Krasses Denken

Kürzlich hörte ich den folgenden Spruch, der aus dem Mund einer Schülerin stammen soll:

„Denken ist wie Googeln, nur krasser!“

Wunderbar. Zum Denken gehört die Überprüfung des Wahrheitsgehaltes (durchaus naiv, also ohne Vorschaltung der relativistischen Pilatus-Frage „Was ist Wahrheit?“). Es gibt Regeln dafür.

Ein Beispiel: beim Nachtisch – Früchte wie Pflaumen, Ananas, Apfel, Mango – erzählt man mir, es gebe einen neuen Trend: nur das zu essen, was der eigenen Blutgruppe entspricht. Wie bitte? Ein Trend? Nein, eine Theorie! Die Blutgruppe gebe Auskunft über die Herkunft der Ahnen, ob heimisch in Ackerbaukulturen, bei Nomadenvölkern, unter Waldbewohnern, Früchtesammlern, ich weiß nicht was. Und nur das dürfe man essen, was zu diesem Ursprung passt. Ich frage nach Beweisen dafür, dass es da eine reale Korrelation gebe. Wissenschaftliche Untersuchungen. Welche? Wieviele? Vertrauenswürdige? Schon überprüfte? Mein vorläufiger Einwand: ist es nicht eine Art neuer Rassismus? Hat damit nichts zu tun, ist erfolgreich, hat sich als Diät bewährt. Aha, da ist das Stichwort. Vielleicht kann ich doch – statt krass zu denken oder gar aus Prinzip zu zweifeln – erstmal googeln? Stichwort: Blutgruppen-Diät. Schon liest man in den ersten 3 Angaben dreimal den Namen Peter D’Adamo. Schon ist klar: nicht d i e Wissenschaft steht dahinter, sondern eine einzelne Person. Eine erfolgreiche zweifellos, der Mann hat immerhin für einen Trend gesorgt, der nun zum Nachtisch passt. Der erste Google-Treffer führt jedoch zu einem Artikel des Stern, – und welche Erfahrungen man auch immer mit dieser Zeitschrift gemacht hat: wenn der Wahrheitsgehalt eines verbreiteten Trends schon beim ersten prüfenden Blick in Zweifel gezogen wird, hat man ein Indiz, dass ernsthafter Widerspruch, zumindest eine Beachtung aller Gegenargumente angeraten ist. Nun fehlt auf der anderen Seite nur noch ein Appell des Glaubens, eine Anmahnung positiven Denkens, dann weiß man, was von Blutgruppen zu halten ist. Und eins ist ohnehin klar: sobald zum Beweis Einzelfälle aufgezählt werden (spektakuläre Heilungen, wunderähnliche Wirkungen, statistisch gestützte Einzel-Erfahrungen), rechnet man die Angelegenheit lieber zum allgegenwärtigen Gedankenmüll. Klar ist auch: Ich kann nicht alles widerlegen, was an Unsinn erzählt wird.

Kinder, googelt besser und denkt trotzdem nach!

Durch Googeln erfährt man z.B., wie Bernhard Hoecker kürzlich anmerkte, dass Erdbeeren keine Beeren sind, sondern zu den Nüssen gehören. Er hat recht, denn das ist nachprüfbar, wenn auch nicht mit einer Erdbeere im Mund, sondern in einem Artikel. Verschwiegen wird aber meist, dass mit ebenso gutem Grund die Banane zu den Beeren gezählt wird. Und jetzt wird ernstlich unser Denken herausgefordert. Was bedeutet solche Zuordnung, – nennen wir sie: Korrelation -, in der Wissenschaft, was im täglichen Leben?

Ohne direkten Zusammenhang lasse ich Sätze des Berliner Philosophen Byung-Chul Han folgen (nehmen wir „Big Data“ in diesem Zitat für „google“):

Big Data suggeriert ein absolutes Wissen. Alles ist messbar und quantifizierbar. Dinge verraten ihre geheimen Korrelationen, die bisher verborgen waren. Genau voraussagbar soll auch das menschliche Verhalten werden. Es wird eine neue Ära des Wissens verkündet. Korrelationen ersetzen Kausalität. Es-ist-so ersetzt Wieso. Die datengetriebene Quantifizierung der Wirklichkeit vertreibt den Geist ganz aus dem Wissen.

Hegel, diesem Philosophen des Geistes, würde das All-Wissen, das Big Data verspricht, als absolutes Un-Wissen erscheinen. Hegels Logik lässt sich als Logik des Wissens lesen. Demnach astellt die Korrelation die primitivste Stufe des Wissens dar. Eine starke Korrelation zwischen A und B besagt: Wenn A sich verändert, findet eine Veränderung auch bei B statt. Bei der Korrelation weiß man nicht, warum es sich so verhält. Es ist einfach so. Die Korrelation ist eine Beziehung der Wahrscheinlichkeit und nicht der Notwendigkeit. Sie lautet: A findet oft zusammen mit B statt. Darin unterscheidet sich die Korrelation vom Kausalverhältnis. Die Notwendigkeit zeichnet es aus: A verursacht B.

Die Kausalität ist nicht die höchste Wissenstufe. Die Wechselwirkung stellt ein komplexeres Verhältnis als das Kausal verhältnis dar. Sie besagt: A und B bedingen einander. Zwischen A und B besteht ein notwendiger Zusammenhang. Aber selbst auf der Stufe der Wechselwirkung ist der Zusammenhang zwischen A und  noch nicht begriffen: „Bleibt man dabei stehen, einen gegebenen Inhalt bloß unter dem Gesichtspunkt der Wechselwirkung zu betrachten, so ist die in der Tat ein durchaus begriffsloses Verhalten.“ [Hegel]

Erst der „Begriff“ generiert das Wissen. er ist C, das A und B in sich begreift und durch das A und B begriffen werden. Er ist der höhere Zusammenhang, der A und B umfasst und aus dem heraus sich das Verhältnis von A und B begründen lässt. So sind A und B die „Momente eines Dritten, Höheren“.

Quelle Byung-Chul Han: Psychopolitik / Neoliberalismus und die neuen Machttechniken / S. Fischer Wissenschaft Frankfurt am Main 2014 (Seite 92 f.)

Ein letzter Themenwechsel dient dazu, alles wieder unserer geliebten Realität anzunähern: vielleicht bildet sich doch ein geheimer Zusammenhang.

Im Editorial der Zeitschrift NATUR erinnert sich Chefredakteur Sebastian Jützi an sein Biologiestudium in den 80er Jahren; damals funktionierten GENE nach dem Jacob-Monod-Modell:

Demnach waren Gene aus verschiedenen Teilen der Erbsubstanz aufgebaut und besaßen vorgeschaltete Regulationselemente. Im Falle einer Aktivierung sollte dann die Erbinformation ausgelesen und über einen komplizierten Mechanismus in Proteine übertragen werden. Ein grundlegender Mechanismus in der Steuerung unseres Genoms.

Heute weiß man deutlich mehr: Unser Genom, wie das aller Lebewesen, ist ein kaum vorstellbar komplexes Geflecht. Auf zahlreichen Ebenen unterliegt es einem Gefüge aus Regulationsmechanismen, die über Wirkung und Gegenwirkung bestimmen, ob und wie stark ein Gen aktiv ist und seine Information in Eiweiße umgesetzt wird.

Es handelt sich, so Jützi, um „grundlegende Vorgänge, die jedes Lebewesen und damit letztlich auch deren Zusammenleben in einem Ökosystem prägen. Dieser Wissenszuwachs verdeutlicht uns aber auch: Absolute Wahrheiten sind selten.“ Sein Editorial zielt letztlich auf die sogenannte „Grüne Gentechnik“. ZITAT:

Die Gegner warnen unter anderem vor unkalkulierbaren Folgen dieser Technologie, wenn sie im Freiland angewendet wird, und vor Monopolstellungen weniger Konzerne, die die grüne Gentechnik entwickeln.

Wie auch immer man diese Argumente gewichtet, hinter ihnen verschwindet meist eine simple Tatsache. Komplexe Merkmale, wie der Ertrag einer Getreidesorte – also ihre Leistungsfähigkeit -, werden fast nie von nur einem einzelnen Gen bestimmt, sondern von einer Vielzahl von Genen und Regulationsmechanismen. Über Jahrzehnte und Jahrhunderte haben Züchter diese Erkenntnis angewandt und immer leistungsfähigere Getreidesorten entwickelt – ganz ohne Gentechnik. Die so entwickelte Vielfalt hat uns bislang meist gut ernährt und wir könnten damit die gesamte Weltbevölkerung satt bekommen, wenn wir die Nahrungsmittel nur besser verteilen würden. Das wissen wir. Was wir (noch) nicht wissen, ist, wie sich die Grüne Gentechnik in Ökosystemen entwickelt und welche Auswirkungen sie letztlich auf uns hat. Deshalb sollten wir mit ihrer Anwendung zurückhaltend sein. Meine Genetik-Lehrbücher sind in ihrer aktuellen Fassung längst umgeschrieben. Ökosysteme lassen sich dagegen niemals umschreiben.

Quelle natur Das Magazin für Natur, Umwelt und besseres Leben. 09/15 Seite 3 Sebastian Jützi: Editorial / Mehr Wissen. (Hervorhebungen in rot: JR)

Wie fängt Rassismus an?

Gibt es an und in dem andern irgendetwas, was er nicht ändern kann und was ich (ja sicher … nur wenn ich will) gegen ihn auslegen kann? Hinsichtlich der Herkunft, Hautfarbe, der Händigkeit (links oder rechts), der Form des Halbmonds auf der Fingerkuppe, der Blutgruppe.

Einen datierbaren Anfang gab es wohl 1492 in Spanien: als man Gründe suchte, auch die getauften Juden und Moslems auszusortieren. Da genügte die Religion nicht mehr. (JR)