Schlagwort-Archive: Varianten des Musikhörens

Mein Pfingsten TV

Sendungen, die ich von A-Z erlebt habe

Also: ohne etwas anderes nebenbei zu tun. Sendungen, die ich auch ein zweites Mal einschalten würde…

Tatsächlich bin ich in beide Sendungen „hineingeraten“ und konnte mich nicht wieder lösen. Warum? Es ist die größte Musik, die existiert, zudem in bestmöglicher Aufführung. Beim ersten Chor dachte ich noch: natürlich zu schnell, aber virtuos gesungen. Bei Beginn der Johannes-Passion alles klar, die Sprünge im Verlauf begannen mich zu interessieren, die Übergänge, die hinreißenden Rezitative des Solisten, der Bass, die sparsame, aber überzeugende Regie des Chores. (Meine Sondersituation: alle Passionen etc. hundertmal auf der Bühne oder im Publikum miterlebt. Sie altern nicht!) Nach Schlusschor (der Bogen schließt sich), wird der Einzel-Choral folgen? nein – es geht weiter – warum, wohin? Übrigens: diese Bass-Arie mit den Einwürfen des Chores – unglaublich gelungen! Und ich habe den Sänger nicht erkannt: auf unserer Tournee mit dem Weihnachtsoratorium mit den Tölzern war er es, der erstmals als Bass einsprang, damals, als Quasthoff wegen Erkältung aufgeben musste: Christian Immler ! Aber wer ist der Rezitativ-Sänger? „Und ging hinaus und weinete bitterlich“, wer kann soetwas so? Mit dem Vater des Tenors habe ich schon gemeinsam Bach-Kantaten in Köln aufgeführt, als er noch ganz unbekannt war: Christoph Prégardien (später sein unvergesslicher „Atlas“ unter den Schiller-Liedern, auch „Schöne Welt, wo bist du?“), hier der fabelhafte Sohn als Evangelist. Die Stimme kenne ich doch seit 10 Jahren … und erkenne ihn nicht, wenn er dasteht.

Pfingstsonntag 28. Mai 17.00-18.25 Uhr

https://www.arte.tv/de/videos/107814-002-A/christus-sakrale-trilogie/  HIER abrufbar bis 24.08.24

Programm

Anonymus: Choral „O Traurigkeit, O Herzeleid!“
Johann Sebastian Bach: Teil I der „Johannespassion“, BWV 245
Johann Sebastian Bach: „Sehet, wir gehʼn hinauf gen Jerusalem“, BWV 159 (Auswahl)
Johann Sebastian Bach: Teil II der „Johannespassion“, BWV 245

Das Konzert wurde am 25. Februar 2022 im Auditorium von Bordeaux aufgezeichnet

TV-Text (den ich nicht kannte)

Johann Sebastian Bachs Kompositionen zum Leben Jesu gehören zu den herausragendsten Stücken der westlichen Musikliteratur. Die in ihnen enthaltene Botschaft von Menschlichkeit, Hoffnung und Licht kommt im Rahmen dieser originellen Programm-Idee besonders schön zum Ausdruck.

Raphaël Pichon und sein Ensemble werden bei diesem ebenso musikalischen wie humanistischen Vorhaben von sechs Sängern unterstützt: Julian Prégardien (Evangelist), Huw Montague-Rendall (Jesus, Bariton), Ying Fang (Sopran), Paul-Antoine Benos-Djian (Countertenor), Laurence Kilsby (Tenor) und Christian Immler (Bass). In dieser Begleitung erklimmen der Chor und das Orchester Pygmalion geradezu himmlische Höhen.

Pfingstmontag 29. Mai 17.05 – 18.00 Uhr

17.05 aus Nürnberg – es war Radio, aber ich habs über TV-Kanal erwischt…

https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/meret-luethi-interpretiert-biber-das-mysterium-der-mysterien-sonaten-100.html HIER 

Hätte ich den folgenden Text vorher gelesen, hätte ich die Sendung nicht ernsthaft angehört. An einer frommen Feier mit Geige lag mir nichts. Liegt mir nichts. Aber Meret Lüthi hat was zu sagen… z.B. über ihre Stainer-Geige und den Erbauer. Oder eben :

hier

Was hat sie erzählt über den Choral „Surrexit Christus hodie“? Stundenlang in alten Gesangbüchern der Bibliothek Bern danach gesucht? Konnte Biber, obwohl Katholik, ihn nicht schon bei Samuel Scheidt oder Zeitgenossen studieren, wenn auch etwas flotter? (hier)

(Fortsetzung folgt)

Nebenbemerkung: Sonntag nach Mitternacht gerieten wir in einen „Tristan“ aus Aix-en-Provence, eine Zumutung schon während des Vorspiels. Ich brauche keine Illusion, möchte aber auch kein ausnehmend korpulentes Liebespaar in einem großbürgerlichen Wohnzimmer samt Ausblick auf das wogende Meer erleben. Ich höre dann nicht gut, obwohl wissend, dass ich dazu doch die erstaunlichsten, verzehrendsten Klänge des 19. Jahrhunderts wahrnehme, für wahr nehme, man muss mir dazu keine parallel verlaufende tiefenpsychologisch kritische Perspektive in Szene setzen.

Hörigkeit

„Das ernste Musikhören“

[Im folgenden Original-Text habe ich im Sinne besserer Lesbarkeit Anmerkungen und Quellenhinweise weggelassen. JR]

ZITAT

Das ernste Musikhören, als Teil der „bourgeois experience“ (Peter Gay) drückt sich theoretisch als ein Diskurs der Hörigkeit, des „Hinnehmens“ gegenüber organischen aber eventuell unverständlichen Gebilden aus, in deren Struktur der Hörer eindringen soll. Es wird im 19. Jahrhundert oft von deutschen Autoren thematisiert und von ihnen auch als deutsches Hören verstanden. Man mag hier an Eduard Hanslicks Ausfälle gegen die Fans italienischer Opern denken – „Halbwach in ihren Fauteuil geschmiegt, lassen jene Enthusiasten von den Schwingungen der Töne sich tragen und schaukeln, statt sie scharfen Blickes zu betrachten“ – oder auch an Schenkers „Fernhören“, das über dem Werk steht und dieses nicht wie das Durchqueren einer Landschaft erfährt, sondern wie das Ablesen einer Landkarte:

Was aber im Hören eines Kunstwerkes der höchste Triumph, die stolzeste Wonne ist, ist, das Ohr gleichsam zur Macht des Auges zu erheben, zu steigern. Man denke an eine Landschaft, eine weite und schöne, von Bergen und Hügeln umrahmt, Felder und Wiesen und Wälder und Bäche […]. Und nun besteige man einen Ort, der mit Einem die gesammte Landschaft dem Blick erschließt: Wie sich da fröhlich und winzig die Wege und Flüsse und Alles, das lebt und nicht lebt, kreuzen, dem schweifenden Blick überblickbar! So gibt es auch, über dem Kunstwerk hoch irgendwo gelegen, einen Punkt, von dem aus der Geist das Kunstwerk, all‘ seine Wege und Ziele, das Verweilen und Stürmen, alle Mannigfaltigkeit und Begrenztheit, alle Maße und ihre Verhältnisse deutlich überblickt, überhört. [Heinrich Schenker]

Der Diskurs der Hörigkeit war von Richard Wagner in einer Weise modifiziert worden, die am Ende des 19. Jahrhundert zu einer neuen, charakteristischen Konstellation des Hörens beitragen sollte. In seinen theoretischen Ausführungen eignet sich Wagner das Thema der Hörigkeit an, für das er sogar einen eigenen Ort, das Bayreuther Theater, erschafft. Sein Feindbild ist, ganz wie bei Hanslick, das zerstreute Hören der italienischen Oper; im Gegensatz zu Hanslick jedoch stellt Wagner eine Theorie des physiologischen Effekts der Klänge auf, die er von der Kategorie des Erhabenen ableitet. Was an Struktur (in der Behandlung des Orchesters, in der thematischen Durchführungs- und Abwandlungsarbeit) in seiner Musik erfahrbar ist, wird von dem Hörtheoretiker Wagner zurückgestellt oder unerwähnt gelassen: Der von ihm eingeleitete Diskurs des Wagnerismus erhebt die konzentrierte Klangerfahrung zur Norm. Das Gewebe der Leitmotive wird mit den Stimmen verglichen, die in einem stillen Wald erklingen – das Musikdrama wird zur „Waldesmelodie“.

ZITAT-Ende

Quelle Martin Kaltenecker: Zu einer Diskussionsgeschichte des musikalischen Hörens / Seite 35f / in: KLANGREDEN rombach verlag / Klaus Aringer, Franz Karl Praßl, Peter Revers, Christian Utz (Hg.) Geschichte und Gegenwart des musikalischen Hörens Diskurse – Geschichte(n) – Poetiken / Rombach Verlag Freiburg i.Brsg./Berlin/Wien/ 2017 / ISBN 978-3-7930-9878-2

Quelle des Zitates im Zitat: Heinrich Schenker, Das Hören in der Musik [1894], in: Heinrich Schenker als Essayist und Kritiker. Gesammelte Aufsätze, Rezensionen und Berichte aus den Jahren 1881-1901, hg. von Hellmut Federhofer, Hildesheim: Olms 1990, S. 96-03, hier S.103

Siehe zur Thematik in diesem Blog auch die Artikel „Form und Fernhören“ und „Peter Szendy!“ .

Weitere Leseempfehlung: Hier (Martin Kaltenecker).

Was ist „akusmatische Musik“? Siehe Wikipedia hier.

Nachwort

Als ich gestern diesen Artikel – eigentlich ein Merkzettel – beiseitegelegt hatte und nach einer Weile aufs neue las, hatte ich das Gefühl, dass ein Ausblick fehlte, über das hinaus, was in den abschließenden Links gegeben war. Etwas Irritierendes oder sogar Befremdendes. Nichts Akusmatisches. Oder gerade doch?

HIER Die indische Sängerin Kaushiki Chakraborty mit dem Raga Shudh Sarang auf Youtube (All Rights Reserved ©2015 Darbar Arts Culture Heritage Trust)

Was ist denn da „zu verstehen“? Die Struktur oder „die gesammte Landschaft“?

Auszug aus „The Raga Guide“ von Nimbus Records, Rotterdam 1999 (editor Joep Bor):