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Chromatische Irritationen bei Chopin

Sinnlose Fragen zur Etüde op. 25 Nr. 6

Man kann sich an dieser phantastischen Etüde (gerade im langsamen Tempo) begeistern, die Reibungen und Querstände genießen, die Unabhängigkeit der chromatischen Girlanden über den links vorgegebenen Akkordpunkten, und man kann in jeder Zeile kindliche Warum-Fragen stellen. Warum nicht? Es ist eine schöne Übung, darauf kindliche Antworten zu finden. (Ich nutze aber den Vorteil des Notenschreibens.)

Das Abbremsen der chromatischen Abwärtsfahrt

Chopin Chromatik Ende  Chopin Chrom Ende JR

Der leere Klang als Ziel

Chopin Chromatik Ende leer  Chopin Ende leer x  56/57 & 52/53                                 Vorschlag zur Verschlimmbesserung

Geballte Parallelen

Chopin Chromatik Parallelen  Chopin Parallelen rot falscher Fehler…

Chromatik als Aufhebung harmonischer Logik

Wieviel Töne der chromatischen Girlande passen zum Akkord? Im Grunde muss nur der Ausgangspunkt und der Zielpunkt zum Bass passen, in Takt 8 ergibt der Basston mit der Terz h/dis der rechten Hand die gis-moll-Tonika. Und dass dieselbe Terz im nächsten Takt erst auf der Zählzeit 2 erreicht wird, während die linke Hand den Tonika-Dreiklang bereits auf der 1 anschlägt, wird als reizvolle Schwerpunkt-Differenz empfunden.

Takt 7: Ganzton- oder Halbtontriller? siehe dazu die Diskussion im Forum CLAVIO

Ich glaube, dass hier das letzte Vorzeichen (ais) außer Kraft gesetzt ist, also ein „a“ gespielt werden muss. Nirgendwo in der Etüde gibt es einen Terzen-Triller, bei dem das Intervall zwischen der unteren Note und der oberen mehr als eine reine Quarte umfasst. (Abgesehen von der kleinen Ausnahmestelle in der Mitte der Takte 52 und 56.) Mein Argument ist also nicht identisch mit dem, das im Revisionsbericht steht. Ich höre die Stelle als cis-moll, obwohl es sich (auch) um die Unterdominante von gis-moll handelt; aber das „a“ in der linken Hand ist ganz sicher nicht als „Überraschung“ einzuschätzen.

Chopin gis Komm

Sehr schön ist die Bemerkung zu den Quintenparallelen („denn jene klingt monoton“), zumal wenn man an die schon oben erwähnte Quinten- plus Oktavenparallele denkt. Die Autonomie der Stimmen in ihren Einzelschritten liegt hier überhaupt nicht im Focus der Aufmerksamkeit.

Der Revisionsbericht meiner Paderewski-Ausgabe (Polnischer Musikverlag 1956) stammt von Ludwig Bronarski und Josef Turkzynski.

Übrigens: auch der oben erwähnte „leere Klang“ ist keine Notlösung, sondern ein wunderbarer Einfall! Die Klarheit, die der seltsam gezwirbelten plagalen Kadenz folgt!

Nachtrag 21.08.15

Irrtum: es ist keine „Quinten- plus Oktavenparallele“, nur Quinten und Terzen parallel. Wenn man aber das andere sucht, auch dafür gibt es eine schöne Stelle (Etüde op. 25 Nr.8):

Chopin Quinten & Oktaven

Natürlich ist das besonders reizvoll, ein Hauch Impressionismus. – Ich erinnere mich an den ersten Harmonielehreunterricht bei meinem Vater, der mir also beigebracht hatte, dass man Oktav- und Quintparallelen zu vermeiden hat. Und wie ich ihm mit verhaltener List zeigte, dass in einer Partitur von Johann Christian Bach am Anfang alle Instrumente in Oktaven spielen (unisono!). Die Regel der verbotenen Oktaven und Quinten gilt nur im „strengen Satz“, sagte er. Weil sonst die Vierstimmigkeit aufgehoben ist, die beiden parallel geführten Stimmen verschmelzen „aus Versehen“. Im Anfang dieser Partitur sollen sie aber alle sozusagen mit einer Stimme sprechen. Sobald es um den „Effekt“ der Parallelen geht oder um die besondere Klangfarbe, sind sie natürlich erlaubt. An der Hochschule in Köln, wo Theorie u.a. von  Heinrich Lemacher und Hermann Schroeder unterrichtet wurde, deren Kompositionsstil man im Schatten Stockhausens und und B.A. Zimmermanns gern bespöttelte, wusste um 1960 jeder, wer mit den Spitznamen „Quinten-Heinrich“ und „Quarten-Hermann“ gemeint war. Natürlich galten in ihrem Theorie(!)-Unterricht dieselben Regeln des „strengen Satzes“ wie anderswo.

Geläufigkeit – wozu?

Op. 135 – das klingt nach Beethovenscher Produktivität. Carl Czerny, der Liszt-Lehrer und Beethoven-Schüler, der das Zeitalter der pianistischen Mechanisierung einläutete, ging allen voran in der angeblich leeren, lehrenden Produktivität; sein op.740 – „Die Kunst der Fingerfertigkeit“ – wird heute noch im Unterricht verwendet, ein frühes Werk, op. 299, hieß „Schule der Geläufigkeit“. Von Nietzsche, der mittelmäßig Klavier spielte, stammt der böse Spruch „Liszt: oder die Schule der Geläufigkeit – nach Weibern“ (in: Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen). Die Geiger standen nicht zurück, der unvermeidliche Otakar Ševčík allerdings schrieb kein Werk des geläufigen Titels. Wer seiner zahllosen Übungen überdrüssig war, mochte sich aufs neue an dem Büchlein „Wie übt man Ševčíks Meisterwerke“ von Prof. A. Mingotti orientieren.

Natürlich klingen schon die Worte Fingerfertigkeit und Geläufigkeit nach Czerny-Serienproduktion und ideologisierter Oberflächlichkeit, Grete Wehmeyer hatte mit ihrer Polemik ein leichtes Spiel (1983). Und trotzdem wird kein Musiker sagen: auf all dies kommt es nicht an, entscheidend ist die „Aussage“. Wie will man denn etwas aussagen, wenn man stockt und stolpert?

GeläufigkeitSitt Stark beanspruchte Geigennoten.

Mein Geigenlehrer Prof. Hans Raderschatt (ab 1956) eröffnete mir damit etwas Neues: die Finger der linken Hand sollen aufs Griffbrett „klopfen“, locker sehr wohl, aber nicht lasch landen oder quasi nur tangieren. Man muss dies gut unterscheiden von dem, was die Finger auf dem Klavier tun (s.u.).

CD Geläufigkeit CD 1990 www.brilliantclassics.com

CD Geläufigkeit TEXT Czerny CD Text von Clemens Romijn

Igor Strawinsky:

Zunächst galt es nun, meine Finger und Gelenke gelenkig zu machen; ich spielte daher eine Reihe Etüden von Czerny. Das half mir sehr, und außerdem bereitete es mir einen wahren musikalischen Genuß. Ich habe an Czerny immer den blutvollen Musiker noch höher geschätzt als den bedeutenden Pädagogen.

Quelle Igor Strawinsky: leben und werk von ihm selbst Atlantis-Verlag Zürich und B. Schott’s Söhne Mainz 1957 (Seite 109)

Mein Anlass zum Thema:

Chopin Prélude G-dur

Ich weiß, in welcher irrwitzigen Geschwindigkeit die Sechzehntel der linken Hand gespielt werden: das ist keineswegs ein Anreiz für mich, es nun auch zu versuchen. Schwer zu erklären, wodurch dieses Stück unwiderstehlich wird, aber leicht zu zeigen: der übernächste Takt ist es, der in mir die Lust weckt, an diesem Stück, das wie eine Schwalbe vorüberhuscht, nun auch die Aufgabe der Geläufigkeit anzugehen. (Bei Bach, sagen wir dem Choralvorspiel „Nun freut euch, liebe Christeng’mein“ ,  hätte es keiner Überredung bedurft.) Hier der eigentliche Lust-Faktor:

Chopin Prélude G-dur f

Warum? In der Balance, – der zweite Takt hier ist „zuviel“: man könnte die Melodie in der zweiten Hälfte des ersten Taktes (es ist der 10. des Préludes) auf Fis“ wechseln lassen und den nächsten Takt überspringen (bzw. das Auftaktsechzehntel noch einfügen), – die Reprise käme „korrekt“ und die Balance wäre gewahrt. Der Lust-Faktor jedoch (Verzeihung!) besteht genau in diesem „Zuviel“ des Taktes 11 und in der Terz c“/e“, die natürlich einfach erklärt ist: Bestandteil des Dominantseptnonakkordes. Aber nichts ist erklärt, es ist ein hinreißendes, lebensprühendes Intervall, Motiv genug, mich an den Sechzehntelketten abzuarbeiten, bis sie leichter sind. (Was ist schwer daran? Sie liegen doch gut in der Hand. Schwer sind die Sprünge des kleinen Fingers in die wechselnden Lagen.)

Ein weiterer Lust-Faktor (in der zweiten Hälfte): nach 6 Takten G-dur-Girlanden in der linken Hand folgen 6 Takte auf der Basis C, ABER: im 5. Takt tritt an die Stelle des F in der C-dur-Figur ein Fis, eine lydische Färbung, die eine ungemein elektrisierende Wirkung hat, bevor der Wechsel zum dominantischen Basiston D folgt. (Die strukturelle Dehnung des Harmonieganges bedürfte einer speziellen Analyse.) Hier stecken auch die beiden schwierigsten Figuren der linken Hand (die beiden Takte auf D also), ein spezielle Übeaufgabe.

Eine Anregung zur Melodie-Analyse

Chopin Prélude G Melodie

*****

Die folgende Chopin-Etüde trägt nicht die Spuren meines Übens (ich hätte mich früher nicht herangetraut). Die nützlichen Übungen, die Godowsky in seiner Bearbeitung der Chopin-Etüden gibt, findet man übrigens auch in dem wunderbaren Buch von Heinrich Neuhaus: „Die Kunst des Klavierspiels“ edition gerig Köln 1967/1977 (Seite 67).

Aber wer wirklich kuriose Finger-Experimente anhand dieser Etüde studieren will, sollte sich einmal vertiefen in das Video,  das Paul Barton in der Reihe seiner Tutorials anbietet. (Siehe unter dem Notenbeispiel.)

Chopin Etude gis Terzen üben

Faszinierend ist die Erklärung, die Paul Barton in einem anderen Beitrag für die rätselhafte Beobachtung eines Pianisten namens Abram Chasins gibt, der Rachmaninov beim Üben dieser Etüde belauscht hat: 

I could not believe my ears. Rachmaninov was practicing Chopin’s Etude in Thirds, but at such a snail’s pace that it took a while to recognize it because so much time elapsed between each finger stroke. Fascinated, I clocked this remarkable exhibition; twenty seconds per bar was his pace for almost an hour while I waited riveted to the spot, quite unable to ring the bell.

Langsames Üben ist gut, – aber warum so langsam??? Die Lösung finden Sie HIER.

Es sei erlaubt, eine kleine Zusatzübung von mir anzuschließen (und viele andere, die sich von selbst ergeben). Wichtig erscheint mir dabei, mit dem Anschlagspunkt der Taste zu experimentieren: sie nicht bis ganz oben zurückschnellen zu lassen (das verliert Zeit und Geschwindigkeit), sondern schon ganz kurz über dem Anschlagspunkt (an dem Punkt, den sie innehat, wenn die Saite gerade angerührt wird) wieder nach unten zu schicken. Das heißt: den Triller abzuflachen, vielleicht am Rande der Hörbarkeit („sotto voce“), ohne die leiseste Anspannung in der Hand (oder gar im Arm). Geradezu gelangweilt beobachten, wie die Finger sich quasi von selbst regen. Nach einer gewissen Zeit immer wieder zurückkehren zur „Rachmaninov-Übung“.

Triller Terzen Übung

Und diese für den besonderen Fingersatz Takt 3 ff (und später ähnlich):

Chopin gis Etüde Übung

Eine zusätzliche Übung würde ich empfehlen, hauptsächlich pianissimo (aber in Erinnerung an Marek auch fortissimo), die ausgehaltenen Töne unmittelbar nach dem Anschlag absolut ohne Druck.

Chopin Etüde gis Triller

Nachtrag 4. Juli

Fortsetzung siehe hier.