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Der Chill-Faktor

Ist „Gänsehaut“ bemerkenswert?

(Eine Notiz vom vergangenen Jahr, Abfallprodukt, ich veröffentliche sie nur, um sie los zu sein. Heute würde ich verschiedene Fragezeichen einschieben und vor allem einen neueren Aufsatz von Ferdinand Zehentreiter als Ausgangspunkt wählen, Thema: „Warum Musik keine ‚Sprache der Gefühle‘ darstellt“.)

Ganz unbedarft fühlte ich mich nicht angesichts dieses Themas: jedenfalls war es schon vor 1998, als ich über mehrere Radiosendungen hinweg versuchte, den emotionalen Wirkungen von Musik systematischer nachzugehen, auch indem ich um Feedback vonseiten des Publikums bat, woraus ein Menge Hörerpost resultierte. Ich glaubte auf dem rechten Weg zu sein, nahm 1998 an der Geneva Emotion Week (Université de Genève, Faculté de Psychologie et des Sciences de l’Education) – und kehrte ziemlich konsterniert zurück. Vielleicht hätte ich alles gründlich aufarbeiten sollen, dann hätte ich das Problem vom Hals gehabt. Soll die Wissenschaft doch weiter ihre Messungen anstellen, – sind es nicht durch die Bank Leute, die von den wirklichen Wirkungen der Musik wenig Ahnung haben? Immer dieses Gerede von den Emotionen… Was von den Laien völlig unterschätzt wird, ist der gedankliche Anteil der Musik.

Ich würde zunächst einen Aspekt völlig ablösen: die physisch spürbaren und benennbaren Effekte wie Gänsehaut und Tränen. Sie wären meiner Meinung nach separat von den emotionalen Wirkungen zu behandeln, die vorrangig aus der Introspektion stammen und allzuleicht verfälscht und übertrieben werden, auch irreführende Fragestellungen nach sich ziehen.

Ein Beispiel:

Universaler Chill-Effekt – Musik berührt uns im Innersten. Musik ist eine universelle Sprache der Gefühle. Nicht umsonst spricht man vom «Gänsehaut-Effekt», den wir beim Hören von Musik erfahren. Sie kann uns überwältigen und tief wie keine andere Kunst berühren – über alle Kulturen hinweg. Nur wenige Menschen zeigen sich immun gegen die Reize der Musik, die auch unser Filmerlebnis prägt. «Kulturplatz» trifft den Basler Filmkomponisten Niki Reiser. Einen, der weiss, wie ein Soundtrack klingen muss, damit ein Film sein Publikum erreicht. (Siehe hier.)

Dass die Musik eine universelle Sprache sei, „über alle Kulturen hinweg“, ist leeres Gerede. Wunschdenken. In der Musikethnologie gibt es zahllose Belege des vollständigen Versagens interkultureller Kommunikation. Bei jeder komplexeren Musik muss die Hör-Methode regelrecht eingeübt sein, möglichst schon in der Kindheit.

Ich beginne mit eigenen Erinnerungen, die das Phänomen Gänsehaut betreffen, den frühesten, die ich dingfest machen kann, und es entspricht wohl wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass sie erst mit der Pubertät auftauchen.

J.S.Bach: Matthäus-Passion „Barrabam“ – Schrei

Richard Wagner: Höhepunkt der Lohengrin-Vorspiels (Beckenschlag)

Bach „Ciaccona“: eine Stelle in einer bestimmten Interpretation (siehe hier)

(Ich habe all dies schon mehrfach zur Sprache gebracht, z.B. hier,  und sollte jetzt sondieren, was aus dem Zehentreiter-Ansatz an neuen Einsichten gewonnen werden kann.)

Mit Statistik hinters Licht

Medizin, Pharma, Kommerz

„Gibt es einen Zusammenhang zwischen Tierliebe und Mindestlohn?“

Sie wissen es nicht? Dann sehen Sie diese Sendung bis mindestens Minute 13:40 – und versuchen Sie zu stoppen…

Pharma Screenshot 2016-04-12 10.17.31

… noch bis 11.4.2017 in der ARD Mediathek abrufbar: HIER 

http://www.ardmediathek.de/tv/Reportage-Dokumentation/Die-Story-im-Ersten-Im-Land-der-L%C3%BCgen/Das-Erste/Video?bcastId=799280&documentId=34622130

Von wegen „Lügenpresse“ – diesem Hinweis der HörZu bin ich gefolgt:

Pharma-Sendung Hinweis zu Akte D HIER (nicht mehr abrufbar) – jedoch HIER.

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Private Rechtfertigung: Warum dieser Hinweis (es geht dir doch angeblich immer um Kultur)? Ja, das heißt aber nicht, dass es daneben kein „reales“ Leben gibt.

In einem Tagebuch, das ich nicht führe, müsste stehen, dass ich zwar heute nacht diese Sendungen gesehen habe, aber aufgewacht bin am Morgen (um Punkt 8 Uhr!) mit der innerlich laut gehörten Melodie „Der Morgenstern ist aufgegangen“, wobei ich darüber staunte, wie gewaltig (und unschuldig) sie gebaut ist: der Abstieg über eine ganze Oktave: „Hoch über Berg und tiefem Tal“!!! Danach kehrte ich zu meinem augenblicklichen Lieblingsthema zurück: betr. die verschiedenen Gestalten der aufsteigenden Chopin-Melodie (Mittelteil Impromptu As-dur, anders im cis-moll), die in f-moll, mit ihren immer neuen Ansätzen, der zunächst stockenden Begleitung, – nie habe ich eine angemessene Beschreibung dieses Wunders gelesen. Und dann kam ein gedanklicher Themenwechsel zu der Lothringer Weise „Ist das nicht der Morgenstern“ , das Aufsuchen des Textes, die überwältigende Erinnerung, wie das in der Neumeyer-Bearbeitung in Oktaven gesungen wurde, die Bestellung der alten LP (widerstrebend per Amazon). Ich sitze also am Computer, eigentlich: um zum Thema der Nacht zurückzukehren. Zu den Pharma-Lügen. Stelle mir vor, krank zu sein, wie mein Freund. Aber als erstes erschien mir eben der Morgenstern, vielmehr er lag mir in den Ohren. Deshalb musste es damit weitergehen. Dies alles klingt fast unglaubwürdig, aber genau so war es. Allerdings habe ich auch gefrühstückt (1 Apfelsine), die Zeitung gelesen (sehr genau die Seite über Böhmermann, große Zustimmung für Ulli Tückmantel, anschließend den Bericht über den der Lehrerin verweigerten Handschlag in der Schweiz). Und – unentwegt die erwähnten Melodien im Sinn – wieder zurück an den Schreibtisch, wegen des Morgensterns.

Lothringer Lieder & Balladen aus ‚verklingenden Weisen‘ von Louis Pinck in Sätzen von Fritz Neumeyer [Vinyl Doppel-LP] [Schallplatte]
Gertraut Stoklassa,Theo Altmeyer,Chor der ev. Singgemeinde Bern,Fritz Neumeyer (Leitung),Louis Pinck (Komponist),Franz Beyer,Zoltan Racz,Hans-Georg Renner,Eckard Schmidt,Josef Brejza
Zustand: Neu
Verkauft von: baagad

Ich verstehe, wie es zu Marienerscheinungen kommen kann, wenn man jung ist und an Wunder glaubt. Man sieht Zeichen und Wunder, wo man bereit ist sie zu sehen. Und man sieht sie nicht, wenn man andere Erklärungen in Betracht zieht. In meinem Fall: ich denke fast immer an Melodien oder an Musik, was Wunder, wenn sie auch von selbst kommen. Ein weiteres Beispiel: ich erwähnte oben die Zeitungslektüre:

ST Schweiz Handschlag Solinger Tageblatt 12.4.2016 Mehr davon.

Und ich erhalte wenig später eine SMS von M. aus dem Zug, beigefügt eine Visitenkarte, Kommentar: „Herr Prof. Dr. Xxx, ein Syrer mit Haus in H., nach seiner Pensionierung als Islamwissenschaftler heute noch in der Halalistik tätig. Im Auftrag einer japanischen Firma hat er das große Halal-Gutachten für den brunesischen und indonesischen Markt gefertigt. Leckere Dattelpralinen bot er mir an.“

Schon wieder ein Wunder, nicht wahr?

Mich interessiert, ob es schon einen Wikipedia-Artikel über die Wissenschaft (?) der Halalistik gibt. Oder über das große Halal.

A propos: ich muss ein bestimmtes Signal in Bachs erstem Brandenburgischen nachschauen. (s.u.)

Noch einmal kehre ich zurück zum Morgenstern. Die frühe Gestalt der alten Melodie (die der Praetorius-Fassung Modell stand) finde ich nicht, und in der Gesangbuchfassung (EKG 1954) fehlt mir gerade das lange Melisma „hoch über Berg und tiefe Tal“ (keine moderne Gemeinde könnte das, ohne abzuschlaffen).

Morgenstern EKG

In „Deutsche Lieder / Texte und Melodien / Ausgewählt und eingeleitet von Ernst Klusen“ Insel Verlag Frankfurt am Main 1980 findet sich auf Seite 801 die folgende Fassung (Seite 233 sogar der Text eines wunderschönen alten Liebesliedes „De morgensterne hefft sick upgedrungen“, wie in Wikipedia, aber nicht nur zwei, sondern 7 Strophen, an Stelle „der lieben Engel Schar“ singt hier noch „de leve nachtegal“); man beachte die Talfahrt des Melismas in der dritten Zeile.

Morgenstern Klusen Quelle wie angegeben

22.08.2016 Zur Bemerkung betr. Bach: hier nur ein kleiner Gag (von Halal zum Halali). Aber in der Tat erfährt man interessante Details zur Bedeutung der Jagdmotive in Bachs 1. Brandenburgischen Konzert bei Peter Schleuning (Bärenreiter 2003). 

Warum Fotos traurig machen

Ich gebrauche selbstgemachte Fotos so, wie ich einem Menschen was vorsinge, zum Beispiel um über eine Melodie zu sprechen, die wir beide kennen: ich will nicht Kunst produzieren, nicht beweisen, dass ich einmal Gesangsstunden hatte, lächerlich, ich brauche kein schön geschnitztes Zeigestöckchen, wenn ich eine Straßenverbindung auf der Landkarte bezeichnen will. Natürlich weiß ich, dass es eine Kunst ist, gute Fotos zu machen; aber es ist zumindest subjektiv vertretbar, Fotos ohne jede Kunstabsicht herzustellen. Etwa so, wie man sich Notizen macht.

Vorgaben zur Kritik:

  1. Fotos geben vor, aus einer schönen Zeit zu stammen, – jeder ahnt den freundlichen Betrug -, die Personen lächeln, sie sollen den Betrachter für sich gewinnen: man wollte die Situation für ein späteres Erinnern festhalten, vielleicht weiß man, bezweckt es sogar, dass man den Betrachter durch schönen Schein manipuliert. Vielleicht wünscht man, dass das Foto so etwas wie Neid erweckt, man vermutet nicht, dass der wahrscheinlichere Effekt Mitleid ist: „Damals ahnte er noch nicht, dass er bald sterben würde!“ Oder sogar Schadenfreude?
  2. Fotos lassen das Elend, den Niedergang, den Zerfall des Alltags in seine heterogenen Einzelteile optisch attraktiv erscheinen. Man hört und riecht ja nichts, weder Stöhnen noch Gestank. Fotos klammern entscheidende Aspekte aus: z.B. die unerträgliche Hitze, die Mückenplage, die schrille Musik aus den Lautsprechern im Hintergrund. Fotos zielen selten darauf, dass man die Phänomene ergänzt, die nicht optischer Natur sind. Oder umgekehrt: sie spiegeln vor bzw. lassen keinen Zweifel zu, dass der Mensch, der eine Flöte an den Mund setzt, sie auch spielt.
  3.  Fotos stammen aus einer anderen Welt, auch wenn ich selbst darauf abgebildet bin und offensichtlich teilgenommen habe. Ich würde nicht soweit gehen wie Hofmannsthal, nämlich zu sagen, ich sei „mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.“ Ich sehe mich ja nicht nur, wie ich damals war (oder wie ich mich sehen wollte – wer weiß, wie viele andere Fotos ich habe verschwinden lassen); ich ergänze unwillkürlich aus der Erinnerung eine bestimmte (oder verschwimmende) Innenansicht. Ich könnte sie durch Notizen aus der Zeit vervollständigen. Und wenn das Foto an einem Festtag entstand, der mir im Gedächtnis haften geblieben ist, z.B. die Silberhochzeit meiner Eltern , kann ich viele Einzelheiten der äußeren Situation rekonstruieren.
  4. Fotos unterliegen krassen Fehldeutungen. Meine Mutter zeigte gern das Bild einer  jüngeren Freundin und sagte, sie habe ein Problem, weil sie keinen Mann „mitgekriegt“ hat. Es war eher ein Zufallsfoto, auf dem die Dame seitwärts in die Landschaft schaute und zudem nicht lächelte, daher war es für jede Projektion sehnsüchtiger Gefühle geeignet. Ich kannte sie allerdings als eine lebenslustige Person und mochte nicht glauben, dass ausgerechnet dieses Foto ihr Innenleben offenbarte. Vielleicht war sie kurzsichtig und wirkte deshalb beim Blick in die Ferne leicht angestrengt. Und es gab für sie gute Gründe, gerade meiner Mutter ein Foto zu schicken, das nicht suggerierte, sie nehme das Leben allzu leicht. Traurig war sie wohl nicht.

Ich mache einen Versuch:

Opa Familie 1915

„Draußen“ herrscht der Erste Weltkrieg. Der Mann ist nur auf Urlaub. Er ist genauso streng, wie er aussieht. Die Mutter sieht keine rosige Zukunft vor sich, sie wird in der Sekte bleiben, die der Mann aufgegeben hat. Der Junge wird als immer noch junger Mann im Zweiten Weltkrieg sterben. Das Mädchen wird sich mit dem Vater überwerfen, schwere Krankheiten erleben und vier Kinder gebären. Sie wird vom Tag des Fotos an noch fast 90 Jahre leben.

Natürlich lächeln sie alle nicht. Das war damals auf dem Lande nicht üblich. Die Sekte hieß übrigens „Ernste Bibelforscher“.

Aber was ich ausdrücken wollte, war etwas anderes. Ich erinnere mich, dass ich dazu einiges nachlesen wollte. Roland Barthes, Susan Sontag, Siegfried Kracauer, – es soll folgen und irgendwie zur Lösung der Titelfrage beitragen.

Nur vorläufig setze ich ein Foto hierher, das von dem ehemals kleinen Mädchen 1952 geknipst wurde, meiner Mutter. Ich vermute es, denn ihr Stuhl ist leer. Links mein Vater, hinten Tante Bertha, übrigens seine alte Tante, die ihn um mindestens 6 Jahre überlebte, und rechts sitze ich und schaue heraus wie mein Vater. Ich glaube, es ist vor allem die trübe Beleuchtung, die mich beschäftigt, es ist das Licht, das traurig macht. Auch die gefüllte Tasse meiner Mutter. In Wahrheit war es heller. Aber das Bild hat auf andere Weise recht.

Familienkaffee 1952

Ein Factum, das – vielleicht unnötig – traurig stimmt: all den Menschen, die wir auf alten Fotos betrachten, ist unbekannt, was vor ihnen liegt. Wir wissen es, wir kennen es – ihr „Fatum“. Vielleicht ist es ihnen aber gleichgültig, weil sie mit diesem Augenblick einigermaßen zufrieden sind? Sie alle leben (noch) und vergewissern sich dessen im Foto. Aus meiner Innensicht: mit 11 Jahren schien mir die Zukunft jenseits der 20, falls ich sie in Betracht zog, potentiell unendlich. Heute erfüllt mich mein damaliges Nichtwissen – fast ebenso wie das der anderen – mit Mitleid.

***

Aus Susan Sontag: „Über Fotografie“ (Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main 1980, 2006)

Seite 14

Fotografieren wird zu einem Ritus des Familienlebens in eben dem Augenblick, da sich in den industrialisierten Ländern Europas und Amerikas ein radikaler Wandel anbahnt. Als jene klaustrophobische Einheit der Kernfamilie, aus einem sehr viel umfassenderen Familienkollektiv herausgelöst wurde, beeilte sich die Fotografie, die gefährdete Kontinuität und den schwindenden Einflußbereich des Familienlebens festzuhalten und symbolisch neu zu formulieren. Jene geisterhaften Spuren, die Fotografien, sorgen jetzt für die zeichenhafte Präsenz der verstreuten Angehörigen. Das Fotoalbum einer Familie bezieht sich im allgemeinen auf die Familie im weiteren Sinne – und ist häufig alles, was davon übriggeblieben ist.

Seite 21

(…) Die Fotografie ist eine elegische Kunst, eine von Untergangsstimmung überschattete Kunst. Die meisten Menschen, die fotografiert werden, haben, gerade weil sie fotografiert werden, etwas Rührendes an sich. Ein häßliches oder groteskes Modell kann rührend wirken, weil es der Fotograf seiner Aufmerksamkeit gewürdigt hat. Ein schönes Modell kann wehmütige Gefühle hervorrufen, weil es, seitdem die Aufnahme gemacht wurde, gealtert, verblüht oder gestorben ist. Jede Fotografie ist ein  memento mori. Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, daß sie diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Verfließen der Zeit

***

In einem seiner Essays, die zwischen 1920 und 1931 entstanden, denkt Siegfried Kracauer über das Porträt (s)einer Großmutter aus dem Jahre 1864 nach, die damals ein junges Mädchen war.

Die Enkel lachen über die Tracht, die nach der Verflüchtigung ihres Trägers allein den Kampfplatz behauptet – eine Außendekoration, die sich verselbständigt hat -, sie sind pietätlos, und heute kleiden die jungen Mädchen sich anders. Sie lachen und zugleich überläuft sie ein Grausen. Denn durch die Ornamentik des Kostüms hindurch, aus dem die Großmutter verschwunden ist, meinen sie einen Augenblick der verflossenen Zeit zu erblicken, der Zeit, die ohne Wiederkehr abläuft. Zwar ist die Zeit nicht mitphotographiert wie das Lächeln oder die Chignons, aber die Photographie selber, so dünkt ihnen, ist eine Darstellung der Zeit. Wenn nur die Photographie ihnen Dauer schenkte, erhielten sie sich also gar nicht über die bloße Zeit hinaus, vielmehr – die Zeit schüfe aus ihnen sich Bilder.

Das Wort geht mir nach: „Sie lachen und zugleich überläuft sie ein Grausen.“ Ein paar Seiten weiter folgt eine ähnliche Beobachtung:

Als die Großmutter vor dem Objektiv stand, war sie für eine Sekunde in dem Raumkontinuum zugegen, das dem Objektiv sich darbot. Verewigt worden ist aber statt der Großmutter jener Aspekt. [Welcher, bleibt hier unzitiert, siehe unten. JR]  Es fröstelt den Betrachter alter Photographien. Denn sie veranschaulichen nicht die Erkenntnis des Originals, sondern die räumliche Konfiguration eines Augenblicks; nicht der Mensch tritt in seiner Photographie heraus, sondern die Summe dessen, was von ihm abzuziehen ist.

In diesen Sätzen steckt für mein Empfinden mehr Realität als in dem ganzen Photo-Buch von Roland Barthes („Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie“ 1980). Auch der folgende:

Die aktuelle Photographie, die eine dem gegenwärtigen Bewußtsein vertraute Erscheinung abbildet, gewährt in begrenztem Umfang dem Leben des Originals Einlaß. Sie verzeichnet jeweils eine Äußerlichkeit, die zur Zeit ihrer Herrschaft ein so allgemein verständliches Ausdrucksmittel ist wie die Sprache. (S.29)

In diesem Fall bezieht sich Kracauer auf eine Filmdiva seiner Zeit, was sich aber leicht transponieren lässt. Weiter mit Blick auf die Großmutter (mit Blick auf das zweite Foto oben könnte ich auch sagen: der Junge da oben – scheinbar jung -, bin doch ich gewesen, heute fast 25 Jahre älter als mein Vater damals, als er noch 7 Jahre zu leben hatte):

Das Gespenst ist komisch und furchtbar zugleich. Nicht das Lachen nur antwortet der veralteten Photographie. Sie stellt das schlechthin Vergangene dar, aber der Abfall war einmal Gegenwart. Die Großmutter ist ein Mensch gewesen, und zu dem Menschen haben Chignons und Korsett, hat der hohe Renaissance-Stuhl mit den gedrehten Säulen gehört. Ein Ballast, der nicht niederzog, sondern bedenkenlos mitgenommen wurde. Nun geistert das Bild wie die Schloßfrau durch die Gegenwart. Nur an Orten, an denen eine schlimme Tat begangen worden ist, gehen Spukerscheinungen um. Die Photographie wird zum Gespenst, weil die Kostümpuppe gelebt hat. Durch das Bild ist bewiesen, daß die fremden Attrappen als ein selbstverständlicher Zubehör in das Leben einbezogen worden sind. Sie, deren mangelnde Transparenz auf der alten Photographie erfahren wird, haben sich mit den durchsichtigen Zügen früher unzertrennlich gemischt. Die schlimme Verbindung, die in der Photographie andauert, erweckt den Schauder. (…) Auch die Wiedergabe alter Schlager oder die Lektüre einst geschriebener Briefe beschwört wie das photographische Bildnis die zerfallene Einheit neu herauf. Die gespenstische Realität ist unerlöst. Sie besteht aus Teilen im Raum, deren Zusammenhang so wenig notwendig ist, daß man sich die Teile auch anders angeordnet denken könnte. Das hat einmal an uns gehaftet wie unsere Haut, und so haftet unser Eigentum noch heute uns an. Wir sind in nichts enthalten, und die Photographie sammelt Fragmente um ein Nichts. Als die Großmutter vor dem Objektiv stand, war sie für eine Sekunde in dem Raumkontinuum zugegen, das dem Objektiv sich anbot. Es fröstelt den Betrachter alter Photographien. Denn sie veranschaulichen nicht die Erkenntnis des Originals, sondern die räumliche Konfiguration eines Augenblicks; nicht der Mensch tritt in seiner Photographie heraus, sondern die Summe dessen, was von ihm abzuziehen ist.

Quelle Siegfried Kracauer: „Die Photographie“ (Seite 21 bis 40) in: „Das Ornament der Masse“ / Essays / suhrkamp taschenbuch Frankfurt am Main 1977 (1963)

Ein altes Foto, das nicht traurig macht (sondern?), aus dem Album meiner Mutter:

Lohe 1929 Zeppelin Lohe bei Bad Oeynhausen 1929

Und wo in den Vogesen gewesen?

In Bremendell, Obersteinbach, von dort in die Pfalz nach St. Martin und Rhodt, am Ende in den Dom zu Worms, 5.-7. September 

Worms Dom Fenster150906  Worms Dom Fenster 15-09-07

Worms Dom 15-09-07

Worms Dom Miniatur 15-09-07

Blatt mit Tropfen 15-09-07

Obersteinbach Chez Anton 15-09-06

Bremendell Idyll 15-09-05

Bremendell Felsen 15-0905

Pfalz Rhodt 150907

Pfalz St Martin Herbstlaub

Pfalz St Martin 15-09-06

Pfalz St Martin Hotel 15-09-06

(Fotos: E. Reichow)

Also: wo gewesen? Im südlichen Pfälzerwald und in den nördlichen Vogesen, in der Nähe von Ludwigswinkel (deutsch) oder Obersteinbach (französisch), traditionsreiches Hotel „Chez Anthon“ (4. Bild von oben), darunter Wohnwagen auf „La Bremendell“, nicht weit davon der „Luchsfelsen“. Anlass: Familienfest (Teile aus Solingen, Bonn, Mainz, Wiesbaden, Stuttgart). Weiter unten: Rhodt bei Regen in der Pfalz, ganz unten St. Martin, Hotel St. Martiner Castell.

Baktrien

Netze spinnen

Ich liebe es, Zusammenhänge zu erschließen, meinetwegen auch solche, die von Natur aus nicht gegeben sind, sondern nur für mich unter einer bestimmten Optik entstehen. Weil es sich besser einprägt. Zum Beispiel weiß ich, dass Maximilian Hendler, dessen neues Buch über additive Rhythmen neben mir liegt, heute von Istanbul nach Tadschikistan fliegt, das wiederum an Nord-Afghanistan grenzt, ein Thema, das mich mein Leben lang beschäftigen wird. Es ist das Gebiet des alten Baktriens, womit ich wieder einmal bei Alexander dem Großen bin und bei der altgriechischen Kultur, die mich seit der Schulzeit interessiert. In dem Text, den ich gleich zitieren werde, erscheinen die Namen Thrasybulos Georgiades, dessen Buch über „Schubert. Musik und Lyrik“ mir nachgeht, auch wenn ich mich gerade mit Hugo Wolf befasse, dann: Dietmar KORZENIEWSKI, dessen Buch über Griechische Metrik in den nächsten Tagen bei mir eintreffen wird. Das Altgriechische („Musik und Rhythmus bei den Griechen“) wird aufs Neue eine Rolle spielen. Kurz: ich verhalte mich zutiefst „unmodern“, mag es nirgendwo bei Bruchstücken bewenden lassen, möchte mich mit Charakteren beschäftigen, auch wenn ich weiß, dass jeder aus Bündeln von Personen bestehen könnte, die heute wenigstens in zwei- und dreifacher Ausfertigung auf die Bühne gestellt werden, zuweilen mit pantomimischer Sondersprache mitmischend und irritierend. Ich will das Globale – und das Komplexeste – aus heuristischen Gründen – einfacher, so einfach wie möglich. Sonst verstehe ich NICHTS. Und dieses Nichts zu bearbeiten ist lebenswichtig, auch in einer Zeit, in der man vorwiegend mit Todesgedanken konfrontiert wird.

ZITAT Hendler Seite 53

Bevor diese Fragen ins Auge gefasst werden [betr. die Formzahl 7 bei Tadschiken und benachbarten Völkern in Mittelasien], ist ein Blick auf die Arbeit „Musik und Rhythmus bei den Griechen“ von Thrasybulos GEORGIADES zu werfen. In ihr weist er nach, dass der epische Hexameter, in dem u.a. die homerischen Epen geschrieben sind, in musikalischer Umsetzung einer Fz 7 entspricht, indem die Länge (-) den Wert 3 und die Kürze (‚) den Wert 2 hat. Die Kürze wird hier hochgestellt, weil sie am Computer nicht anders zu haben ist. Da die homerischen Epen bei der Erziehung der griechischen Jugend eine Rolle spielten, muss ihre Kenntnis weit verbreitet gewesen sein. Wenn dazu die Ausführungen von KORZENIEWSKI genommen werden, der weder die zitierte Arbeit von Georgiades noch die additive Rhythmik kannte, wird dem Leser bewusst, dass in der altgriechischen Musik ähnliche Verhältnisse geherrscht haben müssen wie heute und ungerade Formzahlen vorhanden waren.

Wie auch immer – als König Philipp II. von Makedonien in Griechenland einmarschierte, traf er auf eine Bevölkerung, die mit den homerischen Epen aufgewachsen waren. Sein Sohn Alexander der Große nahm die waffenfähigen Männer Griechenlands mit auf seinem Feldzug gegen Persien. Nach dem Sieg über den Perserkönig Dareios III. im Jahr 330 vor Christi Geburt verleibte Alexander dessen Reich seinem Machtbereich ein, und dadurch wurde Baktrien, dessen Hauptstadt in der Nähe der heutigen Stadt Mazar-e Scharif in Nordafghanistan lag, die Nordostgrenze des Alexanderreichs. Wie wichtig Baktrien für Alexander war, geht u.a. daraus hervor, daß er eine baktrische Prinzessin heiratete. Auf sein Wirken ging es auch zurück, dass das Griechische bis Nordindien als Verkehrssprache galt.

Alexander gründete in Baktrien eine griechische Kolonie, die auch nach seinem Tod noch Zuzug aus dem Westen, d.h. aus Griechenland und Kleinasien und wahrscheinlich auch von den teilgräzisierten Makedoniern und Thrakern erhielt. In den kommenden zwei Jahrhunderten waren die baktrischen Griechen ein ernstzunehmender Faktor in Mittelasien und Nordwestindien. Vor allem in der bildenden Kunst ist ihre Wirkung gut belegt. In Ghandara hinterließen sie Zeugnisse ihrer Bildnerei, die ein lebhaftes Abbild des täglichen Lebens ergeben, und sie sind auch verantwortlich für die Entstehung der gräko-buddhistischen Kunst, welche die Figur des Buddha bis ins Mittelalter prägen sollte. Nichts deutet darauf hin, dass sie ausgerottet worden wären, sondern sie wurden in den ersten Jahrhunderten nach Christus assimiliert, und zwar von den Ahnen der heutigen Tadschiken (AUS DEM OSTEN). Die Musik hinterlässt im Gegensatz zur Skulptur keine Objekte, die der Archäologie zugänglich wären. Wenn jedoch die baktrischen Griechen in der bildenden Kunst eine derartige Wirkung entfalteten, besteht kein Grund zur Annahme, dass ihre Musik sang- und klanglos untergegangen wäre; und wenn bereits der homerische Hexameter musikalisch einer Fz 7 entsprach, woran nach der Lektüre von GEORGIADES nicht gezweifelt werden kann, dann ist ebenso in Betracht zu ziehen, dass die relativ hohe Frequenz der Fz 7 im Umkreis des alten Baktrien, mittelalterlich Balch, ein Erbe der Griechen ist, deren Ansiedlung durch Alexander initiiert wurde. In Anbetracht dieser Sachlage ist letztendlich griechische Herkunft der Fz 7 bei den Tadschiken nicht unwahrscheinlich, auch wenn sie zunächst weit hergeholt erscheint.

Quelle Maximilian Hendler: Atlas der additiven Rhythmik / Allitera Verlag München 2015

Heute morgen eingetroffen:

Griech Metrik Und er kannte Georgiades wohl doch: siehe Anm.1 Seite 3, allerdings erwähnt er ihn so beiläufig, als sei zu dem von jenem behandelten musikalischen Phänomen nichts weiter Erstaunliches zu vermerken. Und eine menschenfreundliche Vorwarnung ist durchaus angebracht: das Werk von Georgiades versteht auch der Laie mit einer gewissen Anstrengung, das Werk von Korzeniewski versteht nur, wer Altgriechisch fließend übersetzen kann oder alle Übersetzungen zur Hand hat. Ein Buch für Professoren und wirklich mit allen philologischen Wassern gewaschene Altphilologen. Im Vorwort steht: „Dieses Buch ist eine Einführung; es versucht mit möglichst wenig Voraussetzung zu erklären.“ Eine perfekte Irreführung! Ich flüchte mich auf den Weg der sinnlichen Anschauung, und kehre vielleicht erst über Georgiades noch einmal zu Korzeniewski zurück… vielleicht…

Afgh 1974 Balkh Stadtmauer kl  Afgh 1974 Balkh Feld & Mauern kl

Afgh 1974 Balkh Herde Hirt & Mauern Farb kl  Afgh 1974 Balkh Mauer Madadi Gallia kl

Die Stadtmauern des alten BALKH (Fotos: Jan Reichow 1974) und: ein Blick in den Bücherschrank – „Die geretteten Schätze / Afghanistan /  Die Sammlung des Nationalmuseums in Kabul“ 2010 in Bonn.

Gerettete Schätze Balkh a Gerettete Schätze Balkh b

Ich bin nicht sicher, ob dahinten jeweils dieselben Mauern zu sehen sind, die ich damals aufs Bild zu bannen suchte. Vielleicht sind sie hier längst restauriert worden:

Balkh Baktrien Katalog

Alexander der Große und die Öffnung der Welt / Asiens Kulturen im Wandel / Reiss-Engelhorn-Museen Band 36 Sonderausstellung 2009 ISBN 978-3-7954-2176-2 (Seite 157)

Das Buch von Georgiades „Musik und Rhythmus bei den Griechen / Zum Ursprung der abendländischen Musik“ (rororo rde 61) besitze ich seit 1960 – es gehörte zur Pflichtlektüre zu Beginn des Schulmusikstudiums -, aber jetzt beginne ich zu begreifen, was es bedeutet. Der Höhepunkt des Textes liegt dort (Seite 56 ff), wo es um den Zusammenhang des HOMERschen Hexameters mit einem bestimmten Reigentanz geht. Es hat keinen Sinn dort anzufangen und sich den Weg zu ersparen, aber es motiviert vielleicht, wenn man diesen Punkt kennt.

‚Syrtos‘ ist die einzige altgriechische Bezeichnung eines Tanzes, die im neugriechischen Volkstanz fortlebt. Weiterhin ist aufschlußreich, daß auch die Darstellung von Reigentänzen durch die antike Kunst eine auffallende Ähnlichkeit mit dem von den heutigen Syrtoi dargebotenen Bild zeigt. Außerdem könnte man an den delischen Geranos und an die Beschreibung dieses Tanzes bei HOMER im 18. Gesang der ‚Ilias‘ denken. Wenn man dies alles in Betracht zieht, erhält die Feststellung, daß die konkrete und konsequente Anwendung dieses Rhythmus von der altgriechischen Theorie für den heroischen Hexameter, also für den Rhythmus HOMERs in Anspruch genommen wird, eine überragende Bedeutung. Der Rhythmus HOMERs war im Altertum ebenso typisch, ebenso verbreitet wie heute der Rhythmus des Syrtos Kalamatianos. Und er war wie dieser ein Reigenrhythmus. Die Wichtigkeit der Identität des heutigen Rhythmus mit dem alten wird aber noch deutlicher, wenn man bedenkt, daß es sich nicht um irgendeinen Rhythmus handelt, den man, wie etwa den 4/4-Takt, überall in der Welt antrifft, sondern um eine höchst eigentümliche Gestalt.

Genau das ist der Grund, weshalb ich seine Gestalt (mit Maximilian Hendler) in der tadschikischen Musik Nordafghanistans wiederzufinden glaube und nun wieder die afghanischen Rhytmen mit der Formzahl 7 studiere, und endlich die immer wieder aufgegebenen Pläne umsetzen kann, die Melodie „Shah Kokojan“ und die des Farkhari-Liedes der Afghanistan-CD aus der World-Network-Reihe zu notieren, so dass es mir und vielen anderen (notenkundigen) Menschen einleuchtet. Sie werden auch verstehen, weshalb ich die Schritte des Kalamatianos studiere, wie auch immer sie mir bei youtube über den Weg tanzen:

Man sehe auch hier (sofern man dergleichen in adidas-Schuhen erträgt). Oder doch lieber in „klassisch“?  Es soll nur eine erste Vorstellung vermitteln und – aus meiner Sicht – die Georgiades-Lektüre etwas auflockern…

ZITAT Georgiades zum Rhythmus 3 + 2 + 2

Durch das Beharren auf ‚1‘, das aber, da es doch keine volle zweizeitige Länge ausfüllt, als etwas flüchtig empfunden wird, und das Weitertreiben auf ‚2‘ und ‚3‘ entsteht ein den Rhythmus und den Tanz kennzeichnendes Hin und Her, ein Spielen zwischen Stehenbleiben und Vorwärtsdrängen, ein eigentümliches Schweben. Wenn man diesen Reigen selbst tanzt, empfindet man das Federnde dieses Rhythmus und das doch statisch-lockere Nebeneinander der einzelnen Zählzeiten. Ein Hin und Her drückt sich auch durch die Schrittfolge im großen aus: mehrere Schritte vorwärts, dann ein Zögern und einige Schritte rückwärts.

Auch das Grundmotiv der Schritte entspricht den drei Zeiten: ein schwerer Schritt auf ‚1‘ – als Thesis – je ein leichterer (kleinerer) auf ‚2‘ und ‚3‘ – als Arsis. Eine ähnliche Schrittbewegung haben wir auch, von hier angeregt, für den Chorgesang PINDARS vorgeschlagen.

Quelle Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen / Zum Ursprung der abendländischen Musik“ (rororo rde 61) Rowohlt Hamburg 1958 (Seite 55)

Aus dem Handgelenk

Die eindrucksvollen Auftritte des Geigers Leonidas Kavakos könnten manchen jungen Violinspieler veranlassen, nicht nur den Ernst und die musikalische Intensität des genialen Griechen zum Vorbild zu nehmen, sondern auch zu vermuten, dass seine Technik in allen Details nachahmenswert ist. In der Tat: sie funktioniert und fügt sich zwanglos allen Absichten des Interpreten, soweit ich das beurteilen kann. Dennoch muss man wohl feststellen, dass die Bogenführung bzw. die Bewegung des rechten Arms und insbesondere die Herausstellung des rechten Handgelenks einer altertümlichen Lehre folgt, die vielleicht nicht ohne Grund von der Entwicklung des modernen Violinspiels aufgegeben wurde. Man kann das an verschiedensten Stellen nachlesen, aber viele Geiger lesen wenig, um keine wertvolle Übe-Zeit zu verlieren. Daher dieser Blogbeitrag. Der Unterschied fällt auf Anhieb ins Auge: links Leonidas Kavakos Quelle: youtube), rechts Christian Tetzlaff (Quelle: youtube), beide hervorragende Virtuosen und Musiker! Es geht hier nicht um ein Ausspielen des einen gegen den anderen, sondern allein um das rechte Handgelenk:

Kavakos Screenshot 2015-07-15 Tetzlaff Screenshot 2015-07-15 20.39.14

Ich kenne keinen Geiger, der das Handgelenk so anwinkelt und den Ellbogen so dicht am Körper hält wie Kavakos, – und erinnere mich an mein antiquarisch erworbenes Exemplar der Geläufigkeitsstudien von Schradieck, an deren Rand ein Lehrer geschrieben hatte: „Etwas unter dem Arm halten!“ Das war früher so üblich: der Ellbogen am Körper sollte die Hauptleistung ans Handgelenk delegieren. Auch eine historische Violinschule von 1913 illustriert das (Foto links oben), wobei die Position der Finger anders ist als bei Kavakos.

Violinschule ca 1913

Es ist offenbar die alte deutsche Praxis, die auch im Vorwort eines erhellenden Buches von Percival Hodgson im Jahre 1958 beschrieben wird, wenn auch auf Campagnoli bezogen:

Violin Bowing Motion Study x

Quelle Percival Hodgson: Motion Study and Violin Bowing / American String Teachers Association Urbana 1958 (Introduction S. IX)

Schon Carl Flesch beschrieb 1929 die verschiedenen Methoden der Bogenhaltung in seinem grundlegenden Werk „Die Kunst des Violinspiels“ sehr genau, und er bebilderte auch die von ihm abgelehnten Usancen, wie hier:

Flesch Foto

Er berief sich in seinen Ausführungen auf den Mediziner Friedrich Adolf Steinhausen und dessen Buch „Physiologie der Bogenführung auf den Streichinstrumenten“ (1903) und meinte:

Steinhausen war der erste Theoretiker, der die Kraftquellen als im Ober- und Unterarm lagernd erkannte und dem bis dahin maßlos überschätzten Handgelenk sowie den Fingern eine nur vermittelnde Rolle zugestand. Seine Ansicht hat sich nicht nur durch ihre zwingende Logik, sondern vor allem durch die Bestätigung in der praktischen Ausübung als richtig erwiesen.

Carl Flesch: Die Kunst des Violinspiels I. Band: Allgemeine und angewandte Technik. Verlag Ries & Erler Berlin 1978 (Seite 38)

Aber ganz so apodiktisch muss man es wohl doch nicht sehen, zumal wenn man beachtet, dass diese „zwingende Logik“ die eines Physiologen war, der selbst nur Hobbygeiger war, und dass der Berufsgeiger Flesch als Künstler (und Kollegenkritiker) durchaus nicht unanfechtbar war. Die verschiedenen Stile der Bogenführung haben – je nach individueller Prädisposition – vielleicht doch ganz unterschiedliche Vor- oder Nachteile. Der Vater „der“ russischen Geigenschule, Leopold Auer, selbst Schüler Joseph Joachims, schrieb in aller Vorsicht und eingestandener Subjektivität:

When I say that the hand should be lowered – or rather that the wrist should be allowed to drop when taking up the bow – and that as a consequence the fingers will fall into position on the stick naturally and of their own accord, I am expressing a personal opinion based on long experience. I myself have found that there can be no exact and unalterable rule laid down indicating which one or which onesd of the fingers shall in one way or another grasp and press the stick in order to secure a certain effect. Pages upon pages have been written on this question witzhout definitely answering it. I have found it a purely individual matter, based on physcal and mental laws which it is impossible to analyse or explain mathematically. Only as the result of repeated experiment can the individual player hope to discover the best way in which to employ his fingers to obtain the desired effect.

Joachim, Winiawski, Sarasate and others – every great violinist of the close of the last century – had each his own individual manner of holding the bow, since each one of tzhem had a differently shaped and proportioned arm, muscles and fingers. Joachim, for instance, held his bow with his second, third and fourth fingers (I except the thumb), with his first finger often in the air. Ysaye, on tzhe contrary, holds the bow with his first three fingers, with his little finger raised in the air. Sarasate used all his fingers on the stick, which did not prevent him from developing a free, singing tone and airy lightness in hies passagework. The single fact that can be positively established is that in producing their tone these gerat artists made exclusive use of wrist-pressure on the strings. (The arm must never be used for that purpose.) Yet which of the two, wrist-pressure oder finger-pressure, these masters emphasized at a given moment – which they used when they wished to lend a certain definite colour to a phrase, or to throw into the relief one or more notes which seemed worth while accenting – is a problem impossible of solution.

Incidentally, we may observe the same causes and the same effects in the bow technique of the virtuosi of the present time. They may have nothing in common either in talent or temperament, yet, notwithstanding this fact, each one of them will, according to his own individuality, produce a beautiful tone.

Quelle Leopold Auer: Violin Playing As I Teach It / Dover Publications, New York, 1980 (1921) ISBN 0-486-23917-9 (Seite 12 f.)

Eine wunderbare Passage, – sofern man auch im Violinspiel eine gewisse Toleranz gelten lassen will und die beiden ganz oben abgebildeten Violinisten nicht gegeneinander ausspielen will.

Man könnte Leonidas Kavakos, der bei Josef Gingold studiert hat, sogar an der Bogenhaltung seines berühmten Lehrers messen, dürfte aber nicht übersehen, dass dieser von physiologisch völlig anderer Statur ist und – nebenbei – auch wohl nie einen solchen Beethoven-Zyklus wie sein griechischer Schüler gespielt hat.

Gingold Screenshot 2015-07-15 20.58.02 Josef Gingold (Quelle)

Mag sein, dass Kavakos sein violinistisches Körper- und Fingerspitzengefühl noch am Griechischen Konservatorium entwickelt hat, bei Stelios Kafataris, vielleicht auch schon bei seinem Vater und im Kontakt mit der griechischen Volksmusik (siehe hier). Vielleicht sogar durch eigenes Denken und Arbeiten?

***

Wer von diesen technischen Aspekten des Violinspiels jetzt noch nicht genug hat, der lese getrost weiter auf den sehr instruktiven Blog-Seiten von Stefan Maus: Hier.

Nachtrag 11. April 2018

Ein schönes Beispiel aus der irischen Volksmusik: Der fabelhafte Fiddler Frankie Gavin spricht über Bogentechniken und empfiehlt u.a. die alte Methode, ein Buch unter den rechten Arm zu klemmen: siehe das instruktive Video HIER , zum Thema Bogenarm ab 8:11 bis 9:18 (Fazit: zu große Bewegungen nehmen dem Arm Energie).

Waheit pur: nicht von dieser Welt!

Revolution nach Lektüre von ZEIT und Brigitte?

Ich frage mich, wie konservativ ich eigentlich bin. Warum DIE ZEIT und welche Artikel? Voriges Mal so viele, dass das Blatt jetzt noch fast ungelesen (aber auf vielen Seiten angelesen) neben mir auf dem Schreibtisch liegt (als Aufgabe), heute nur dieser 1 Artikel (abgesehen von – ausgerechnet – Josef Joffes Kolumne über die MAGNA CHARTA = 800 Jahre): der Lyriker Uwe Kolb und sein Sohn, der Hip-Hopper oder Rapper Mach One. Den im Artikel erwähnten Rap Schweinegrippe gebe ich hier nicht zum Durchklicken (ist mir zu provokativ & wirklich zu „unanständig“), aber doch einen anderen, damit klar ist, wovon die Rede ist. (Auch die Kommentare lesen!)

HIER  https://www.youtube.com/watch?v=kEHntTg4ZS0

Mach One sagt:

Was die You-Tube-Klicks angeht, bin ich selbst überrascht. Der Song  Schweinegrippe, der ja wirklich Blödsinn ist, hat jetzt fast eine Million Aufrufe. ich stelle mir dann immer hundert Verrückte vor, die vor ihrem Computer sitzen und klicken und klicken und klicken.

 Und ich stelle mir einen Kontrast vor. Könnte man in Afrika so viele Klicks mit einer Provokation erzielen? Oder auch nur mit „Blödsinn“?

ZITAT

Me: What makes you unique?

JAY A: Diversity; Singing across different genre – R&B, Hip Hop, Afro Fusion and a different Rap style.

Me: I first knew you when I heard your song ‘On Me ft Amina’, before that, had you worked on any other projects that we probably would want to listen to?

JAY A: My first song was titled „Clap your Hands“, a hip hop track with Jamaican fusion.

Me: Man, how do you cope with all the love ladies show you, considering that you are in a relationship?

JAY A: That is what makes this industry very challenging, I have been able to strike a good balance between the two keeping it very professional.

Quelle: Hier

Ich komme darauf, weil mich ein Bildbericht in der Frauenzeitschrift Brigitte sehr bewegt hat, so dass ich mich via Internet wieder einmal in Kenya umgeschaut habe. Ich kam auf etwas ganz anderes, aber ich habe den Versuch gemacht habe, die Rechte für ein paar der motivierenden Fotos zu bekommen, um sie hier zu präsentieren. Noch hoffe ich: der Fotograf Sergio Ramazzotti antwortete unter schwierigsten Mail-Bedingungen aus Burundi.

Das heißt: die Foto-Serie Kenya zu dem folgenden Text:

Kenya – Bach to the future / An extraordinary music school inside Nairobi’s largest slum

Music, wrote Claude Lévi-Strauss, is „a machine to suppress time“. In Korogocho, one of Nairobi’s largest slums, since some time ago music has also helped to suppress space, to make people forget the squalor and violence, to heal the wounds of the soul, and in some cases to open a door toward a future which, for those born on the edge of the huge open dump that is the symbol of the slum, wasn’t even possible to dream of. Before 2008, in Korogocho no one had ever heard play a piece by Bach or Beethoven. That was the year when a young Kenyan decided to found a school of classical music for children and adolescents in the heart of the shantytown, right next to the dump site. Some of those children have now reached a place whose existence they didn’t even suspect – the Nairobi conservatory – and have before them a future as musicians. But even for the less talented, music is the only opportunity to suppress the time and space in which, in Korogocho, it is often too painful to live.

Text: Sergio Ramazzotti

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Eine Sache liegt mir noch auf dem Herzen: NGOMMA las ich dort oben auf dem Video, ein uraltes Wort, das ich aber zum ersten Mal mit zwei M geschrieben sehe. Es gibt mir Anlass, an den südafrikanischen (weißen) Musikethnologen zu erinnern, durch den ich das Wort überhaupt kennengelernt habe, – in einer Schrift, die sich an (schwarze) Afrikaner wendet. Und zwar mit eben diesem Begriff, der – offenbar weil jeder ihn kennt – in keiner Zeile des Buches erwähnt wird. NGOMA (Trommel).

Ngoma  Ngoma eine Art Vorwort

NGOMA An Introduction to Music for Southern Africans By Hugh Tracey / Longmans, Green & Co. London Cape Town New York / 1948

Rechts: Eine Art Vorwort vor dem Vorwort des Autors – fromme Wünsche eines Afrikaners 1945 „I do not mean to condemn foreign music at all but I am trying to advise my own people to reclaim our old music and to try to find ways in which we can improve it.“

***

26.06.2015 Inzwischen ist Sergio Ramazzoti wieder in seine Heimat zurückgekehrt und hat mir das Einverständnis zur Wiedergabe einiger Fotos gegeben. Ich kann mir keinen schöneren Kontrast vorstellen als diese Bilder, – sowohl zu der Einstellung eines deutschen Jugendlichen in Berlin, der mit seiner Instrumentalisierung des Internets jeder braven bürgerlichen Musiktradition Hohn spricht, ohne sie überhaupt in Betracht zu ziehen. Als auch zur puristischen Vision der Trennung fremder und eigener Musik. Und zu diesen Relikten westlicher Musikkultur, die in einer gottverlassenen, düsteren Region Afrikas für einen utopischen Hoffnungsschimmer sorgen und früher oder später etwas ganz Eigenes schaffen werden.

Fotos: „Courtesy of Sergio Ramazzotti/Parallelozero“

Ramazzotti Kenya Cello (bitte anklicken)

Ramazzotti e

Ramazzotti a

Ramazzotti d Geiger Kenya

ZITAT (Schwur eines Ghetto-Schülers)

Ich werde diese Violine lieben und beschützen,

als wäre sie mein eigener Sohn.

Fotos © Sergio Ramazzotti http://www.parallelozero.com/ Mit freundlicher Genehmigung für diesen Blog. Eine unvergleichliche Fundgrube: bitte schauen Sie weiter HIER !!!

Heidelberg in Farbe

Wie ich es liebe abzuschweifen

(frei und fern nach Joseph Vogl)

Heidelberg Hortus_Palatinus_und_Heidelberger_Schloss_von_Jacques_Fouquiere A 1620

Heidelberger_Schloss_von_Carl_Rottmann_1815 B 1815

Heidelberg_corr neu C 2006

Joseph Vogl beschäftigt sich im dritten Kapitel seines Buches mit „einem recht sprunghaften Gespräch“ am französischen Hofe um 1650, und zwar eine geschlagene Seite lang, um letztlich eine „beiläufig erzählte Anekdote“ (die zudem nicht auf Wahrheit beruht) für eine bestimmte Argumentation einzusetzen, die das Verhältnis der steinreichen Augsburger Fugger-Familie zum kaiserlichen Souverän kennzeichnet. (Man kann die Fakten bei Wikipedia, das Jahr 1519 betreffend, nachlesen.) Ich hake mich fest, weil ein Maler namens Jacques Fouquières erwähnt wird, den ein Gesprächsteilnehmer offenbar für einen Verwandten der reichen deutschen Familie Fugger („Fouckers“) hält, während er in Wirklichkeit einer armen flämischen Familie entstammt. Dies und vieles andere auf der Seite 24 bei Vogel hat nicht viel mit seinem Anliegen zu tun, bringt mich allerdings auf Abwege, die ich hier ansatzweise ausmünzen möchte. Auf dem berühmtesten Bild des genannten Malers  ist das Heidelberger Schloss zu sehen, und vor allem die untergegangenen Renaissance-Gärten… Ist davon bei Bredekamp* die Rede? … und schon lege ich das eine Buch zugusten des anderen beiseite. Die Macht der Kunst!

Quellen

A Hortus Palatinus und Heidelberger Schloss von Jacques Fouquières (1590/1591–1659); Kurpfälzisches Mueseum Heidelberg / Eigenes Werk, Immanuel Giel über Wikimedia Commons

Heidelberger Schloss von Carl Rottmann (1797-1850) 1815 / Immanuel Giel über Wikimedia Commons

C „Heidelberg corr“ von Christian Bienia. – Farbkorrektur von de:Bild:Heidelberg.jpg by Godewind 18:13, 1 January 2006 (UTC). Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons

*Bredekamp … Weshalb mich das alte Heidelberger Bild besonders interessiert? Mit der Garten-Symmetrie, dem geschwungenen Lauf des Flusses, der alterslosen Brücke (assoziierend die Kassettendecke in Schloss Kirchheim, dem Fuggerschloss bei Mindelheim, und danach diejenige der Trostburg im Eisacktal bei Villanders/Südtirol oder diejenige in Jever, die ich noch nicht gesehen habe, aber sehen muss.)

Weil ich etwa 1956 dank Daniela die Herrenhäuser Gärten in Hannover kennengelernt habe, ohne besondere Begeisterung (zugleich mit Haydns Sinfonie Nr. 102, B-dur und einem Wand-Gobelin über die Jagd) und am 21. März 2013 das Buch von Hans Bredekamp: Leibniz und die Revolution der Gartenkunst. Herrenhausen, Versailles und die Philosophie der Blätter. Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2012. Und darin das Kapitel über „Die Natürlichkeit der Geometrie“. Und einen Abglanz immer wieder im nahen Schlosspark von Benrath suche.

Bredekamp Inhalt

Philosophie der Blätter?

„Da kein Blatt dem andern gleicht, erkannte [Leibniz] in der scheinbar unendlichen Formenvielfalt des barocken Gartens die zutiefst individuelle Gestalt der Natur und die Freiheit des Individuellen schlechthin. So wird der Garten zum Laboratorium des Erkenntnisgewinns, und der Mensch, der sich darin bewegt, erfährt über die sinnliche Wahrnehmung – man denke an die Muschelformen in Pflanzen, Bauplastik und Wasserspielen – immer neue Denkanstöße.“

Und Bredekamp „sieht den Gedanken der Freiheit nicht wie üblich in den sanft geschwungenen Wegen des Landschaftsgartens verwirklicht, sondern in den komplexen Geometrien des Barockgartens. Hier findet sich die eigentliche Revolution!“

Und der leise Zweifel, der produktiv macht, wenn er mich in der eigenen „gartenähnlichen“ Halbwildnis überkommt.

Kein Überdruss an Klassik

Ja, es gibt einen Überdruss an Klassik. (Aber die Klassik, die zählt, befindet sich ganz woanders!)

Zu den unangenehmsten Medien-Musik-Erfahrungen befragt, würde ich – mit Blick auf die jüngste Zeit – ohne Zögern zwei nennen: den Film „Lernen von Lang Lang. Nachwuchspianist Matthias Hegemann“. Darf ich das als Irreführung eines Einzelnen und der Öffentlichkeit bezeichnen? Von Lang Lang ist nichts zu lernen.

Und die Doppelseite in der aktuellen ZEIT (29. April 2015 Seite 52f):

Das Maestro-Syndrom. Wenn die Berliner Philharmoniker am 11. Mai einen neuen Chefdirigenten wählen, werden die Grenzen zwischen Musik und Macht neu ausgelotet. Wer tritt in die Fußstapfen von Karajan, Abbado und Simon Rattle? Eine Reise zu den fünf wichtigsten Kandidaten / Von Christine Lemke-Matwey.

Ich möchte gar nicht alles abschreiben, was mich abschreckt, empfehle aber dringend, jede Zeile des langen langen Artikels nachzuschmecken, hier ein Appetizer:

Angeblich, sagen Studien, genügt Musik allein nicht mehr. Eine Musik, wie Jansons sie im Münchner Gasteig vor zwei Wochen gemacht hat, klug und ganz natürlich, indem er das Violinkonzert von Brahms (mit Frank Peter Zimmermann als Solisten) so interpretiert, als sei der alte Repertoire-Hase gerade frisch geschlachtet worden. Noch wenn die BR-Symphoniker sich in die unbelüfteten Nischen der Partitur zurückziehen, ins Räder- und Passagenwerk, bleibt man ihnen bebend auf der Spur. Diese Spannung, diese schwebenden Farben, diese Nuancen im Zwiegespräch mit der Solo-Stimme.

Vielleicht genügt genau das am Ende? In Amerika war Qualität allein noch nie das Argument. Boston, im Januar. Andris Nelsons, 36 Jahre alt und wie Jansons in Riga geboren, leitet eine Siebte Symphonie von Bruckner, vor der man auf die Knie sinken möchte: kein maskulines Quaderschieben à la Celibidache, sondern lichteste, hellste Prozessmusik …

Und wenn dann bei Gustavo Dudamel aus dem Gespräch mit der Weitgereisten statt der „avisierten 20 Minuten tête-à-tête 40 Minuten“ werden (toll!toll!toll!), „und erstaunlicherweise ist dann auch alles gesagt: zu Dvořáks Symphonie aus der Neuen Welt, die er gerade dirigiert, zu seinen Klangfantasien (‚Der Kern liegt im Espressivo‘) “ – nein danke, ich breche ab.

Ach, aber dies vielleicht noch:

Die Berliner Philharmoniker gelten als extrem selbstbewusst, ja notorisch arrogant. Die Arbeit mit ihnen, soll Rattle einmal gesagt haben, sei, als habe man Sex mit jemandem, den man partout nicht leiden könne.

Dafür hat er nun ab 2018 die britische Lady London Symphony Orchestra am Hals, womit er allerdings „von der ersten in die zweite Liga absteigt“.

Endlich beim Thema, darf ich verbal aussteigen aus dem Klassik-Karussell und auf den „Bad Blog of Musick“ verweisen, der zwei Tage vor der ZEIT schon mehr über die Nachfolge wusste. Schlagzeile: Absage! Franz Beckenbauer (113): “Ich bin zu alt für die Berliner Philharmoniker!” 

Mehr davon HIER.