden Schriftsteller werden auch heute noch polemisch als Antagonisten einander gegenübergestellt. So erscheint am 24. Oktober 2012 im Internet ein Pamphlet, das Taha Hussein als privilegierten „Pascha“, als Opportunisten und Wendehals verunglimpft. Diesem „bösen“ Intellektuellen wird als Prototyp des Guten Sayyed Qutb gegenübergestellt. Im selben Jahr 1966, als Taha mit dem „Orden des Nils“, der höchsten staatlichen Auszeichnung, geehrt worden sei, habe das Regime den Moslembruder Sayyed Qutb am Galgen gehängt (3).

Beide Bücher sind Zeugnisse des Lebens in einem oberägyptischen Dorf in den Jahren zwischen 1890 und 1920. Aber während in Tahas Autobiografie die Figur des blinden Knaben im Mittelpunkt steht, der aus der geistigen Enge und Ignoranz zum Bewusstsein seiner selbst erwacht, verfolgt Sayyed einen eher anthropologischen und ethnografischen Zweck: er will den „verwöhnten Städtern“ und der neuen Generation die Augen öffnen für die Realität des ländlichen Lebens und ihnen zeigen, was daran erhaltenswert und was zu ändern wäre. Seine Erzählung ist weniger chronologisch als thematisch angelegt in Kapiteln, die dem Volksglauben, der Schule, der medizinischen Versorgung und den hygienischen Verhältnissen, den Machtstrukturen des Dorfes und den Interventionen der staatlichen Obrigkeit gewidmet sind. Mehr als der blinde Taha vermag es der junge Sayyed, die Realität des Dorfes detailgetreu einzufangen. Daraus ist ein Bericht entstanden, der zu einem Dokument des oberägyptischen Lebens in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts geworden ist. Sayyed Qutbs Lebensweg nach seiner Abreise aus dem Dorf dient uns als Zeugnis für den Zusammenprall von Tradition und Moderne, von säkularen und religiösen Kräften und für die Gewaltspirale, welche die ägyptische Politik über Jahrzehnte prägt.

Beide Autoren behandeln ähnliche Themen, wobei der Jüngere bewusst den Wettstreit mit seinem berühmten Vorbild sucht. Aber während Taha sich auf die Scheichs, die „Schriftkundigen“ und Sufis konzentriert, die das religiöse Leben im Dorf bestimmen und irrige Glaubensinhalte vermitteln, schildert Sayyed uns konkrete Fakten über den Aberglauben, der zu phantastischen und skurillen Phänomenen führt (4). Gleich am Anfang seiner Kindheitserinnerungen tritt der „Oberscheich“ auf, ein Besessener, vermutlich ein Epileptiker, der mit zerzausten Haaren und irrem Lachen splitternackt durchs Dorf läuft. Fliehen vor ihm ist sinnlos, denn seine Riesenschritte sind so gewaltig, dass er sich zum Freitagsgebet nach Mekka begeben kann. Er schlägt mit einem Stock um sich, der, so glaubt man, von einem Baum im Paradies gepflückt ist. Ein kranker Körperteil, den er beim Schlagen trifft, wird geheilt. Dieser „Scheich“ ist kein isoliertes Individuum: eine Gemeinschaft von „Heiligen“ hat ihn auserwählt und ihm einen Trank verabreicht, der ihm erlaubt, durch das Stadium der Besessenheit hindurch die Stufen der Heiligkeit hinaufzusteigen. „Er ist kein Mensch mehr wie wir (…) Er ist jetzt mit der Heiligkeit beschenkt und gehört nicht mehr zur irdischen Welt, in der wir leben.“ Freilich kommt es vor, dass dieser Trank so stark ist, dass er jahrelange Besessenheit auslöst: „Durch die Kraft des Trankes überkam den Scheich nach Zeiten ruhiger Heiligkeit immer wieder ein Zustand heftiger, starker Besessenheit. (…) Als dreimal glücklich galt der, dem es gelang, den Rand seines Gewandes zu berühren; derjenige jedoch, der es vermochte, seine Hand zu fassen oder zu küssen, hatte im Diesseits und Jenseits den Sieg errungen.“ Dieser Aberglaube führt zu Verhaltensweisen, wie sie schon Taha Hussein beschrieben hat. In dieser Hinsicht, so scheint es, sind zwei Jahrzehnte durchs Land gezogen, ohne Spuren zu hinterlassen: „Wenn der Scheich ein Bad nahm – was er jedoch nur selten tat – , so war das Wasser, das er benutzte und das das Beste seines Körpers in sich trug, heiliges Wasser. Seine Familie bewahrte es auf, um es portionsweise an die wartenden Auserwählten zu verteilen. Einige von ihnen tranken es, einige wuschen sich damit die Augen, und andere hoben es in Flaschen für Notfälle auf.“

Es ist verständlich, dass in einer solchen Umwelt die Medizin einen schweren Stand hat. Der „Herr Doktor“ ist nur ein Krankenpfleger, den das Kreiskrankenhaus entlassen hat, aber er trägt einen sauberen Arztkittel und praktiziert bedachtsam und verständig. Dennoch glauben nur wenige im Dorf an diesen Vertreter der neuen Medizin: „Der Leser möge verstehen, dass dieser Herr nur der Freund der aufgeklärten Dorfbewohner war (…) im Unterschied zu den anderen, die zu Dorfmethoden und Dorfbadern Zuflucht suchten.“ Die sanitäre Situation des Dorfes liegt im Argen, weil das Bassin in der Moschee nicht nur der rituellen Waschung dient, sondern all denen, die zuhause keinen Brunnen haben. Und da die Häuser selten über Toiletten verfügen, bedient man sich der Dorfmoschee: „ein immer stärker werdender Gestank ging von den Toiletten aus, und die Fliegen sassen abwechselnd auf den offen daliegenden Fäkalien und auf den Gesichtern der Sitzenden.“ Der ungenierte Ton mag stören, aber er zeigt, dass Sayyed Qutb entschieden gegen Rückständigkeit und für den Fortschritt kämpft.

Ein besonderes Kapitel ist den Ifrîten (5) und den Doppelgängern gewidmet. Die Überzeugung, dass in einer alten Mühle böse Geister herumspuken, ist so verankert, dass der Sprung einer Katze aus dem Mühlenfenster einen Knaben derart erschreckt, dass er in Ohnmacht fällt und selbst eine Geisterbeschwörung seinen Tod nicht mehr verhindern kann. Die Ifrîte halten sich in verlassenen Häusern, dunklen Winkeln und in Toiletten auf. „Alle Dorfbewohner glaubten an Heilige und deren Wundertaten, durch die Ifrîte gefesselt oder verbrannt werden konnten, und seit alters her vermischten sich Heiligenlegenden mit schrecklichem Ifrît-Aberglauben“ Bei diesem Aberglauben geht es nicht um vage Gespensterangst, sondern um die Überzeugung, dass der Kosmos von Wesen bewohnt wird, die zu dem Einzelnen in einer ganz konkreten Beziehung stehen. Wenn ein Kind zu Boden fällt, eilt seine Mutter erschrocken herbei, denn der Kleine könnte auf seinen unsichtbaren Doppelgänger aus der anderen Welt gefallen sein: „Denn alle glaubten, dass zu jeder Frau eine Qarîna (6) aus der Welt der Djinnen gehörte. Und jedesmal, wenn die Menschenfrau einen Jungen geboren hatte, brachte die Djinnin ein Mädchen zur Welt und umgekehrt“. Die Beziehung zwischen uns Menschen und „unseren Brüdern“ ist äusserst eng und gefährlich: „Manchmal war das männliche Menschenkind schön; dann war die Qarîna eifersüchtig, weil sie nur ein Mädchen hatte; ihre Eifersucht auf die Schönheit des menschlichen Jungen wuchs, bis sie den Jungen in der siebenten Nacht erwürgte.“ Und tatsächlich, so glaubt man, war sie verantwortlich für den Tod von Sayyeds Bruder. In Wirklichkeit war die Nachlässigkeit in sanitären Dingen schuld: das Kind ist an Tetanus gestorben, weil die Hebamme das Messer nicht desinfiziert hat, mit dem sie seine Nabelschnur abtrennte. Die bösen Geister bringen Kinder um, aber sie entführen sie auch und lassen an ihrer Stelle ein Djinnenkind zurück. Ähnlich verbreitet wie der Glaube an Ifrîte ist der Glaube an das nächtliche Umherschweifen der Seelen. „Die Seelen von Kindern – besonders von Zwillingen – streiften umher, wenn sie schliefen, das heisst sie verliessen den Körper und zeigten sich fast immer in der Gestalt einer Katze (…) Wurde die Katze geschlagen, erkrankte das Kind und spürte Schmerzen an dem Körperteil, wo man die Katze geschlagen hatte; starb das Tier, so starb auch das Kind.“

Dem jungen Sayyed gelingt es nach und nach, sich vom Glauben an Spuk und böse Geister zu befreien, denn in der Schule unterrichten aufgeklärte Lehrer, und nach der Schulzeit kommt er in Kairo in eine andere Welt. „Er verbrachte sein Leben in der Stadt, seine Bildung wurde umfassender, und die Ifrît-Geschichten wurden ihm Anlass zu Scherzen und Spässen. Aber wenn du heute seine Träume und Traumgesichte befragtest, so verkündeten sie dir, dass die Ifrît-Legenden tiefer in seinem Innern leben als die Kultur“. Was Sayyed Qutb 1946 gesteht, gilt auch für Schriftsteller aus der jüngeren Generation (7).

Im Vergleich zu Taha Hussein, der auf die Koranschule und ihren ignoranten Scheich angewiesen war, ist der siebzehn Jahre jüngere Sayyed privilegiert: die staatliche Grundschule hat im Dorf Einzug gehalten, so dass den „Aufgeklärten“ und besser Gestellten für ihre Söhne – etwas später auch für ihre Töchter – zwei Schultypen geboten werden. Überraschend ist, dass für den Knaben zunächst weniger die unterschiedlichen Lehrpläne und Unterrichtsmethoden bei seiner Wahl entscheidend sind als vielmehr Sauberkeit und schickliches Benehmen: „In der Koranschule gab es keine Schulbänke, Pulte und Zimmer, keine Glocke und Klassen, keine Bücher, Schreibutensilien und Hefte. Die Schüler schreiben auf eine Tafel aus Wellblech, und wenn sie etwas auswischen, spucken sie darauf und wischen es mit dem Zipfel ihrer Kleider ab. (…) Dann stiess ihn ab, dass unser Herr Lehrer, wenn er die Tafeln der Schüler mit roter Tinte korrigierte, die fehlerhaften Wörter einfach ableckte.“ In der staatlichen Schule fühlt er sich wohl, zumal er als Sohn eines angesehenen Mannes Privilegien geniesst: da sein Vater Schulleiter und Lehrer regelmässig zum Mittagessen einlädt, „kümmerten sie sich im Unterricht ganz besonders um ihn (…). Er machte täglich Fortschritte, denn ihm wurde das Wissen fast wie im Privatunterricht vermittelt; nur wenige Schüler, lediglich die Söhne reicher Dorfeltern, wurden so liebevoll behandelt wie er.“ Diese Idylle wird getrübt, weil im Dorf Gerüchte zirkulieren, die Regierung wolle, dass man in ihren Schulen den Koran nicht mehr auswendig lernt. Viele Schüler fliehen daraufhin „von der Schule des Unglaubens und des Irrtums, in der die Regierung sie ihres Glaubens berauben wollte, ohne dass sie es merkten“. Der kleine Sayyed jedoch erreicht, in die staatliche Schule zurückkehren zu dürfen, die für ihn ein heiliger Ort geworden ist. Um die Argumente der Gegner zu widerlegen, gibt er sich beim Memorieren des Koran besondere Mühe und stellt eine Gruppe von Jungen zusammen, die im Wettstreit des Rezitierens die Schüler der Scheichs übertrumpfen. Die präzise Kenntnis des heiligen Buches wird Sayyed Qutb zugute kommen, wenn er in seinen späteren Schriften den Koran kommentiert und schliesslich Bücher schreibt, die radikalen Islamismus propagieren (8).

Für Sayyeds Entwicklung sind die Lehrer der staatlichen Schule von besonderer Wichtigkeit. „Er verehrte die Afandiyât fast bis zur Anbetung, denn sie gehörten zur heiligen Schule und sie lehrten, was er nicht wusste, und verstanden, was er nicht verstand“ (9). „Die Schüler und die Dorfbewohner hatten ihnen diesen Ehrennamen gegeben, um sie von den Dorfscheichs, den Koranrezitatoren, zu unterscheiden.“ Ausführlich berichtet er, welche Aufklärungsarbeit ein solcher Efendi im Dorf verrichtet. „Ein junger Schulleiter war an die Schule versetzt worden, der sich intensiv um die ethische und geistige Erziehung der Schüler bemühte und nicht wie seine Vorgänger nur trockene Schulwissenschaft unterrichtete.“ Er beschränkt sich nicht darauf zu verkünden, dass Aberglaube auf Ignoranz beruht, sondern begleitet seine Schüler nachts an Orte, an denen es spukt. „Viele Augen empfingen die Schüler, rote und blaue, die im Dunklen glühten, ohne Zweifel Ifrît-Augen, die Funken sprühten“. Das Experiment gelingt: der Lehrer fängt eines dieser Wesen ein, um zu beweisen, dass es ganz gewöhnliche Kaninchen sind.

Taha Husseins Kindheit auf dem Dorf war von den politischen Ereignissen und der Präsenz des Staates unberührt. Er wird vom Geschehen in seinem Land und in der Welt erst eingeholt, als er an al-Azhar und an der Universität studiert und allmählich aus der traditionellen Welt der Turbanträger in jene der urbanen „Tarbuschträger“ hinüberwechselt. Sayyed Qutb ist privilegiert: er stammt aus einer angesehenen Familie von Grundbesitzern. Sein Vater ist Delegierter der nationalistischen Vaterlandspartei, hat eine Zeitung abonniert, und in seinem Haus versammeln sich Nationalisten und Liberale. Kein Wunder, dass darunter auch die Efendis sind. Der Erste Weltkrieg entfacht Emotionen und Hoffnungen: „Das ganze Dorf stand auf Seiten der Türkei, die als Staat des Kalifats gegen die gottlosen Alliierten kämpfte“, und alle hofften, eine Niederlage der Engländer würde Ägypten zur Unabhängigkeit verhelfen. Ein junger Schulleiter, glühender Patriot, versorgt den Jungen mit Büchern voll vaterländischer Poesie, „zwei seltenen kostbaren Büchern, und beide enthielten Patriotisches, nach denen sich seine glühende Seele sehnte (…). Und als in die Trompete der grossen ägyptischen Revolution geblasen wurde, stellte sich der Lehrer vor die Schülerreihen, hielt eine feurige, patriotische Rede und verkündete, die Schule würde auf unbestimmte Zeit geschlossen“. Der kleine Sayyed, kaum älter als zehn Jahre, schreibt revolutionäre Reden und Gedichte und trägt sie in politischen Versammlungen und Moscheen vor.

Der Staat hat dem Dorf eine Schule beschert, die eine Schicht von Gebildeten entstehen lässt, die für nationale Unabhängigkeit, gegen die Vormundschaft der Briten und die Willkür des Palastes kämpfen. Derselbe Staat jedoch greift rücksichtslos in das Dorfleben ein. Der Arzt aus der Kreisstadt erscheint nicht etwa, wenn ihn die Patienten brauchen, sondern um die Leichen von Ermordeten zu sezieren, falls sich ein Verbrechen nicht wie üblich vertuschen lässt. Er organisiert eine Impfaktion, die Schrecken verbreitet, weil niemand ihren Zweck versteht: „Mütter stürzten in panischer Angst auf die Strasse, um ihre Kinder hastig einzusammeln. Sie verriegelten die Tür, stiegen auf die Dächer und machten sich bereit, von einem Haus zum anderen zu springen.“ Einen ähnlichen Schrecken verbreitet der Kreisarzt, als er die Schüler zu einer Stuhl- und Urinprobe antreten lässt, ohne sie über Sinn und Zweck der Übung aufzuklären. Heikel wird die Lage für jene Schüler, die ihre Bäuche in der Pause bereits geleert haben. „Jetzt kamen List und Solidarität zum Zuge, denn die Schüler hatten ja Brüder, und wann sollten sie ihre Nützlichkeit zeigen, wenn nicht hier? Die Schüler bestürmten ihre Brüder, den kleinen Behälter für sie zu füllen.“ Was aber tun, wenn diese Hilfe verweigert wird? „Da kam der Genius eines Mitschülers auf eine glänzende Idee: in den Toiletten der Moscheen gab es ja genug für alle.“ Der Kreisarzt und seine Delegation nehmen die Proben vertrauensvoll entgegen. Erst später wird bekannt, dass es um eine Statistik über das Vorkommen von Anämie, Bilharzose und Fadenwürmern ging. Die unappetitliche Episode zeigt, wie ein ernsthaftes Anliegen durch inkompetente Umsetzung zur Dorfklamotte wird (10).

Manchmal zeigt der Staat seine brutale Willkür, wie man sie seit Jahrhunderten kennt: ein Trupp von 200 Soldaten überfällt das Dorf, um im Auftrag der Obrigkeit sämtliche Waffen zu beschlagnahmen. „Allen hatte man die Hände mit Stricken gebunden, und alle wurden geohrfeigt und mit Fusstritten traktiert, ohne dass sie ahnten weshalb, ausser dass die Obrigkeit da war, von der man dergleichen kannte. Einige von ihnen hatten noch die türkische Herrschaft erlebt.“ Der Bürgermeister steckt mit Dieben und Kriminellen unter einer Decke und lässt sich von ihnen bestechen. Um seine Kumpane zu schonen, zwingt er die Bauern, jene Waffen herauszugeben, die ihnen zum Schutz der Felder dienen. Wenn einer über keine Waffen verfügt, „dann wehe und ach über das Familienoberhaupt. Er wurde niedergepeitscht, getreten und geschlagen (…) Viele Dorfbewohner mussten ihr Vieh, das Essen für ihre Kinder und den Schmuck ihrer Frauen verkaufen, um die Waffen zu erwerben, die sie angeblich besassen, während sie in Wirklichkeit noch nie eine Waffe getragen hatten (…) die Armen besassen keine Macht wie die Verbrecher und keine angesehene Stellung wie die Reichen.“ Der Staat tritt die Gerechtigkeit mit Füssen. Die kleinen Leute fügen sich, und „der grosse Offizier betrachtete, aufgeplustert wie ein Gockel, zufrieden seinen Triumph, den er über die verfluchten Dorfbewohner errungen hatte.“ Dass derselbe Offizier Jahre später zum stellvertretenden Direktor der Staatssicherheit avanciert, wundert niemanden. Kindheitserlebnisse wie dieses haben sicher dazu beigetragen, dass Sayyed Qutb zum erbitterten Feind jenes Polizeistaates wird, den Abdel Nasser nach 1952 etabliert.

Sayyeds Heimatdorf war ein eher wohlhabendes Dorf, in welchem die Armen in patriarchalischen Strukturen aufgehoben waren. Sie arbeiteten bei einem reichen Verwandten, den sie „mein Onkel“ nannten. „Die gegenseitigen Beziehungen waren von Stolz geprägt; Diener wie in der Stadt oder auf etlichen Latifundien, wo sie wie Sklaven lebten, kannte man nicht.“ „Die soziale Gerechtigkeit im Islam“ (11), wie sie Qutb in seinem späteren Werk propagiert, war in dieser traditionellen Welt zum Teil verwirklicht. Was aber soziale Ungerechtigkeit und bittere Armut sind, erfährt der Knabe in der Erntezeit, wenn Saisonarbeiter im Dorf auftauchen. Diese Fremden, غرباء „ghurabâ‘ , kommen aus abgelegenen Dörfern der Provinzen Qena und Aswân. „Die traurigen und bitteren Lieder dieser Leute besangen Mannhaftigkeit und Schönheit; sie erregten die Seele und die Empfindungen des kleinen Jungen, der ihnen wie verzaubert lauschte.“ Er schreibt Briefe für die Analphabeten und beobachtet sie, wenn sie ihr Mahl einnehmen: „Da gab es also Leute, die Mahlzeiten ohne Fleisch, Butterschmalz, Knoblauch, Zwiebeln und sogar ohne Peperoni essen konnten und das Ganze mit grossem Appetit verschlangen (…) Und der Junge erfuhr, dass die wenigen Piaster, die sie ihren Familien fünf oder sechs Mal im Jahr schickten, das ganze Jahreseinkommen darstellten (…). Aber weder in ihren Augen noch in ihrer Sprache lag eine Spur von Neid oder Hass auf diese schrecklichen Klassenunterschiede.“ Anders als Taha Hussein, dem erst als Student bewusst wird, welche Ungerechtigkeit in seiner Heimat herrscht (12) , hat Sayyed diese schon als Kind erlebt. Er schämt sich für sein Volk und fühlt sich schuldig: „Er ist wahrlich ein Dieb, ein Dieb an jenen Fremden und vielen Millionen Ihresgleichen, die das Gold im Niltal wachsen lassen und dabei Hunger leiden müssen (…). Diese Gedanken überfielen ihn immer wieder, wenn er ein üppiges Mahl einnahm (…) oder die schönsten Wonnen des Lebens zwischen Millionen Ausgebeuteter genoss!“ Die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit wird er sich immer weniger von einem „liberalen“ Regime westlicher Prägung erhoffen als vielmehr von einem Staat, der die „soziale Gerechtigkeit im Islam“ verwirklicht.

Kairo

Wenn der dreizehnjährige Taha Hussein an der Hand seines Bruders durch die engen und lärmigen Gassen des Hussein-Quartiers geführt wird, fehlt ihm die geschützte Atmosphäre seines Dorfes. Aber in dem grossen Haus, in dem er mit Schülern und Lehrern lebt, die meist wie er aus Oberägypten stammen, fühlt er sich nicht fremd. Der tägliche Schulweg endet im grossen Innenhof der Moschee al-Azhar, in dem sich die Studenten um ihre Scheichs scharen, einer Oase der Ruhe, der Besinnung und der Wissenschaft. Taha Hussein hat seine Blindheit zeit seines Lebens als schwere Last empfunden. Aber in gewisser Hinsicht hat sie ihn vielleicht geschützt vor Dingen, die ihm einen Kulturschock verpasst hätten. Der sechzehnjährige Sayyed Qutb dagegen erlebt mit wachen Augen die Metropole in all ihren Widersprüchen (13) : Down Town mit seinen „sündigen“ Vergnügungsstätten und die eleganten Viertel von Garden City und Zamalek sind das Reich der Ausländer und der einheimischen Elite , während die historischen Viertel heruntergekommen sind und in den Arbeiterquartieren Elend herrscht. Die Frauen aus der Oberschicht sind elegant gekleidet und geschminkt, fahren Auto und führen ein Leben, das meilenweit entfernt ist von dem der Frauen aus dem Dorf: „Die Frauen mussten dunkle Kleidung tragen. Nach den Regeln der Dorfgemeinschaft durfte sich nur die junge Frau in den ersten Ehejahren schmücken (…); sollte sie weiterhin auf ihrem Putz, ihrer bunten Kleidung und ihrer Fröhlichkeit bestehen, geriet ihr Lebenswandel in aller Munde, und sie wurde von allen Seiten kritisiert, während ihre Altersgenossin aus der Stadt ihr eigentliches, glanzvolles Leben begann (…).“ Je mehr Sayyed auf dem Weg der Hinwendung zum Islam und zur Tradition voranschreitet, desto schärfer wird er die „verwestlichten“ Frauen der Grossstadt verurteilen und das traditionelle Frauenbild idealisieren.

Erneut ist Sayyed gegenüber Taha Hussein privilegiert, weil ihm die Langeweile erspart blieb, die das Studium an al-Azhar erzeugte. Er besucht eine staatliche Oberschule und beginnt ein Studium an Dar al-Ulûm, دار العلوم , einer pädagogischen Hochschule, die eine gute Ausbildung in arabischer Sprache und Literatur, in traditionellen religiösen Wissenschaften mit Lektionen über Geschichte, Wirtschaft und Politik verbindet. Nach dem Diplom tritt der 27Jährige als Grundschullehrer in den Staatsdienst, unterrichtet in Kairo und in der Provinz, wird Schulinspektor und lässt sich in Helwân, einem damals wohlhabenden Vorort von Kairo, nieder. Er hat seinen Kindertraum verwirklicht, ist selbst ein Efendi geworden und geht seiner Berufung als Publizist und Literat nach. Durch seinen Onkel lernt er ’Abbâs Mahmûd al-’Aqqâd kennen, einen der führenden Dichter jener Zeit, der zu seinem Mentor und Vorbild wird. Sayyed erlangt Zugang zur Welt der Literatur und verkehrt mit Schriftstellern wie Taha Hussein, Tawfîq al-Hakîm und Nagîb Mahfûs, Autoren, die wie er von nationaler Unabhängigkeit und kultureller Renaissance träumen. Unter dem Titel „Das unbekannte Ufer“, الشاطيء المجهول „al-shâti‘ al-maghûl“, veröffentlicht er 1935 seinen ersten Gedichtband, der stark von’al-’Aqqads romantischer Attitude geprägt ist. Qutb präsentiert sich uns als Wanderer auf der Suche nach Wahrheit aus einer geistigen Welt, der die Grenzen des banalen Lebens überschreitet und aufbricht zu unbekannten Ufern. Hier zeigt sich seine Nähe zum Sufismus seiner Heimat und das Unbehagen des „Dorfkindes“ in der grossen Stadt: er fühlt sich entwurzelt, ein Fremder für sich selbst ( غريب بنفس ), aber verankert im kulturellen Universum seines Dorfes. Die Ägypter, glaubt er, verlieren ihre Seele durch den zersetzenden Einfluss westlicher Kultur. Er ruft seine Landsleute auf, ihre kulturelle Identität zu bewahren. Ägypten besitze Werte wie Moral, Tugend, Ehre und Grosszügigkeit, eine „angeborene Spiritualität, unvereinbar mit dem Materialismus und Individualismus des Westens“, und es gelte, stolz zu sein auf diese Werte, von denen die westliche Welt viel lernen könne. In seiner Besprechung von Taha Husseins Essay „Die Zukunft der Kultur in Ägypten“ betont Sayyed Qutb, Ägypten habe mit seinen arabischen Nachbarn weit mehr gemeinsam als mit den europäischen Nationen.

Mehr und mehr entfernt sich Sayyed Qutb von „aufklärerischen“ Idealen, wendet sich mystischem Gedankengut zu und beschäftigt sich mit der Botschaft des Koran. „Die soziale Gerechtigkeit im Islam“ verkündet, dass allein der Islam die Menschen gleich behandelt und ihre angeborene Würde achtet. Im Gegensatz zum „liberalen“ Wirtschaftssystem schränke er die Freiheit des Marktes ein und verhindere die Ausbeutung, die der Kapitalismus mit sich bringt. Er attackiert die freien Beziehungen zwischen den Geschlechtern, weil sie eine Bedrohung für die Familie sind, und die Musik, weil sie die Moral der Zuhörer untergräbt. Qutbs Entwicklung vollzieht sich allmählich und fast unbemerkt. In seinem autobiografischen Buch „Spiegelbilder“ porträtiert ihn Nagîb Mahfûs wie folgt: modern in Kleidung und Auftreten, eine ausgeglichene Person, höflich in Umgang und Gespräch, jemand, der das Thema Religion vermeidet. Trotzdem strahlt er etwas Befremdendes, fast Unheimliches aus: „Obwohl er sich mir gegenüber immer grosszügig und brüderlich gab, fühlte ich mich nie ganz wohl vor seinem Gesicht und dem Blick seiner hervorquellenden ernsten Augen (…) Er besass die bei Ägyptern so seltene Fähigkeit, seine Geheimnisse zu bewahren.“ (14)

Amerika

Als der Journalist Lutfi el-Sayyed ihm prophezeit, „er werde für Ägypten das werden, was Voltaire für Frankreich ist“ (15) und man ihm rät, sich für ein Stipendium in Frankreich zu bewerben, strebt der junge Taha Hussein mit aller Kraft nach diesem Ziel, unbeeindruckt von Argumenten,die ihn entmutigen wollen: er sei blind, besitze keinen Oberschulabschluss, sein Französisch sei zu schlecht, und für einen Blindenführer reichten die finanziellen Mittel nicht . Sein Leben in Montpellier und Paris ist ganz dem Studium gewidmet. An den Vergnügungen seiner ägyptischen Kommilitonen teilzunehmen, ist dem Blinden versagt. Dem Land, das ihm seine Lebensgefährtin schenkt („die Frau, mit deren Augen ich sah“), wird er ein Leben lang Bewunderung und Dankbarkeit bezeugen. Erst 1956, als nach der Nationalisierung des Suez-Kanals die französische Luftwaffe, zusammen mit Briten und Israelis, Ägypten angreift, gibt er seinen Orden des „Officier de la Légion d’honneur“ zurück. Frankreich ist für Taha das Land des Fortschritts, der Aufklärung und der Philosophen, Amerika für Sayyed eine feindliche Welt, die er ablehnt und verteufelt.

(Fortsetzung folgt, am Ende des nächsten Beitrags auch die Auflistung der Anmerkungen)

Taha Hussein – Sayyed Qutb als Kind – Sayyed Qutb zum Tode verurteilt

               Taha Hussein kl qutb als Kind-1 Sayyed Qutb zum Tode verurteilt kl