Archiv der Kategorie: Verstreutes

Kein Überdruss an Klassik

Ja, es gibt einen Überdruss an Klassik. (Aber die Klassik, die zählt, befindet sich ganz woanders!)

Zu den unangenehmsten Medien-Musik-Erfahrungen befragt, würde ich – mit Blick auf die jüngste Zeit – ohne Zögern zwei nennen: den Film „Lernen von Lang Lang. Nachwuchspianist Matthias Hegemann“. Darf ich das als Irreführung eines Einzelnen und der Öffentlichkeit bezeichnen? Von Lang Lang ist nichts zu lernen.

Und die Doppelseite in der aktuellen ZEIT (29. April 2015 Seite 52f):

Das Maestro-Syndrom. Wenn die Berliner Philharmoniker am 11. Mai einen neuen Chefdirigenten wählen, werden die Grenzen zwischen Musik und Macht neu ausgelotet. Wer tritt in die Fußstapfen von Karajan, Abbado und Simon Rattle? Eine Reise zu den fünf wichtigsten Kandidaten / Von Christine Lemke-Matwey.

Ich möchte gar nicht alles abschreiben, was mich abschreckt, empfehle aber dringend, jede Zeile des langen langen Artikels nachzuschmecken, hier ein Appetizer:

Angeblich, sagen Studien, genügt Musik allein nicht mehr. Eine Musik, wie Jansons sie im Münchner Gasteig vor zwei Wochen gemacht hat, klug und ganz natürlich, indem er das Violinkonzert von Brahms (mit Frank Peter Zimmermann als Solisten) so interpretiert, als sei der alte Repertoire-Hase gerade frisch geschlachtet worden. Noch wenn die BR-Symphoniker sich in die unbelüfteten Nischen der Partitur zurückziehen, ins Räder- und Passagenwerk, bleibt man ihnen bebend auf der Spur. Diese Spannung, diese schwebenden Farben, diese Nuancen im Zwiegespräch mit der Solo-Stimme.

Vielleicht genügt genau das am Ende? In Amerika war Qualität allein noch nie das Argument. Boston, im Januar. Andris Nelsons, 36 Jahre alt und wie Jansons in Riga geboren, leitet eine Siebte Symphonie von Bruckner, vor der man auf die Knie sinken möchte: kein maskulines Quaderschieben à la Celibidache, sondern lichteste, hellste Prozessmusik …

Und wenn dann bei Gustavo Dudamel aus dem Gespräch mit der Weitgereisten statt der „avisierten 20 Minuten tête-à-tête 40 Minuten“ werden (toll!toll!toll!), „und erstaunlicherweise ist dann auch alles gesagt: zu Dvořáks Symphonie aus der Neuen Welt, die er gerade dirigiert, zu seinen Klangfantasien (‚Der Kern liegt im Espressivo‘) “ – nein danke, ich breche ab.

Ach, aber dies vielleicht noch:

Die Berliner Philharmoniker gelten als extrem selbstbewusst, ja notorisch arrogant. Die Arbeit mit ihnen, soll Rattle einmal gesagt haben, sei, als habe man Sex mit jemandem, den man partout nicht leiden könne.

Dafür hat er nun ab 2018 die britische Lady London Symphony Orchestra am Hals, womit er allerdings „von der ersten in die zweite Liga absteigt“.

Endlich beim Thema, darf ich verbal aussteigen aus dem Klassik-Karussell und auf den „Bad Blog of Musick“ verweisen, der zwei Tage vor der ZEIT schon mehr über die Nachfolge wusste. Schlagzeile: Absage! Franz Beckenbauer (113): “Ich bin zu alt für die Berliner Philharmoniker!” 

Mehr davon HIER.

Höchstes Glück der Erdenkinder…

… ist doch die … (nun?) … sei nun … (nein!) … sei nur …

Ja, „sei nur die Persönlichkeit“, so steht es da. Und zwar im Zeichen der Suleika. Aber wie kam ich heute nacht drauf? Heute Nacht? Weil ich vorm Einschlafen über Hamlet gelesen hatte. Und spottete noch, dass es wohl „Enkelkinder“ heißen müsste, frühmorgens vor Heiligabend, und „Persönlichkeit des Großvaters“. Erinnerte mich aber , dass ich Adornos „Glosse über Persönlichkeit“ Ende der 60er Jahre noch nach einer auf Tonband genommenen Radiosendung mit eigner Hand aufgeschrieben habe, von Anfang bis Ende, aber letztlich allein durch das Ende derart motiviert:

Wäre er ein richtiger Mensch, so wäre er nicht länger Persönlichkeit, aber auch nicht unter ihr, kein Reflexbündel sondern ein Drittes. Es blitzt auf in der Hölderlinschen Vision des Dichters: „Drum, so wandle nur wehrlos / Fort durchs Leben, und fürchte nichts!“

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Vielleicht erscheint diese geträumte Bildergeschichte im Nachhinein haltlos übertrieben, selbst mir, denn es ging vorerst nur um Hamlet (nein, zuerst über den Mohren von Venedig, nein, den „Mohren“ von Venedig). Wie kam ich in diesem Zusammenhang noch auf den Buchtitel „Wer bin ich und wenn ja wie viele“? Noch zu behandeln: Wie kam eigentlich Monteverdi in seiner Marienvesper auf „Nigra sum“? Wie schwarz ist Clorinda in seinem Combattimento? (Natürlich ist sie weiß! Aber das ist nicht selbstverständlich, sie musste von Tasso weiß gemacht werden.) Es gibt Arbeit! Lese- und Schreib-Arbeit.

Frank Günther zitiert einen Text von Jacob Burckhardt (1860) über die Renaissance, als man in Italien sämtliche Dinge dieser Welt objektiv betrachten lernt; wobei sich zugleich „mit voller Macht das Subjektive erhebt, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches.“ Und fügt hinzu:

In diesem alten Text schwingt selbstbewusster Jubel über das Geleistete und Erreichte: der Glaube an die unwiderruflichen Werte des abendländischen Individualismus. Sie gehören, wie ein fernsehtauglicher Mode-Philosoph kürzlich sagte, längst in die Mülltonne der Geschichte. Die Begriffe Identität und Individualität, unsere Ich-Konstitution, sind nicht zuletzt durch Performanz-Theorien und Neurophysiologie pulverisiert – sie sind Chimären: Ich ist ein anderer. Ich bin viele. Und die numerische Mehrheit der Weltbevölkerung hat sie nie nachvollzogen; sie sind eine westliche Erfindung ohne Nachfolge.

Quelle Frank Günther: Unser Shakespeare / dtv München 2014 ISBN 978-3-423-26001-5

Ich finde, dass der Satz von der Mülltonne nicht der bedeutendste ist, den „ein  fernsehtauglicher Mode-Philosoph“ hätte sagen können, aber für seinen Namen und für seinen wirklich bekanntesten Satz wäre wohl noch Platz gewesen. Denn wer sich auf diese neue Philosophie-Mode eingelassen hat, könnte gerade dadurch auch potentieller Leser dieses von Denis Scheck bei Markus Lanz dringend empfohlenen Shakespeare-Buches geworden sein. Und sich selbst als Individuum im Hamlet-Kapitel wiedererkannt haben.

ZITAT

Denn in ihm, in seinem Selbst, meint Hamlet, lebt etwas anderes, „was Schau weit übersteigt“. Was ist das, was da in ihm lebt?

Es ist eine Frage, mit der Hamlet sich, das ganze weitere Stück über, weit mehr beschäftigen wird als mit seinem Racheauftrag. Sie beschäftigt auch uns heute mehrals die zeitgenössischen Verstehenshorizonte und die religiös-metaphysischen Implikationen eines Königsmodes und des Rache-Konzeptes. Die Figur Hamlet gilt als der erste Mensch der Neuzeit auf der Bühne. Wie der Kulturhistoriker Jakob Burckhardt aufgezeigt hat, war die Renaissance die Geburtsstunde der Individualität. Im Hamlet beobachten wir die theatralische Darstellung der Geburtswehen, mit denen jenes neue Etwas in die abendländische Welt geboren wurde, dessen letzte Nachfahren wir Heutigen sind: Hamlet steht als Archetypus am Beginn der Geschichte unseres „Ich“.

Denn der Einzelne war nicht immer ein „Individuum“: Er war im Mittelalter Teil einer paternalistischen, strikt religiös ausgerichteten Gemeinschaft, einem domestizierenden Kollektiv aus Familie, Clan oder Volk, das für ihn eine vorgegebene Rolle bereithielt und deren Einhaltung die soziale Kontrolle der Gemeinschaft überwachte. Vom Einzelnen wurde die Ausfüllung dieser Rolle verlangt, aber nicht etwa zum Wohle seines Selbst, sondern im Dienst an Gott und Gemeinschaft. Auch die christliche Einzelseele war nur in Beziehung zu Gott gesehen, war dienend ausgerichtet auf den „Herrn“. Mit Misstrauen betrachtete man Abweichungen: Ein persönlicher „Stil“, eine eigene „Handschrift“, „Selbstverwirklichung“ war kein kulturelles Ideal – im Gegenteil: Der Abweichler erschien negativ als Störelement im konformen Ganzen.

Quelle (s.o.) Frank Günther: „Unser Shakespeare“ Seite 66 (oben: Seite 76)

Zur Geschichte von weiß und schwarz, zu Monteverdi und Tasso ein andermal.