Archiv für den Monat: November 2014

Hören im Weltraum

Der Laie hört nur „Chhrck-ck-ck“ (aber immerhin…)

Hören im Weltraum  Lektüre der Morgenzeitung (ST 21.11.2014 8:15Uhr)

Was für eine Meldung!  Also kann man Planetenmusik vielleicht auch real hören? Nada Brahma! Den Kindern wird folgendes erzählt (Wissen macht Ah!)

Im Weltraum ist es nicht nur ziemlich intergalaktisch, sondern auch vollkommen still. Würdet ihr ins All fliegen, dann könnte euch niemand lachen hören. Warum? Das liegt daran, dass es im Weltraum keine Luft gibt.

Ungefähr 200 km über unserer Erde beginnt der Weltraum. Die Luftschicht, die unseren Planeten umgibt, endet dort. Der Weltraum ist ein luftleerer Raum, und so einen leeren Raum nennt man Vakuum. Weil sich Schall ohne Luft nicht fortbewegt, kann man im Vakuum nichts hören.

Wie ist dieses Problem zu lösen? Selbst hören, 2 Sekunden – HIER!

Es ist ein kurzer, aber bedeutender „Rumms“, den das Instrument CASSE bei der ersten Landung von Philae auf dem Kometen Churyumov-Gerasimenko aufzeichnete – das Zwei-Sekunden-Stück aus dem All dokumentiert nicht weniger als den allerersten Bodenkontakt eines menschengemachten Objekts mit einem Kometen.

Sind wir dem Kometen mit dem Ohr so nah, dass wir „den Dreiklang“ des Landers Philae hören können? Ja, und man kann dort sogar die Kinder auf der Erde lachen hören!

Mehr über Maori-Menschen?

Nach 140 Jahren: Gesichter lesen, Geschichten erfahren

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Quelle: Commons Wikimedia Bitte einzelne Bilder anklicken!

Diese Bilder sind nebst vielen anderen im Internet zu finden, wenn Sie dem Namen Gottfried Lindauer folgen. Von selbst werden Sie auf eine Fundgrube von Informationen stoßen, wollen sich aber vielleicht zunächst einen Überblick verschaffen, wer die Maori sind und was man über ihre Geschichte weiß: bitte HIER bei Wikipedia. Ein weiterer Link (mit den Geschichten zum Bild) HIER.

Der entscheidende Punkt ist aber der, dass es zur Zeit in Berlin eine Ausstellung gibt, die alle flüchtigen Eindrücke vertieft und konkretisiert. Ich zitiere aus dem Prospekt der Veranstalter:

Die Ausstellung Gottfried Lindauer. Die Māori Portraitsfordert dazu auf, gewohnte Denkrahmen zu überschreiten. Bisher wurden in der Alten Nationalgalerie Werke europäischer Künstler ausgestellt, nun werden dort die Bilder eines Malers ins Licht gerückt, dessen Identität und Werk sich eindeutigen Zuordnungen entziehen. War Lindauer Künstler, war er Ethnograph? Warum hat er hauptsächlich die indigene Bevölkerung Neuseelands dargestellt? Sind seine Werke strategische Inszenierungen des Fremden oder standen sie im Dienst kolonialer Zwecke?

Im Zentrum des Vermittlungsprogramms stehen Dialoge und der Wechsel von Perspektiven. Dabei soll nicht nur das was wir sehen eine Rolle spielen, sondern auch die Frage, was den Blick lenkt und unsere Wahrnehmungsweisen prägt. Mehrfach gibt es Gelegenheit die Stimmen derjenigen zu hören, die Lindauers Porträts zu ihrem kulturellen Erbe zählen. Wöchentlich besteht die Möglichkeit vor den Werken mit Wissenschaftler/innen unterschiedlicher Disziplinen ins Gespräch zu kommen.

Alles weitere unter dem folgenden Link: HIER. Oder Sie wählen den wunderschönen Flyer als pdf HIER.

Für mich ist bei der Betrachtung aller Traditionen in Mikronesien und Polynesien der Stand der Musik ein entscheidendes Indiz. Ich zitiere aus dem Artikel Ozeanien im Sachteil (Band 7) des neuen MGG-Lexikons (Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Verlage Bärenreiter und Metzler, 1997. Autoren: Barbara Smith bzw. Richard M. Moyle (Übers. Thomas M. Höpfner):

ZITAT

Seit der Entdeckung Guams durch Fernão de Magalhães (span. Magallanes) 1521 wurde Mikronesien durch Forscher, Handeltreibende, Kolonial- und Militärpersonal u.a. aus allen Kontinenten bereist und besiedelt, die viele verschiedene Musikstile einführten, die z.T. von den Eingeborenen übernommen, z.T. imitiert und phantasievoll angepaßt wurden (….). Vor dem Zweiten Weltkrieg übten die christlichen Missionare den stärksten Einfluß aus; einheimische Musik und Tanz wurden massiv unterdrückt und die Gesänge der Religionsgemeinschaften eingeführt. Im östlichen Mikronesien übersetzten die Protestanten Kirchenlieder in die dortigen Sprachen, veröffentlichten Gesangbücher und lehrten an ihren Schulen auch Singen und Notenlesen.

(…)

Die Missionierung im 19. Jahrhundert gab den stärksten Anstoß zum kulturellen wie auch musikalischen Wandel in Polynesien in historischer Zeit. Französische katholische Priester tolerierten vorhandene Gesangs- und Tanzgattungen, britische protestantische Missionare dagegen untersagten, sobald sie örtlich Einfluß gewonnen hatten, systematisch die Darbietungen in vielen Gebieten, so daß landesweit ganze Gattungen verschwanden. In Samoa und Tonga wurden bald neue zulässige Gattungen geschaffen, um das kulturelle Vakuum auszufüllen. (…).

Weiter verstärkt wurde der Einfluß der Missionare durch die Einführung vierstimmiger Kirchenlieder für gemischten Chor; obwohl neu in den meisten Gegenden, ist dieses Medium schließlich in ganz Polynesien angenommen worden. Bei den protestantischen Denominationen in den Zentralgebieten Ostpolynesiens bildete sich eine vergleichbare Tradition des Kirchenliedgesangs mit mehrstimmigen Chören, die Verse aus lokalen Bibelübersetzungen singen. (…)

Der Massentourismus hat den Interpretengruppen etliche fundamentale Veränderungen beschert. Die Identität des ausübenden Künstlers und der Kulturbesitzbegriff sind über ihre Stammes- oder Dorfbasis hinaus zu einer nationalen Basis gelangt; Gesänge und Tänze werden einem ausländischen Publikum als nationales Gut präsentiert und stellen Kennzeichen des nationalen Selbstverständnisses dar. In einem solchen Zusammenhang sollen Gesang und Tanz ein Gesamtbild entwerfen, nicht nur den Gehalt der Gesangstexte schildern. Tatsächlich wird jetzt nicht mehr das geäußerte Wort einem aktiven, denkenden Publikum dargeboten, sondern ein größtenteils passives Publikum, für dessen Gegenwart der sprachliche Inhalt des Gesangs unerheblich ist, bekommt eine visuelle Schau vorgesetzt. Als Primärkriterien für die Auswahl der Darbietenden haben physische Erscheinung und Leistungsfähigkeit die persönlich soziale Identität abgelöst, und aus eine Vielzahl von Aufführungsfunktionen sind lediglich die Faktoren Unterhaltung und die Widerspiegelung der Identität mit der eigenen Kultur übrig geblieben. Daß diese Projektion zweihundert Jahre europäischer Präsenz und Einflußnahme überlebt hat, beweist ihre zentrale kulturelle Bedeutung. (ZITATENDE und Ende des oben näher bezeichneten MGG-Kapitels)

Adnan Saygun

Ein türkischer Komponist, erste Begegnung und heute abend im Solinger Konzerthaus

Ahmed Adnan Saygun kl Wer ist dieser Mann? Ich erinnere mich gut, denn ich bin ihm ein Mal in meinem Leben begegnet, ohne zu ahnen, dass er in seiner Heimat eine überragende Bedeutung hat. Ich war nicht reif dafür, ich war mit mir selbst beschäftigt. Zudem verwirrte mich die Stadt Beirut, der wahnsinnige Verkehr, das Getümmel in den Gassen, im Bazar, und ein gesteigertes Lebensgefühl, als breche eine neue Ära an. Wir saßen gemeinsam im Kreis mehrerer Wissenschaftler in einem ruhig gelegenen Saal der mächtigen Villa, die der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft gehörte. Hierhergerufen von Prof. Marius Schneider, Jahreswende 1968 / 1969. Zunächst ein kurzer Blick in den Wikipedia-Artikel „Ahmed Adnan Saygun“: Hier.

Ich sehe, dass Sayguns Bratschenkonzert, das heute in Solingen erklingt, damals noch nicht geschrieben war. Wahrscheinlich hätten mich – dank Bartóks Bulgarischen Stücken im „Mikrokosmos“ – die rhythmischen Wirkungen besonders fasziniert, wie auch in seinen Klavierstücken im Aksak-Rhythmus; aber ich wusste vor lauter Makam-Gesprächen nicht, dass ihn diese asymmetrischen Rhythmen besonders beschäftigt haben: op. 38 (1964), op. 45 und 47 (1967), und noch einmal in op. 58: „10 Skizzen für Aksak-Rhythmus“ (1976).

Im Jahr danach sollte als op. 59 sein Konzert für Viola herauskommen, das ich erst heute kennenlerne, wie auch manche anderen Werke, die längst über youtube aufzufinden sind. Was für vertane Chancen! Hätte ich nicht schon damals aufwachen müssen, da ich doch wusste, dass dieser Mann im Jahre 1936 Béla Bartók auf seiner Forschungsreise durch die Türkei begleitet hatte!? Warum ich so vernagelt war? Ich hatte Darmstadt und Adorno in den Knochen, es war unmöglich, mich für eine „folkloristisch“ orientierte Musik zu interessieren, wenn sie nicht gerade von Bartók selbst kam. Dabei erinnerte mich Saygun äußerlich ein wenig an den verehrten Carl Dahlhaus…

Marius Schneider arbeitete damals an dem ersten (und einzigen?) Band der „Studien zur Mittelmeermusik. I Die tunesische Nuba ed Dhil“ (1971). Ich an meiner – unter seiner Betreuung erstellten – Dissertation „Die Entfaltung eines Melodiemodells im Genus Sikah“ (1971). Ich nahm an sich nur als studentischer Zaungast in Beirut teil, (war aber bereits mit einem Nagra-Gerät des WDR versehen und hatte dem WDR als Gegenleistung eine Radiosendung zum Thema Arabische Musik versprochen); den eigentlichen Arbeitskreis aber bildeten die in Schneiders Vorwort namentlich Genannten (s.u.).

Mehrere von ihnen waren direkt oder indirekt für meine Arbeit von Bedeutung: K. Khatchi (er hatte syrische Volkslieder gesammelt und mir zur Verfügung gestellt, siehe Scan unten Seite 148) und die Frau von T.Succar, dem ehemaligen Direktor der staatlichen Musikhochschule Beirut: Madame Succar stammte aus dem Dorf Broumana im Libanon-Gebirge und stellte den Kontakt zu dem von mir gesuchten Sänger Youssef Dahertage her, der dort lebte. Salah el Mahdi wurde mein Gewährsmann in Tunesien, als ich 1973 für den WDR (mit Toningenieur Siegfried Burghardt) die Nuba ed Dhil (im Rückblick auf Schneiders Arbeit) in Tunis aufnahm.

So hängt alles mit (fast) allem zusammen… Zufällig… Bis hin zu diesem Konzert in Solingen, mit mir vielleicht nur, weil ich hier lebe, – und zufällig ist der WDR auch wieder dabei. (Sendedatum am 24. November WDR 3 ab 20.05 Uhr.)

Marius Schneider 1Marius Schneider 2 Marius Schneider (links), aus meiner Dissertation:

JR Diss Dahertage bio 1 JR Diss Dahertage bio 2 JR Diss Dahertage bio 4

Solingen Saygun Konzert 1 Solingen Saygun Konzert 2 Solingen Saygun Konzert 3

Zur Vorbereitung hören: auf youtube HIER !

Ruşen Güneş (viola)
Gürer Aykal (conductor)
London Philharmonic Orchestra
Ahmed Adnan Saygun (1907-1991)
Viola Concerto op.59
KOCH-SCHWANN LABEL

Haydn und Boccherini

ZITATE – Fundstücke zur Aufbewahrung

Solingen Konzert 141123 kl  Solingen Konzert 141123 rück

Johann Baptist Schaul: Briefe über den Geschmack in der Musik, Carlsruhe 1809

Zwar ist seine [Boccherinis] Musik nicht für jedermann. Um sie nach Verdienst zu schätzen, – so wie es überhaupt bey Quartetten u.d.g. ist – gehören gefühlvolle Kenner dazu, die seiner seltenen Schönheiten empfänglich sind. Und dann muß seine Musik beim Schimmer der Lichter, in keinem allzugroßen Zimmer gespielt werden. Die Musiker müssen sie eine Zeitlang zusammen studirt, und, so zu sagen, den Lebenssaft, der auch einen Halbtodten wieder erwecken könnte, daraus gezogen haben. Die Zuhörer müssen, gleichsam in Todtesstille versunken, von den Spielenden entfernt sitzen, um sie nicht der Zerstreuung und Störung auszusetzen; diese aber, wenn sie ihre Instrumente gestimmt haben, müssen sich des, jedem empfindlichen Ohre, so unangenehmen Präludierens enthalten, um die schöne und große Wirkung nicht zu schwächen, welche Stille und Überraschung so wunderbar hervorzubringen wissen. Kurz, alles muß wie in einem Heiligthum seyn. Aber dann, welche Musik! Mit diesem Vergnügen ist keines zu vergleichen. Jedes Herz schwimmt in einem Meer von Wonne; jeder glaubt sich in ein Elyseum versetzt. Und so wird die bezaubernde Kunst der Töne allein nach Verdienst und Würde geehrt und genossen.

Solingen Konzert 141123 Progr A  Solingen Konzert 141123 Celloteile

1799 wurden Boccherinis Quartette zum erstenmal an Haydns und Mozarts Quartetten gemessen (AmZ, Nr.36 / 5.Juni Leipzig):

Wenn den B o c c h e r i n i s c h e n  Quartetts auch im Ganzen das Große in der Anlage und Reiche und Frappante der liberalen Durchführung eines kühnen Genies abgeht, das man an den mehrsten H a y d‘ n und M o z a r t‘ s c h e n, auch den frühern von P l e y e l so sehr interessant findet: so kann man ihnen doch gute, oft sehr eigenthümliche und durchweg wohlausgeführte Gedanken, mitunter Feuer, in der Regel aber eine gesetzte Manier und eine gewisse gefällige Methode nicht absprechen. Es verdient wirklich Bewunderung, daß dieser verdiente Komponist, der schon ziemlich hoch in den Jahren seyn muß, und nicht wenig geschrieben hat, doch immer noch soviel Jugend und Frischheit in seine Werke zu legen weiß, und daß er so mit der Zeit fortgeht. Seine oft sehr launigen Menuetts, die er überhaupt etwas zu sehr zu lieben scheint, und die er manchmal sogar etwas barokk macht oder auch in das Geschmeidige der Polonaise fallen läßt, sind Zeuge davon. Man kann also diese Quartetts, die überdem leicht genug zu exekutieren sind, solchen, die nicht gerade die excessive Schreibart für die Violine allen anderen vorziehen, mit gutem Gewissen anempfehlen. Sie sind ziemlich einfach und nicht, wie jetzt der Ton ist, für die Violin übermäßig hoch gehalten.

Leider wird es viel verwöhnte Ohren geben, die vieles davon, wie überhaupt von mehreren der B o c c h e r i n i s c h e n Sachen, zu flach, zu eintönig und unkräftig finden werden. Allein diese mögen bedenken, daß der Geschmack wie das Bedürfnis, verschieden ist, und daß es viele Liebhaber giebt, denen mit ruhiger Unterhaltung mehr, als mit enormen Schwierigkeiten gedient ist. Nicht immer finden sich vier Spieler, die es in der Virtuosität so weit gebracht haben, daß sie den zu schweren künstlerischen Satz, wie ihn die neuesten Quartetts gewöhnlich haben, sollte er auch mehr in chikanierenden Stellen, als in eigentlich sehr kunstmäßiger Bearbeitung der Sätze bestehen, mit Leichtigkeit und ohne auffallendes Unglück bezwingen können.

Quelle der Zitate siehe ganz unten. Quelle des folgenden Artikels: Susanne Koch und Solinger Tageblatt (wiedergegeben mit freundlicher Erlaubnis).

Lamprecht Tageblatt 141115Solinger Tageblatt 15.11.14 (bitte anklicken)

Nachruf auf Luigi Boccherini (AmZ, 21. August. Leipzig 1805):

Vor zwey Monaten starb in Madrit Luigi Boccherini, fast 70 Jahre alt. Er war wirklich einer der ausgezeichnetsten Instrumentalkomponisten seines Vaterlands, Italiens. Gegen die Gewohnheit seiner Landsleute ging er mit der Zeit und der Ausbildung der Tonkunst auch in Deutschland fort, und nahm von den Fortschritten derselben, besonders in wiefern sie von seinem alten Freunde, Joseph Haydn, bewirkt oder veranlasst wurden, in sein Wesen auf, so viel ohne Verleugnung seiner Individualität geschehen konnte. Italien schätzt ihn Haydn, in den Quartetten und ähnlicher Musik beyder, wenigstens gleich; Spanien, wo er den größten Theil seines thätigen Lebens verbrachte, zieht ihn dem deutschen Meister, den man dort zuweilen zu gelehrt findet, in manchen seiner Werke noch vor; Frankreich achtet ihn hoch, ohne ihn Haydn gleichstellen zu wollen, und Deutschland scheint, in seiner jetzigen Vorliebe für das Schwierigere, Künstlichere, Gelehrtere, ihn noch zu wenig zu kennen: wo man ihn aber kennet und besonders den melodischen Theil seiner Werke zu genießen und zu würdigen verstehet, hat man ihn lieb und hält ihn in Ehren. Er hat bis an’s Ende seines Lebens geschrieben, und erst vor kurzem sind schätzbare Quartetten und Quintetten von ihm in Paris herausgekommen. Die Zahl seiner Werke (fast nur Instrumentalmusik von der Sonate bis zum Quintett) ist sehr groß. Ein besonderes Verdienst um die Instrumentalmusik Italiens, Spaniens, und wohl auch Frankreichs, erwarb er sich auch dadurch, dass er der Erste war, der dort Quartetten, worin alle Instrumente obligat gearbeitet sind, schrieb; wenigstens war er der Erste, der mit solchen dort allgemeinen Eingang fand. Er, und bald nach ihm Pleyl in seinen frühesten Werken, machten dort mit der angegebnen Gattung der Musik noch eher Aufsehen, als Haydn, vor dem man sich damals noch scheuete. Er war außerdem in früherer Zeit ein trefflicher Violoncellist, der besonders durch unvergleichlichen Ton und ausdrucksvollen Gesang auf seinem Instrumente bezauberte. Alle, die ihn gekannt haben, rühmen ihn auch als ein wackern, braven Mann, der seine Pflichten gegen Jedermann treulich zu beobachten gewohnt war.

Quelle der Zitate Christian Speck: Boccherinis Streichquartette. Studien zur Kompositionsweise und zur gattungsgeschichtlichen Stellung. Wilhelm Fink Verlag München 1987 ISBN 3-7705-2403-9 (Seite 188 – 191)

Dissertation des Autors, der auch den Boccherini-Artikel des neuen MGG geschrieben hat.

Münster – Abegg – Brahms

Wie der November begann (Rekonstruktion)

Münster am Abend 141104

Der Grund für diese Fahrt war das Konzert zur Eröffnung des Semesters an der Musikhochschule Münster durch das Abeggtrio, mit dem ich seit Jahrzehnten verbunden bin. Der Geiger Ulrich Beetz begann in den 60er Jahren beim gleichen Professor zu studieren, bei dem ich gerade das Studium abschloss: Franzjosef Maier, der vor wenigen Wochen verstorben ist. Wir begegneten uns im Collegium Aureum.

Kirchheim Collegium Hier eine typische Abhörsituation bei Schallplattenaufnahmen 1971. Hinten (von links): Rolf Schlegel, Reichow, Beetz, sitzend: Prof. Franz Beyer, Konzertmeister Prof. Franzjosef Maier.

Münster 141104 kl

Das Trio-Programm im Detail (bitte anklicken).

Münster 141104 Programm

Münster 141104 Abegg Namen

Münster Semester Abegg

Über die Geschichte des Abegg-Trios kann man hier einiges lesen. Für mich wurde es richtig interessant, als man mich beauftragte, die Begleittexte zu schreiben – parallel dazu wurden später alle Cover von Horst Janssen gestaltet, Kunstwerke für sich. Soweit ich mich erinnere, schrieb ich den allerersten Text für die Harmonia-Mundi-LP mit dem op.8 von Brahms und dem „Brahms-Bildnis (1976)“ von Wilhelm Killmayer. Später kam der Glücksfall bei Intercord: die Texte durften eine ernstzunehmende Länge erreichen, zudem wurden Notenbeispiele möglich; ebenso bei der nächsten Schutzpatronin, der hochkreativen Firma TACET. Schumann, Mozart, Beethoven, Haydn, Schubert, Brahms, Dvorak, Smetana, Janacek. Manches von den Texten ist auf meiner Website nachzulesen. Z.B. hier ein ganzes Booklet, oder hier zu Smetana/Janacek, oder zuletzt (2009) zu Schostakowitsch.

Oft wurden die Gesamtprojekte in der Kritik gewürdigt:

Hier wird bis an die Grenzen dessen heran musiziert, was die Instrumente hergeben können. Das freilich ist deshalb so unmittelbar zu erleben, weil der Klang exzellent geraten ist. Die Instrumente befinden sich in einer guten klanglichen Balance. Nicht vergessen werden darf der Booklettext von Jan Reichow, der in seinen minutiösen Fingerzeigen auf Details der kompositorischen Faktur in der (heutigen) Landschaft der Begleithefttexte alleine dasteht. Er rundet diese spannende Einspielung bestens ab. (Tobias Pfleger 14.09.2011)

So anlässlich der Haydn-CDs in Klassik.com September 2011 – Ähnliches gab es gar nicht so selten, hier ein frühes Beispiel aus dem FonoForum Juli 1988:

Der oft rauhbeinige, immer aber sehr vielseitige Tonfall gerade der frühen Trios von Beethoven gibt den drei Musikern viele Möglichkeiten, individuelle Gestaltungen auch gegeneinander auszureizen, ohne jedoch die Gesamtkontur aufs Spiel zu setzen.Bei einem so klaren und eindeutig erfrischenden Eindruck ist es erfreulich, wenn auch die Präsentation dieser Schallplatten-Edition nicht nur stimmt, sondern geradezu verwöhnt. Das ist eine Seltenheit angesichts so vieler halbherzig-liebloser Kurz-Texte, die man sonst gerade einer CD beigefügt findet. Gäbe es einen »Grand Prix« für einen ebenso originellen wie informativen Plattentext, so müßte er umgehend an Jan Reichow verliehen werden, dessen Begleittext mit der Emphase der Abeggs wetteifert. Und nicht zuletzt ist auch das von Horst Janssen eigens verfertigte Cover ein Pluspunkt. (Hans-Christian von Dadelsen)

Oder noch eine Stimme zur Brahms-CD IV in Klassik heute März 2006

Letztlich ist an dieser Produktion alles auf die unanfechtbare Meisterschaft von Brahms ausgerichtet, künstlerisch und editorisch. Der Autor des in Gehalt und Vielschichtigkeit hervorragenden Einführungstextes – Jan Reichow – nutzt die ihm gegebenen neun Seiten und führt hintergründig und ansprechend den von Liebesleid geprägten jungen Komponisten und die davon beeinflussten Trios zusammen. Wer zu Brahms’ wegweisender Kammermusik bislang (noch) keinen Zugang gefunden hat, sollte spätestens jetzt die Sinfonien und das Deutsche Requiem einmal kurz beiseite legen – mit dieser Aufnahme könnte die Überraschung nicht größer sein. (Tobias Gebauer)

Höchste Zeit, das kompilierte Eigenlob zu beenden, – zuweilen brauche ich halt die Ermutigung von außen, ehe ich versuche, mich meiner selbst anhand uralter Texte zu versichern.

Anlässlich des Abegg-Konzertes in Münster bilde ich hier also einen Brahms-Text aus der LP-Zeit vollständig ab. (Inzwischen CD II, auffindbar unter dem oben angezeigten Brahms-Link). Bitte die Spalten zur besseren Lesbarkeit einzeln anklicken, die Notenbeispiele möglichst auf einer zweiten Seite bereitlegen.

Brahms II a Brahms II bBrahms II c Brahms II dBrahms II fBrahms II gBrahms II h halbBrahms II Noten a+Brahms II Noten b+

Münster am Abend Ludgeri 141104 Fotos: E.Reichow

Magnificat – Fecit Potentiam

Hören und Denken

Hier das Dokument meiner ersten Begegnung mit Bachs Magnificat (die Aufschrift stammt von meinem Bruder, wir haben „die Stelle“ gemeinsam entdeckt) und die große Wiederbegegnung im Jahre 1972 in Lenggries und Einsiedeln. (Einzelbilder zur Vergrößerung bitte anklicken!)

Concert Hall Magnificat +Magnificat Mitwirkende 1972+Magnificat 1972 Cover Ausschnitt

Wenn Sie nicht ganz nachvollziehen können, weshalb jemand ernsthaft – über Wochen, Monate, Jahre, Jahrzehnte – immer wieder zurückkehrt zu der Vertonung dreier lateinischer Worte, müssen Sie unbedingt die Musik hören, um die es geht. Leicht zugänglich sind die youtube-Aufnahmen; sie müssen nicht unbedingt die bestmöglichen sein, aber sie geben eine lebendige Vorstellung von der Musik, um die es geht. Springen Sie in die Aufnahme mit Nikolaus Harnoncourt (Kloster Melk, Österreich, 2000) – HIER – und dort genau auf den Punkt, an dem der Satz beginnt: Fecit potentiam, ab  16:00. Schauen Sie sich den Text an, und beachten Sie ganz besonders die „Inszenierung“ der Worte dispersit superbos und mente cordis sui, letztere genau ab 17:24 bis 18:00 (Ende des Satzes).

Eine andere Veröffentlichung desselben Konzertes findet man auf youtube HIER. Ab 15:40 Fecit potentiam, ab 17:06 mente cordis sui.

Ein Mailwechsel an zwei Novembertagen 

10.11.2014 8:01

Sehr geehrter Herr JR,

in der Annahme, dass Sie es waren, der sich im Internet zu „mente cordis sui“ aus dem Magnificat zu Wort gemeldet hat, hier eine Rückmeldung:
Ich habe mich umgesehen und festgestellt, dass die Vulgata sehr wohl zwischen „suus“ und „eius“ korrekt unterscheidet. Im Übrigen muss man die ganze Reihe der Aussagen betrachten:
in brachio suo
mente cordis sui
misericordiae suae.
Vivaldi, von Haus aus Priester, hat diesen Zusammenhang auch musikalisch ausgedrückt, indem er für die beiden letzten Zeilen exakt die gleiche Tonfolge angesetzt hat, nur durch die tempi unterschieden. Bach hat das „mente cordis sui“ m.E. als Tremendum gestaltet, von dem sich die lyrisch intime Stimmung der Aussage über „puerum suum“ unüberhörbar abhebt.
„Er hat die Hochmütigen zerstreut, wie er in seinem Herzen über sie dachte“ (vgl. die Geschichte vom Turmbau zu Babel).
Man muss da, denke ich, unterscheiden zwischen dem, wie man selbst über Gott reden würde, und dem, was ein antiker Text sagt.
Mit freundlichem Gruß
RB

10.11.2014 11:21

Sehr geehrter Herr RB,
vielen Dank für Ihre Aufklärung, die mir plausibel erscheint, mich jedenfalls wieder ins Wanken bringt.
Wankend, weil ich ja die griechische und die deutschen Versionen des Textes sehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Magnificat#Text
Ich sehe auch den wechselnden Gebrauch von sui oder suae und eius, ohne ihn mir erklären zu können.
Andererseits überzeugt mich der Hinweis auf das Tremendum, das Bach in der Harmonik zum Ausdruck bringen wollte und das sich direkt auf Gott bezieht und nicht auf die schreckliche Gedankensünde, der ich jedenfalls kein solches Tremendum gönne.
Können Sie sich denn vorstellen, dass die Komponisten (Sie verweisen auf Vivaldi, der ja auch in der Faktur des Crucifixus der H-moll-Messe Bachs Anreger war) eine andere Deutung bevorzugten als die übersetzenden Theologen?
Ich fände es schön.
Mit freundlichen Grüßen
JR

P.S. Erlauben Sie, dass ich Ihre Stellungnahme (mit Ihrem Namen, ohne Ihre Mailanschrift) unter den Blog-Artikel setze?

Die Kommentar-Funktion habe ich ja außer Kraft gesetzt, weil ich mit Spam aus der ganzen Welt überschüttet werde.

10.11.2014 13:05

Sehr geehrter Herr JR,
der unterschiedliche Gebrauch von sui oder suae und eius ist jeweils darin begründet, ob sich das Possessivpronomen auf das Subjekt des Satzes bezieht oder nicht. Wenn sich „mente cordis“ auf superbos beziehen würde, müsste es „cordis eorum“ heißen.
Luther griff in seiner Übersetzung des NT auf die griechische Originalsprache zurück, dianoia kardias autôn heißt zweifelsfrei „in ihres (der Hochmütigen) Herzens Sinn“. Wer den Vulgatatext auch so übersetzt, flunkert oder beherrscht das Latein nicht. Ich verfüge hier nicht über eine entsprechende Bibliothek, so dass ich nicht nachschauen kann, wie in früheren Zeiten die Vulgata übersetzt wurde.
Mit freundlichen Grüßen
RB

10.11.2014 14:14

Sehr geehrter Herr RB,
ich bin verblüfft.
„Cordis eorum“ – natürlich. Aber hätte das der von mir zu Hilfe gerufene Lateinprofessor in D. nicht auch wissen müssen?
Wenn ich Sie zitieren darf: erlauben Sie, dass ich den einen Satz (mit dem Flunkern und Nichtbeherrschen) etwas schonender formuliere?
Ich bin Ihnen dankbar.
Damals habe ich sogar den Bach-Forscher CW fragen lassen (durch einen gemeinsamen Freund), und er soll ziemlich ratlos reagiert haben.
Der Hinweis auf den musikalischen Ausdruck des „Tremendum“ hätte doch eigentlich von ihm kommen müssen.
Mit freundlichen Grüßen,
JR

10.11.2014 18:10

Sehr geehrter Herr JR,
Ihre letzte Frage kann ich bejahen, obwohl es nicht nötig ist, dass Sie mich förmlich zitieren. Ich erhebe keine Urheberrechte.
Dass der Lateinprofessor so reagiert hat, wie er es tat, hat wohl damit zu tun, dass für einen Altphilologen das Latein der Vulgata schon eher Vulgärlatein ist, dem man vieles zutraut.
Ich selbst war auf Ihren Text im Internet gestoßen, weil ich irritiert suchte, was mente cordis sui bei Vivaldi, dessen Magnificat wir gerade in einem Chor einstudieren, bedeutet. Vorher war mir die lateinische Textstelle noch nicht ins Bewusstsein getreten. Inzwischen bin ich mir sicher, dass die lateinische Übersetzung des griechischen Textes eine Interpretation, nicht eine korrekte Übersetzung ist. Solche Stellen gibt es auch sonst. Berühmt ist Lk 2,14, griechisch: den Menschen Seiner Gnade, lateinisch: den Menschen guten Willens.
Alles Gute und schöne Grüße
von RB

10.11.2014 20:32

Sehr geehrter Herr RB,
wunderbar, das hätte ich nicht gedacht: dann war ich ja auch für Sie etwas nütze.
Meine neugierige Frage angesichts Ihres Fachwissens: sind Sie der Autor, der sich mit den Qumram-Texten beschäftigt hat oder ist das ein Namensvetter von Ihnen?
Freundliche Grüße,
JR
P.S. Falls Sie sich gewundert haben: mein Blog war in der Zwischenzeit abgestürzt, aufgrund eines Updates, zu dem ich gezwungen war bzw. mein Helfer, der mit allen technischen Sachen betraut ist. Inzwischen ist alles auf dem Stand eingefroren, auf dem es war, und ich warte ab, bis ich wieder „Zutritt“ habe.

11.11.2014 8:47

Sehr geehrter JR,
ja, der angesprochene Autor bin ich.
Inzwischen habe ich auch eine alte Übersetzung gefunden, die wirklich die Vulgata übersetzt: die althochdeutsche Tatian-Übersetzung aus dem 9. Jh. (zitiert in „Theodisca“, de Gruyter 2000, S. 173):
muote sines herzen, wobei „muot“ althochdeutsch nach Köbler, Gerhard „Sinn, Mut, Zorn“ bedeutet und muote ein Genetiv ist (zornigen Herzens, im Affekt seines Herzens).
Und was schreibt der Gelehrte in Theodisca? Der Übersetzer habe die lateinische Wendung nicht verstanden und das Possessivpronomen falsch übersetzt. Offenbar aber hat er den lateinischen Text selbst nicht übersetzt, sondern eine aktuelle deutsche Übersetzung herangezogen. So läuft das auch in den CD-Begleittexten, zu dem lateinischen Text wird einfach eine englische oder deutsche Bibelübersetzung zitiert.
Mit freundlichen Grüßen
RB

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Hinweis zur Person:

Roland Bergmeier

Die Qumran-Essener-Hypothese

Die Handschriftenfunde bei Khirbet Qumran, ihr spezifischer Trägerkreis und die essenische Gemeinschaftsbewegung

Roland Bergmeier, geb. 1941, Dr. theol., ev. Religionslehrer im Ruhestand; Schwerpunkte der wissenschaftlichen Arbeit auf den Gebieten Neues Testament und Religionsgeschichte: Essener und Qumran, Johannesevangelium, Johannesapokalypse, Paulus und das Gesetz.

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Anregung zum Weiterhören: das Magnificat des Bach-Sohnes Carl Philipp Emanuel HIER

Das „Fecit potentiam“ beginnt bei 19:13, „dispersit superbos“ bei 20:30, Ende nach „mente cordis sui“ bei 23:58

CPE Bach komponiert durch, anders als sein Vater, er gibt also dem „mente cordis sui“ keinen besonderen Nachdruck. Es gehört für ihn offenbar zu den „superbos“.

Wir haben dieses Magnificat mit dem Collegium Aureum und dem Tölzer Knabenchor schon im Jahre 1966 unter Kurt Thomas aufgenommen (u.a. mit Elly Ameling). Damals habe ich merkwürdigerweise dem Unterschied in der Behandlung des „mente cordis sui“ keine Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl mir die Anlehnung des einen Magnificats an das andere sehr bemerkenswert erschien.

Das JSB-Magnificat haben wir wohl 1972 in der Pfarrkirche Lenggries aufgenommen. Aufgeführt am 21.10.72 im Kloster Einsiedeln in der Schweiz (nebst der Kantate 110 „Unser Mund sei voll Lachens“).

Magnificat Unterschriften 1 Magnificat Unterschriften 2

Zu dem im Mailwechsel erwähnten Magnificat von Vivaldi lesen Sie HIER. Man kann auch die Einzelsätze anspielen.

Eine Gesamtaufnahme unter Ricardo Muti auf youtube HIER.

„Fecit potentiam“ von 12:23 bis 12:54, – zu beachten im Blick auf JSB die motivische Behandlung des „dispersit“, dagegen fast beiläufig angefügt: „mente cordis sui“.

Nochmals vergleichen aufgrund des folgenden Nachtrags.

Nachtrag (18.11.2014): „Übrigens, als ich im Text ‚Fecit potentiam …, dispersit superbos‘ den Zusammenhang mit Gen 11,9 (dispersit eos Dominus) wahrnahm und erstmals bewusst hörte, was Vivaldi daraus gemacht hat, habe ich zu meinen Chormitgliedern gesagt, man müsste ‚mente cordis sui‘ fast übersetzen mit: ‚in der Rage seines Herzens‘.“ (privat: Roland Bergmeier)

Ausklang

Oben und unten: Unterschriften von Theo Altmeyer (Tenor), Prof. Werner Neuhaus, Günter Vollmer (Violine), Franz Lehrndorfer (Orgelpositiv) und Rudolf Mandalka (Violoncello) auf der LP mit dem Tölzer Knabenchor und dem Collegium Aureum 1972 (s.a. ganz oben rechts).

Magnificat Unterschriften 3a Rudi  Franzjosef Maier und Marc

Magnificat: Mente Cordis Sui?

Denkfehler endlich aufgeklärt (7. Februar 2013)

Eigentlich ist es keine Sensation, da es sich nicht um einen allgemein verbreiteten Denkfehler handelt, sondern nur um meinen persönlichen, ganz privaten, der mir vielleicht auch nur deshalb unterlaufen ist, weil ich nicht theologisch denken gelernt habe. Da kann es einen sogar ganz plötzlich erwischen, ausgerechnet wenn man naturwissenschaftliche Gedanken nachvollziehen will. Ist man möglicherweise schon schlecht beraten, wenn man sich einem Naturwissenschaftler anvertraut, der sich selber auf geisteswissenschaftliche Nebenwege begibt und seinem populärwissenschaftlichen Buch zur Evolution des Titel gibt: „Symphonie des Denkens“?

Dabei habe ich ihm besonders auf Seite 300 zutiefst beigepflichtet (den entscheidenden Satz wiederhole ich gegen Ende dieses Eintrags), ja, ich würde ihm immer noch mit Sympathie folgen, wenn ich nicht zugleich bemerkt hätte, dass der Autor sich ziemlich kritiklos eines obskuren Programmzettels bedient, statt ihn gründlich überprüfen zu lassen. Wie mag er sonst zitieren?

Symphonie des Denkens (Zitat) 300 Zum Lesen anklicken!

Quelle William H. Calvin: Die Symphonie des Denkens. Wie aus Neuronen Bewußtsein entsteht. Carl Hanser Verlag München Wien 1993 (Seite 300)

Abgesehen davon, dass „mente cordis sui“ keine Anweisung ist, sondern schlicht zum Text gehört, so ist es durchaus fragenswert, weshalb ausgerechnet diese Worte eine so gewaltige Akkord-Folge auslösen, wie sie hier am Schlusse steht. Die unten wiedergegebene (hochromantisch bearbeitete) Partitur gibt mit ihrer fortefortissimo-Anweisung genau das wieder, was man meistens hört und auch als „tremendum“ empfindet. Die Frage ist nur: warum separiert Bach diese Worte vom Rest des Satzes, so dass sie einen übermächtigen Abschluss bilden können, – aus rein musikalischen Gründen? Ist immer noch von den superbos die Rede, den gottlos Hochmütigen, die er in alle Winde zerstreut (dispersit)? Oder vielmehr von Gott selbst? Mente cordis sui – wessen Herz, wessen Geist? Was bedeutet „cordis sui“ – ihres Herzens oder seines Herzens? (Vorher hatten wir vernommen: fecit potentiam – er übt Gewalt aus – „in brachio suo“ – mit seinem Arm, eindeutig.

Magnificat Mente cordis sui

Calvin zitiert folgendes: „Die Anweisung mente cordis sui löst eine höchst erstaunliche Sequenz aus, denn sie verlangt im Verlauf von etwa neun Takten D-Dur, fis-moll, h-moll, d-moll und schließlich D-Dur, wobei die erste Trompete alle wieder in die Ausgangstonart zurückbringt…“

Daran ist so ziemlich alles falsch (abgesehen von der „Anweisung“): es handelt sich nicht um „etwa neun Takte“, sondern um genau sieben (soviel Zeit muss sein, das korrekt auszuzählen), und nicht der Tonartwechsel, sondern die Akkorde selbst sind das Phänomen: zwar kommt überhaupt kein D-moll-Akkord vor, aber es beginnt mit einem übermäßigen Dreiklang auf D (D-Fis-Ais), es folgt ein großer Septakkord (scharfe Dissonanz G-Fis), dann ein verminderter Septakkord und ein Quartsextakkord auf Fis – lauter Akkorde, die nach Auflösung schreien! Auch der zuletzt genannte Quartsextakkord löst sich auf in den Dominantseptakkord auf Fis, der wiederum die Auflösung nach h-moll verlangt, und bevor es dann über e-moll und den Dominantseptakkord auf A wirklich nach D-dur geht, fügt Bach noch einmal einen verminderten Septakkord auf Gis ein. Man könnte sagen: Es sind lauter Akkorde der Gottesferne, und erst die aus der Höhe herabsteigende Trompete klärt, wer der wahre Herr im Glanze des Grundakkords D-dur ist. Wenn vorher von etwas anderem die Rede zu sein scheint, dann sind es immer noch die zersprengten „superbi“, aber – da sie bereits unmittelbar vor dem Adagio-Block zerschellt sind (verminderter Septakkord!) – ist es nun vor allem der richtende und strafende Gott, der hier in Erscheinung tritt.

Zur Übersetzung und zur „Absicht“ der Musik:

Fecit potentiam in brachio suo, / dispersit superbos / mente cordis sui.

Mein Denkfehler bestand zunächst darin zu glauben, dass diese mächtige musikalische Aussage auf „mente cordis sui“ am Schluss des Satzes sich nur auf Gott selber beziehen könne. Wenn die übliche deutsche Version dem widersprach, – Luther übersetzt folgendermaßen: Er übet Gewalt mit seinem Arm / und zerstreut, die hoffärtig sind / in ihres Herzens Sinn -, so wollte ich mir eben vorstellen, dass Bach (der Lateinlehrer!) sich im Eifer der Komposition mit der Übersetzung vertan oder aber die Stelle bewusst anders aufgefasst habe als Luther, nämlich als „nach seines Herzens Sinn“.

Ich fragte einen Altphilologen der Düsseldorfer Universität nach seiner Meinung: ob man „sui“ auch in diesem Sinne auffassen könne? Man kann es, antwortete er, aber Bach wird seinen Luther-Text wohl auswendig gekannt und als sakrosankt behandelt haben. Im übrigen basiere die lateinische Version auf dem griechischen Original, das folgendermaßen laute:

Ἐποίησε κράτος / ἐν βραχίονι αὐτοῦ, / διεσκόρπισεν ὑπερηφάνους / διανοίᾳ καρδίας αὐτῶν

Und das letzte Wort sei in dieser Sprache eindeutig Genitiv Plural und beziehe sich damit unzweifelhaft auf die Hoffärtigen, die ὑπερηφάνους. „Dass Bach die Worte mente cordis sui so gewaltig betont habe, könne demnach eher so erklärt werden, dass er den Aspekt der ‚Gedankensünde‘ hervorheben wollte: Schon geistiger Hochmut wird bestraft, geschweige denn das daraus resultierende Verhalten (vgl. W.Wingert, Art. Hybris, Lexikon für Theologie und Kirche 3. Auflage Bd. 5 [1993] 350).“

Mit diesem Hinweis war mein Denkfehler kuriert, ja, es fiel mir wie Schuppen von den Augen: das Subjekt all dieser Aussagen ist ja tatsächlich GOTT (der bekanntlich alles sieht, auch in des Herzens tiefstem Grunde), in diesem Fall der STRAFENDE GOTT, wie Luther sagt: der „eifernde“ Gott, er straft sichtbar und hörbar, so dass man im Chorsatz die hoffärtigen Menschen in alle Richtungen stürzen sieht; noch zorniger macht ihn jedoch das, was die Grundlage aller Hoffart im Herzen der Menschen ist. Dieser Blick ins Wesen der Sünde sorgt für die gewaltige Aussage der Musik.

Ich danke Prof. Dr. Markus Stein in Düsseldorf für die freundliche Nachhilfe!

PS.

Wie versprochen, soll hier noch (trotz der flapsigen Formel „ich wette“) der wohl korrekte und naturwissenschaftlich begründbare Satz aus Calvins Text zitiert sein:

…aber ich wette, daß die Musik sich als eine sekundäre Nutzung einer neutralen Struktur erweisen wird, die wegen ihrer Nützlichkeit bei einer seriellen Timingaufgabe wie der Sprache oder dem Werfen selektiert – und in den Mußestunden für die Musik genutzt wurde.

(s.o. Scan Seite 300, 4. Zeile)

PPS. 

Soweit der Beitrag vom 7. Februar 2013. Ich muss hinzufügen, dass mich die sprachlich-gedankliche Auflösung nicht ganz glücklich gemacht hat: Dass diese erschlagende musikalische Wirkung eine Erklärung um zwei theologische Ecken herum bekommen sollte. Die Gedankensünde im Herzen der Menschen, reflektiert im Aufschrei der Musik, nicht aber unmittelbar im Zorn Gottes? Für wen steht denn die Musik? Für den Blick in das Wesen der Sünde? Für die schwächlich und armselig in Gedanken sündigenden, gesündigt habenden Menschen, die doch soeben hörbar vom starken Arm in alle Winde geschleudert wurden?

Und jetzt soll das Subjekt aller Aussagen – ausgerechnet in der stärksten musikalischen Aussage – plötzlich verschwunden sein?

Neuerdings, im November 2014, darf ich wohl – auf einer anderen Stufe – guten Gewissens zu meiner ersten Intuition zurückkehren. Der Weg dahin soll im nächsten Beitrag nachgezeichnet werden, die paradoxe Kurzformel lautet: (fast) alle deutschen Übersetzungen der lateinischen Zeile „mente cordis sui“ sind falsch, richtig dagegen die der griechischen Zeile. Siehe HIER. (Aber der Blick in diesen Link bietet natürlich noch nicht die Lösung. Geduld!)

Vom Bloggen und Interpretieren

Blog-Artikel müssen nicht den Charakter wissenschaftlicher Abhandlungen haben, sollten aber auch nicht aus bloßen Konfessionen bestehen, aus beliebigen Meinungskundgaben, die einem etwa bei der Zeitungslektüre in den Sinn kommen. So meine ich es jedenfalls. Es soll Denkanstöße geben, und zwar mir selbst und vielleicht auch den Lesern des Blogs. Zuschriften, die inhaltlich weiterführen, werde ich dem Artikel nachträglich beifügen und auch klarstellen, dass es sich um eine Übernahme handelt. Im Fall eines alten Blogeintrages zu Bachs Vertonung der Worte MENTE CORDIS SUI im Magnificat, veröffentlicht am 7. Februar 2013, hat sich erst in diesen Tagen ein in diesem Sinne fruchtbarer Dialog ergeben, den ich demnächst wiedergeben werde; darüberhinaus auch den vollständigen Artikel von damals, da die Beiträge des von 2011 bis 2014 geführten Blogs zur Zeit nicht mehr zugänglich sind.

Ich verfolge gern die von Marcel Reich-Ranicki eingeführte FAZ-Anthologie der Gedichtinterpretationen, im FAZ-Net sogar in doppeltem Sinne: als schriftliche Erläuterung zum Text ebenso wie als mündlichen Vortrag des Gedichtes, so zum Beispiel am 7.11.2014, auffindbar HIER.

Es geht um das Gedicht „Lied vom Meer“, Untertitel „Capri. Piccola Marina“ von Rainer Maria Rilke.

Was mich an der Interpretation von Jan Volker Röhnert als erstes störte, war der Bezug auf die Sirenen, der im Wortlaut des Gedichtes nicht begründet ist. Zudem ist durchaus nicht gesichert, wo sich die Antike den Sitz der Sirenen vorgestellt hat, Capri ist nur die beiläufigste unter den überlieferten Möglichkeiten. Was auch immer die Capresen dazu erzählen…

Die Idee von den zwei Gesichtern Capris und dem doppelten Boden des Gedichtes scheint mir ganz unglaubwürdig dargestellt, auch der Hinweis auf die private Situation (Rilke mit Freundin im „Rosenhäuschen“, Sonntagsbriefe an die Ehefrau in Ägypten) ziemlich überflüssig. Ärgerlich wird es erst bei den Zeilen:

uraltes Wehn vom Meer, / welches weht / nur wie für Ur-Gestein, / lauter Raum / reißend von weit herein …

[Einmal ist das „uralte Wehn“ mit „du“ angesprochen, als gäbe es eine gemeinsam geteilte Sprache;] das zweite Mal rückt es in Distanz: „nur wie für Ur-Gestein“ – da ist die Elementarmusik nur im Vergleichspartikel abrufbar; das Wie trennt die Sprache der stummen, aber keineswegs lautlosen Dinge vom menschlichen Logos, der sie nur beschwören, nicht aber ,verstehen‘ kann. Der „laute Raum“ will unentwegt gedeutet sein, was mit den rhetorischen Künsten der Sprache gerade nicht oder nur vorläufig gelingen kann.

Ein unangenehmes Missverständnis, Rilkes Raum als „laut“ wahrzunehmen, zumal es dann wohl heißen müsste: „lauten Raum reißend von weit herein“.

Rilkes Wort kommt jedoch nicht von „laut“, sondern von „lauter“ im Sinne von „nichts als“. Beispiel: „Vor lauter Rauch konnte ich im brennenden Haus wenig sehen .“

Der Raum Rilkes kann also sehr wohl völlig lautlos sein, in erster Linie ist es sehr viel Raum! „Uraltes Wehn“ (…) reißt lauter Raum von weit herein, oder aber: „reißend von weit herein“ – das heißt: „lauter Raum“ kann durchaus als Akkusativ verstanden werden.

Vollends unverständlich wird die Interpretation mit der folgenden Feststellung:

Das Bild des „treibenden Feigenbaums“ schließlich enthält schon die Blätter, die sich ohne Blütenstand unmittelbar aus der Knospe in die Sonne hinein entrollen: Hände, die die Welt begreifen wollen.

Wird hier vorausgesetzt, dass sich ein Blatt normalerweise aus einer Blüte entwickelt und nur in diesem Fall unmittelbar aus einer Knospe als Blatt entrollt? Das wäre biologisch widersinnig.

Von der Form der Blätter, die sich in die Sonne (!) entrollen und wie Hände das Äußere zu be-greifen suchen, sagt Rilke nun leider gar nichts.

Zweifellos ist es ein spektakulärer Anblick, wenn die Feigenbäume im Vorfrühling ihre Blätter auszutreiben beginnen. Und sich dieses bei Mondschein und zudem aus der Innensicht des Feigenbaums vorzustellen, wäre eine hochpoetische Angelegenheit und vielleicht im Sinne Rilkes. (Mir fällt ein japanisches Haiku ein: „O süßes Mondlicht. Wenn ich wiedergeboren werde, möchte ich ein Föhrenwipfel sein.“) Aber so will es der Interpret nicht verstehen, sondern irgendwie verquer.

Kurzes Fazit: Zu viele eigene Gedanken in dieser Interpretation, zudem fehlerhafte und solche, die mit Rilkes Intentionen wenig zu tun haben

Der mündliche Vortrag des Gedichtes macht mich im vorliegenden Fall auch nicht glücklicher. Vor allem der Schluss hat ein viel zu hohes Tempo, wirkt flüchtig und bedeutungslos:

O wie fühlt dich / ein treibender Feigenbaum / oben im Mondschein.

Da bin ich wieder!

JR von Emanuel small

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