Oder eher zu Teodor Currentzis
Vor langer Zeit habe ich einmal Yehudi Menuhin im Bonner WDR-Studio getroffen, um ihn für die Sendung „Klassik nach Wunsch“ zu befragen (2.1.1985). Er dirigierte damals Mozarts Oper „La clemenza di Tito“, und ich hatte mir vorgenommen ihn zu verlocken, etwas Kritisches über den Inhalt zu sagen. Fehlanzeige: er rühmte die tiefe Menschlichkeit des Werkes und sprach von Frieden und Versöhnung. Daher kommt es auch, dass ich mich für immer mit dem begnügt habe, was Hildesheimer dazu geschrieben hat:
Der „Tito“ hat nicht den Impetus und die Frische, daher nicht die ewig aktuelle Brisanz des zehn Jahre zuvor entstandenen „Idomeneo“, den auch Mozart selbst niemals übertroffen zu haben meinte: das einzige Beispiel der gesamten Opera seria, das strahlend in unsere Zeit überlebt hat, ja, jetzt erst eine Renaissance erfährt. Vergegenwärtigen wir uns aber, daß die Seria als Gattung heute nur höchstens den Wert des Museal-Schönen hat; daß wir sie, da wir in ihren Gestalten nicht uns selbst erkennen vermögen, gewissermaßen in Parenthese hören, so bleibt der „Tito“ dennoch ein Sonderfall: unaufführbar und aufführenswert zugleich, und immer Gegenstand des Experimentes, eine Musik zu retten, die sich an einem wertlosen Papiermonument aufrankt, ohne es, letzten Endes, gänzlich verdecken zu können.
Quelle Wolfgang Hildesheimer: Mozart / Suhrkamp Frankfurt am Main 1980 (Seite 319)
Nun scheint das Experiment vollkommen gelungen, diese Opera seria mit einem wahrhaft ernsten Stück Kirchenmusik zu verbinden, der C-moll-Messe, und einer grandiosen theologisch-philosophischen Idee zuzuordnen, die aus dem desolaten Zustand der Welt abgeleitet ist.
Man höre (ohne Scheu) alles, was Peter Sellars dazu sagt: die Identität von Täter und Opfer. Aber vor allem das, was man von Currentzis erfährt. Mit eindrucksvollen Film- und Tonbeispielen, abrufbar HIER (Das ERSTE, Titel, Thesen, Temperamente ttt) und dort auch im Schriftsatz nachlesbar:
„Was mich in meinem Leben in den letzten Jahren am meisten bewegt hat, waren die Reaktionen nach den Terroranschlägen“, sagt Peter Sellars. „Als Tausende spontan auf die Straße gingen, mit Blumen und Kerzen und damit zum Ausdruck brachten, unsere Liebe ist größer als euer Hass, der Bomben legt in Flughäfen oder Bahnhöfen. Ich fragte also Teodor Currentzis, was wäre die Musik für eine solche Demonstration von Trauer und Liebe und er sagte, ohne nachzudenken, das Kyrie der C-Moll Messe.“
Mozarts Sakralmusik unterbricht die Handlung. So wird aus dem etwas kruden Plot ein Appell an das große Ideal der Versöhnung. „Mozarts Zeit war noch nicht reif für die Idee echter Versöhnung“, sagt Sellars. „Vergebung durch einen Herrschenden ist ja keine Versöhnung. Aber um der Gewalt, die heute überall herrscht, entgegenzutreten, brauchen wir Versöhnung, brauchen wir wahre Größe. Und Mozart hat die Musik geschrieben für dieses Größere, zu dem der Mensch fähig ist.“
Die berühmte Arie „Parto!“ ist eine einsame Reise durch Stille und Angst. Sie wächst an dieser schwierigen Rolle, sagt Marianne Crébassa. „Manchmal liegt die eigentliche Handlung ja in der Stille. Nichts zu machen, gegenwärtig zu sein. Das ist auch das, was Teodor Currentzis will. Er sagte immer: Lass dir Zeit. Wenn du eine Phrase gesungen hast, bleib bei dir und dann mach weiter.“
Qui tollis peccata mundi. „Du nimmst hinweg die Sünden der Welt.“ Der Chor bildet zwei Kreise. Einen um den Täter und einen um das Opfer. Es ist das Bild des Abends. Die große Affirmation. Kunst, die daran glaubt, dass Menschen Menschen erlösen. „Titus ist hier ja auch nicht mehr der große singuläre Herrscher“, sagt Sellars. „Er ist immer mit den anderen verbunden, Teil des Ensembles. Mozart zeigt, wie das aussehen könnte. Es geht nicht darum, eine Wahrheit durchzusetzen. Wahrheit, das ist ein Duett. Da werden beide Wahrheiten zu einer neu[n]en – in Zeit und Raum.“
Auch den anderen Film sollte man sich ansehen: über Teodor Currentzis HIER. Und den Text mit der Überschrift: Klang ohne Spiritualität ist nur Geräusch. Ein kleines Foto, T.C. mit hochgerecktem Kopf, wie unter der Dusche, Bildunterschrift: „Ein tiefgläubiger Mann.“ Ich hätte frevlerisch gesagt: Der Jürgen Klopp des modernen Musikbetriebs. Nein, das will ich keineswegs gesagt haben. Wir brauchen diese von ihrem Beruf Besessenen. Soeben hatte er gesagt:
Wenn du Dinge entdecken kannst, die niemand anderes sieht, dann musst du dieser Sache dein Leben und deine Zeit widmen und das in die Welt holen. Musik bedeutet ja nicht, eine Geige zu spielen oder zu singen oder zu komponieren. Musik ist eine Vorstellung, die darüberhinaus geht.
Und dann kommt der Satz vom Klang ohne Spiritualität, – jenem berühmten Satz von Bach nachempfunden, Musik ohne Gott sei nichts als „ein teuflisches Geplärr und Geleyer“. Was in der alten Zeit aber wohl noch jeder unterschrieben hätte. (Bach hat ihn nicht erfunden.)
Currentzis, 45, Grieche mit russischem Pass, hasst Routine, das Wort Berufsmusiker und einen Kunstbegriff, der auf Entertainment zielt. Klang ohne Spiritualität, sagt Currentzis, ist nur Geräusch. Er ist ein tiefgläubiger Mann und redet sehr selbstverständlich von dieser jenseitigen Welt. „Du musst zum Ursprung zurückgehen. Zu dieser ewigen, universellen Stille. Die tragische Schönheit von Klang wahrnehmen, der von hier aus in die Welt kommt. Da ist die Energie. Die Energie ist die Zerstörung der Stille durch diesen ersten Klang.„
Selbst Klang sein, statt nur Zuhörer. Bei der Uraufführung von „The Riot of Spring“ schickt Currentzis einen Ton auf die Reise. Musiker spielen ihn nach und lassen andere auf ihren Instrumenten spielen. Ein anwachsender Klang, der alle im Raum einbezieht.
Der ttt-Beitrag im ERSTEN (6.8.2017) stammt – wie diese verschriftlichten Texte – von Angelika Kellhammer.
Man zögert unwillkürlich, es kann doch nicht alles wahr sein – oder: nicht alles wahr bleiben? Mit Beginn der Spielzeit 2018/19 wird dieser Mann nicht weit von uns als Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters wirken. Schwer vorstellbar: eine Mischung aus Berserker und indischem Eremiten, – fest angestellt.
Mir klingt sein Bekenntnis zur Stille und zum wahren Ursprung des Klangs wie das Abstract eines indischen Textes, den ich oft zitiert habe. Aber kann man damit leben und arbeiten? Gewiss, die Hoffnung ist stärker als der Glaube.
Text: Vidya Rao / Quelle: Music Today CD A-92017 Music Appreciation New Delhi 1992
Was mir besonders im Gedächtnis bleiben wird: die Einbeziehung des Klarinettisten ins Bühnengeschehen, auch die kollektiven Bewegungen des Chores oder die angedeutete Choreographie der beiden Sängerinnen im Duett: genau das, was mich auch in einer Johannespassion beeindruckte (hier). Nicht die Show, sondern die sparsame Übertragung der inneren musikalischen Bewegung nach außen. Wenn ich jetzt die Arie des Sesto in einer ganz anderen Aufnahme erlebe, sehe ich auch den Klarinettisten. (Übrigens habe ich mir auch die Noten von IMSLP/Petrucci ausgedruckt.)
Zum Schluss möchte ich betonen, dass ich diesen „Titus“ natürlich nicht gesehen habe; was ich darüber weiß, haben ich nur dem begeisterten Bericht in ttt zu verdanken. Und an der Youtube-Aufnahme mit Vesselina Kasarova (Dirgent Harnoncourt) erkennt man, dass die Musik wohl doch nicht erst unter Teodor Currentzis erfunden wird. Sie wird vielleicht mit allerhöchstem Ehrgeiz neu inszeniert. Und mit einem prophetischen, ja fanatischen Gestus zur Aussage gezwungen: „Wenn du Dinge entdecken kannst, die niemand anderes sieht, dann musst du dieser Sache dein Leben und deine Zeit widmen und das in die Welt holen.“ Das kann einem auch Angst machen.
Der hochgeschätzte Kollege Jan Brachmann hat im November des vergangenen Jahres in der FAZ eine sehr bedenkenswerte Analyse des Currentzis-Hypes geschrieben: HIER. Überschrift: „Wir Terroristen haben wenigstens Mumm“ / Der Dirigent Teodor Currentzis verdreht der Musikwelt gerade den Kopf. Sein Rebellentum ist genau kalkuliert.