Zur Analyse eines exotischen Videoclips

Warisan Bintan 

Eine Übung

Mich interessieren zunächst alle Vorurteile, die sich beim Betrachten und Anhören dieses Videoclips einstellen, und erst im Nachhinein die unvoreingenommene Beschreibung dessen, was hier „wirklich“ stattfindet oder gemeint ist.

Vermutlich ist das erste Etikett, das sich dem westlichen Betrachter angesichts dieses Clips aufdrängt, zumindest ab 0:42 sobald der Bass eingesetzt hat, vollends wenn ab 1:03 der Solosänger dazugekommen ist: KITSCH. Übrigens sieht man nur Einzelmusiker (Laute, Geige, Akkordeon, Tamburin), kein Ensemble, das für diesen kommerziellen Sound zuständig sein könnte. Der weichliche Gesang passt zu den betont anmutigen Gesten des Sängers, der Name „Sultan Mahmoud“ lässt auf einen subalternen Schmeichelgesang tippen. Die absteigenden Sequenzen der instrumentalen Melodie, ihre dürftige Wiederholung, der quadratische Zuschnitt, die Variante der Sequenz im Sologesang, – alles ist voraussehbar, mit Ausnahme des schnellen Abstiegs (zum erstenmal bei 1:01), der an den arabischen Maqam Hijaz erinnert, – ein exotistischer Farbfleck. Die Melodie insgesamt entspricht in ihrer Machart billigen westlichen Heimatschnulzen. Ein Moment des Aufhorchens ergibt sich  bei 3:08 bis 3:12, wird aber durch das Auftauchen eines Hintergrundchorklangs und die Wiederkehr des Sängers sogleich zunichte gemacht. Und die Tänze? Die Kleidung ist zu schön, zu kostbar, zu nett und abwechslungsreich, auch die Bewegungen sind wie mal eben für den Film erfunden. Unmotiviert der Wechsel an den Strand. Aha: Wir sind auch Naturkinder! Aber es gibt eine Handlung… Eine Frau  huscht vorbei, dann eine Art Apotheose der Laute, ein Adelsschlag durch den Sultan? Und eh du’s gedacht, ist alles vorbei. Ein romantisches Traumbild.

Oder ein didaktischer Film? Für die breite Masse, die die alte Musik (vertreten durch die Laute) nur erträgt, wenn sie in Kitsch gebettet in Erscheinung tritt? Vielleicht ist die Bedeutung des Films, – das was er meint, wichtiger als das was wir (wir) hören und sehen?

Jetzt erst wird es wirklich interessant. Wir schauen der Wissenschaftlerin in die Papiere, während sie den Einheimischen über die Schulter geschaut hat, die den eigenen Videoclip anschauen.

Jähnichen Seite 1 sw (Bitte anklicken!)

Inseln und Orte: Pulau Penyengat, Tanjung Pinang, Riau Lingga, Singapore.

Ich habe versucht, mir ein Fazit der Arbeit zu notieren, es folgt dem abschließenden Text der Arbeit von Gisa Jähnichen, ohne zu beanspruchen, eine wirklich genaue Übersetzung zu liefern. Man sollte es an Ort und Stelle nachlesen, vor allem aber die Synopsis zum Verlauf des Filmes Punkt für Punkt studieren (Seiten 150 bis 159 ausdrucken, damit man sie im Querformat lesen kann).

Der Handlungsablauf des Videoclips kombiniert eine Reihe von Geschichten. Eine davon betrifft die Reise als ein Symbol. Dieses Symbol wird auf zwei Ebenen behandelt: die eine ist die Reise des Islam in die Malayische Welt, die Ankunft des Glaubens und der kulturellen Implikationen, die die Ankunft des Islam begleiten, darunter die symbolische Bedeutung des Gambus.

Die andere Ebene ist die Reise eines jeden guten Malayen zu entscheidenden Orten der religiösen und kulturellen Geschichte, von denen einer auf Penyengat Island gelegen ist, einer Insel, die über Tanjung Pinang auf dem größeren Bintan Island im Riau Archipelagu zu erreichen ist.

Eine weitere Geschichte betrifft das Verhalten des Gambus-Spielers, der als Pilger auf dem Panyengat Island eintrifft und von Liebe zu einer Schönen der Vergangenheit ergriffen wird. Am Ende kehrt er mit dem Gambus in Händen zurück, dem Symbol des kulturellen und religiösen Erbes.

Eine zentrale Geschichte betrifft den engen Zusammenhang zwischen Musik und Tanz, was für Lebendigkeit, Freude, Frieden, Harmonie und Gemeinschaft einsteht, ausgedrückt in verschiedenen Möglichkeiten des gemeinsamen Tanzens.

Und noch eine andere Geschichte ist die Begegnung mit dem Sultan und dem Prinzen, worin sich ein tief verwurzelter Respekt für die Autorität, das Königtum und – insgesamt – für die malaysische Geschichte manifestiert.

Musikalisch umfasst die Geschichte ein artifizielles Taqsim in Nahawand und Hijaz. Absteigende Skalenfragmente von Hijaz erscheinen auch am Ende jedes „Kopak Tengah“ (mittlere Section, „Übergang“). Diese Beobachtung kann bestätigt werden durch die generelle Tendenz, dass Maqam-Fragmente oft in Übergängen, Abschlüssen und Anfängen musikalischer Einheiten erscheinen. Sie dürften einen Eindruck von Seriosität, legitimer Zuordnung und kultureller Angemessenheit der Aufführung vermitteln.

(Ich übergehe hier die formal-poetische Zuordnung des gesungenen Textes. JR)

Die Kreativität des Komponisten kann in seiner Fähigkeit gesehen werden, all die teilweise widersprüchlichen symbolischen Bedeutungen zu überbrücken, die er in ein akzeptables historisches Gesamtbild zu fügen sucht.

Einige dieser Widersprüche liegen in der Wahrung prae-islamischer Bestandteile in den künstlerischen Ausdruckformen, so etwa wenn dem Tanz das gleiche Gewicht wie der musikalischen Vorführungen zugebilligt wird. Die Wahl von Farbmischungen mit Rot und Orange, die Lebendigkeit signalisieren, mögen sogar aus einer älteren Sichtweise heiliger Kräfte stammen, wie sie im Hinduismus überliefert wird. Die Wichtigkeit wechselnder rhythmischer Aktivitäten, durch die Emotionalität befördert wird, auch die Allusion sexuell ablenkender Momente, welche die erzählten Geschichten würzen, bedeutet eine andere Sphäre ekstatischer Elemente. Diese Bestandteile kontrastieren in gewisser Weise mit der Absicht, den Respekt gegenüber den Errungenschaften der Vergangenheit, den Autoritäten, dem Königtum, dem Sultanat und den hohen Lehrern des muslimischen Glaubens voranzutreiben. Interessanterweise dominiert Gelb als königliche Farbe klar über das islamische Grün, worin sich eine individuelle Neigung zeigen mag, die Zeichen des Königtums über die religiöse Tendenz zu setzen.

Jedenfalls deuten Bewegungen und Aktionen ebenso wie die Kombination von Musik und szenischen Abläufen auf das starke Verlangen nach einem sicheren geschützten Dasein in Lebensfreude und einer friedlichen Harmonie durch eine gemeinsame Weltsicht.

Das ultimative Symbol materialisiert sich im Gambus, das nicht nur ein Musikinstrument ist, sondern ein Werkzeug, in dem das Vermächtnis der Vergangenheit fortwirkt. Musikalische Geschichte, so scheint es, zeigt sich im Engagement des Gambusspielers: er wählt den Teil der Geschichte, der erhalten werden soll. Dieser Teil zeigt sich im Maqam-Prinzip, wie auch immer fragmentiert und de-komponiert innerhalb der harmonischen Progressionen des Stückes. Es ist mit dem Gambus verbunden und untrennbar von der materiellen Manifestation und ihrer Sichtbarkeit.

(Nach dem Text von Gisa Jähnichen, incl. möglicher Missverständnisse meinerseits. JR)

Ich frage mich nach der Lektüre dieser wissenschaftlichen Arbeit, ob die in meinem Einleitungstext angedeuteten westlichen Vorurteile behoben oder gemindert worden sind. Wenn die Bedeutung des Instruments und der Maqam-Anteile so wesentlich sind, so scheinen sie mir doch im Film allzu stiefmütterlich behandelt, am Schluss sogar deutlich dem Traumbereich zugewiesen.

Zweifellos fehlt mir ein wichtiges Kriterium, nämlich die Übersetzung des gesungenen Liedtextes, dessen verbale Aussagen ebenso wichtig wie die symbolischen Zuordnungen sein dürften. Vielleicht sogar entscheidende Indizien von Ideologie oder politischem Programm zutage brächten.

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Mehr über das Gesamtprogramm des Festivals in Aserbeidschan: HIER

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Es ist noch zu wenig, also irreführend, was ich über den Hintergrund des Videoclips exzerpiert habe. Ein weiterer Versuch:

Es geht um die Promotion des insularen (!) Vermächtnisses der Malay Singapurischen Bevölkerung, einer Minorität im Staate Singapur. Ihre Identität stellt Kultur an die Seite der Religion. Obwohl eine Anzahl von südasiatischen Muslimen aus Indian und Pakistan existiert, glauben die Malay Singapurer an ihr eigenständiges Erbe, das  durch eine enge Verbindung zu arabischen Modellen charakterisiert ist, eine wenig kritische Adaption materieller Symbole und eine Re-Interpretation schon vorhandener expressiver Mittel. (…)

Diese Video „Warisan Buntan“ wurde 2003 in Pulau Penyengat und Tanjung Pinang gedreht, Inseln, die zu Riau Lingga gehören, insbesondere zu der größeren Insel Bintan. Riau Lingga hat eine wichtige bedeutung für alle Singapurer Malayen: es wird als der Ort gesehen, von dem alle Kultur und Weisheit kommt, samt allen eingewanderten kulturellen Elementen. Bintan ist auch anderen Singapuren bekannt als Urlaubsziel, Wochenendzuflucht, eine aufgeschlossene obwohl muslimische Zone, wo persönliche Freiheit geschätzt wird. Riau Lingga gehört zu Indonesien, dem Land, das überraschenderweise mehr Einfluss als Malaysia hat, nach den Begriffen Malayischer Kultur. Tanjung Pinang, die Hauptstadt von Bintan Island, ist das kulturelle Zentrum und attraktiv wegen seiner sichtbaren Verbindung mit der Vergangenheit. (…)

Die winzige Insel Penyengat war während des 18 Jahrhunderts der Sitz der mächtigen Bugis Herrscher. Der Palast und die königlichen Grabstätten gehörten Sultan Haji, von dem die erste Malayische Grammatik geschrieben worden sein soll. Als Hintergrund des Videos wurde das neu errichtete kulturelle Zentrum gewählt, das ein Publikum aus der Malayischen Welt durch Musik und Tanzaufführungen anziehen soll. Wichtige Szenen wurden in der Königlichen Moschee aus dem Jahre 1844 aufgenommen, die im alten Stil grün und gelb bemalt ist. (…)

Die Insel kann von Tanjung Pinang aus in kaum 15 Minten Bootsfahrt erreicht werden. Man sieht sie von der Küste der Hauptinsel Bintan aus.

Interessanterweise wird die schlichte Geographie schon als symbolischer Hinweis verstanden: Penyengat Island gehört zu der Hauptinsel Bintan, die zum Riau Archipelago gehört, welcher zur großen Malayischen Welt gehört. Dementsprechend wird der ganze Erdball gewissermaßen verbunden und harmonisiert durch die Wahl seines kleinsten Teils als Punkt des Aufbruchs.

Quelle Englischer Text von Gisa Jähnichen „Warisan Bintan: Maqam within a visualized heritage“ in www. mugam.az (2015) HIER.

Auswahl und Übersetzung J.R.

Mir scheint, man muss eine Vorstellung von der komplexen kulturellen Situation an genau diesem seltsamen Punkt der Welt haben, ehe man den Videoclip mit dem Wort Kitsch belegt.