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Musik und Allmacht

Lieber das Buch lesen oder ein solches Gespräch hören?

Je länger, desto motivierter. Und erst recht, wenn die beiden Protagonisten auf die Musik zu sprechen kommen, – der die grenzenlose Verfügbarkeit Schaden zufügt. Es sind wohl Pop-Hörer, aber was sie sagen, gilt auch in der Klassik.

Pressetext Suhrkamp

Unverfügbarkeit

Das zentrale Bestreben der Moderne gilt der Vergrößerung der eigenen Reichweite, des Zugriffs auf die Welt: Diese verfügbare Welt ist jedoch, so Hartmut Rosas brisante These, eine verstummte, mit ihr gibt es keinen Dialog mehr. Gegen diese fortschreitende Entfremdung zwischen Mensch und Welt setzt Rosa die »Resonanz«, als klingende, unberechenbare Beziehung mit einer nicht-verfügbaren Welt. Zur Resonanz kommt es, wenn wir uns auf Fremdes, Irritierendes einlassen, auf all das, was sich außerhalb unserer kontrollierenden Reichweite befindet. Das Ergebnis dieses Prozesses lässt sich nicht vorhersagen oder planen, daher eignet dem Ereignis der Resonanz immer auch ein Moment der Unverfügbarkeit.

Mit dem Resonanz-Phänomen hatte ich mich damals auseinandergesetzt. Kritisch? Rat an mich also: noch einmal ansehen, präparieren, repetieren:

Resonanz

Subreption

Unruhe und rasender Stillstand

Ethnologie im Alltag

Musikbezug ab 34:50 (Umgang mit CD, physischen „Konserven“ ↔ Spotify, youtube u.ä):

Oder hier:

https://www.zdf.de/gesellschaft/precht/precht-236.html hier

ZDF Pressetext

Was macht das mit unserem Bewusstsein von der Welt und von uns selbst? Bekommen wir das Leben durch diese digitale Welterweiterung besser in den Griff oder verlieren wir es aus dem Blick? Macht die digitale Technik uns freier und mächtiger oder abhängiger und ohnmächtiger? Darüber spricht Richard David Precht mit dem Soziologen Hartmut Rosa.

Plädoyer für „Unverfügbarkeit“

Hartmut Rosa beschäftigt sich als Wissenschaftler und Autor mit der digitalen Moderne und hält ein leidenschaftliches Plädoyer für die „Unverfügbarkeit“, wie er es nennt. Unverfügbar sind all die Dinge in unserem Leben, die sich nicht nur unserer, sondern auch der digitalen Kontrolle entziehen können.

Das zentrale Versprechen moderner Technologie sei doch die Bequemlichkeit, so Richard David Precht im Gespräch mit Hartmut Rosa. Mit ihr können wir mühelos über uns und die Welt verfügen und sie kontrollieren. Wir sehnen uns danach, eine immer komplexere Wirklichkeit beherrschbarer und zugänglicher zu machen. Das sei doch das natürliche Streben des Menschen, spätestens seit er vom Jäger zum Sammler wurde.

Trügerisches Gefühl von Allmacht und totaler Kontrolle

Entscheidend dafür, dass die Wahrnehmung der Welt wirklich glücken kann, hält Hartmut Rosa dagegen, sei eine lebendige Resonanz zu den Menschen und Dingen. Diese Wechselbeziehung gehe verloren. Viele dieser ursprünglich lebendigen Verbindungen werden in unserem modernen digitalen Lebensgefühl immer indirekter und eindimensionaler. Und wir wiegen uns, so befürchtet Rosa, in einem trügerischen Gefühl von Allmacht und totaler Kontrolle, das uns letztlich von der Welt zu entfremden droht.

Wir sind immer weniger auf andere Menschen angewiesen und verlernen dadurch, mit dem Unberechenbaren umzugehen. Wie zum Beispiel Touristinnen, die eine Kreuzfahrt mit „Polarlichtgarantie“ oder eine Safari mit „Löwengarantie“ buchen und ihr Geld zurück haben wollen, wenn die versprochenen Naturereignisse ausbleiben. Sie haben ein anderes Verhältnis zum Leben und zur Welt als ein Mensch, der sich darüber freuen kann, dass plötzlich und unerwartet der erste Schnee fällt.

Scheinbar immer weniger angewiesen auf andere, machen wir uns gleichzeitig immer abhängiger von einer Technik, die jederzeit funktionieren und verfügbar sein soll. Trotz des enormen technischen Fortschritts bekommen wir aber weder globale Krisen wie den Klimawandel noch die Corona-Pandemie in den Griff. Hier droht für Hartmut Rosa die Unverfügbarkeit ins Monströse umzuschlagen, in einen völligen Kontrollverlust.

Ganz in der Tradition der kritischen Theorie sucht und forscht der Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa nach Gegenkonzepten zu unserer allgegenwärtigen Erfahrung der Entfremdung und Beschleunigung. In seinem Buch „Unverfügbarkeit“ macht er das moderne Streben nach vollkommener Verfügbarkeit und Kontrolle für ein Verstummen der Welt verantwortlich. Wie die menschliche Beziehung zur Welt glücken könnte, hat er in seinem Werk „Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung“ untersucht.

Das Buch ist da:

Resonanz

Erste Annäherung

Der Text klingt auf den ersten Blick vielleicht kompliziert, andererseits aber gilt es ja gerade die falsche Abkürzung zu vermeiden und nicht zu sagen: mir geht es ums bloße (voraussetzungslose) Hören. Denn das ist keine Tugend. Damit landet man ganz schnell bei leerer Meditationsmusik.

ZITAT

Gewöhnlich knüpfen kultur- und sozialwissenschaftliche Resonanzkonzepte in direkter oder metaphorischer Redeweise an musikalische Vorstellungen an, in denen ein extrem performativ ausgerichteter Musikbegriff zum Tragen kommt und Musik nicht als Gegenstand – weder als abstrakter noch als singulärer – begriffen wird, sondern eine „reine Beziehung“ sein soll; nicht entscheidbar, ob innen oder außen befindlich, im Raum oder im Hörer angesiedelt, vielmehr beides gleichermaßen. Kunst wird als Erfahrung gedacht, die mit dem Ausdruck „Resonanz“ gebündelt werden soll. Resonanz sei eine Erfahrung, die affektiv nicht neutral sei, sondern ein mehr oder minder intensives Erleben beinhalte. Musik als Medium konkreter Inhalte, als Medium definierten Sinns hingegen wird verneint. Definierter Sinn, der immer der Objektivierung bedarf, und Resonanz werden auseinandergehalten. Musik vermittelt demnach keine Inhalte, sie vermittelt leiblich und emotional Grundstimmungen.5 Das Erleben steht im Vordergrund, die Rolle kognitiver Vermittlung für das Erleben wird umgangen. Musik sei das Medium, „das Modi, Transformationern und Intensitäten der Weltbeziehungen unmittelbar, das heißt ohne kognitive Projektion oder Vermittlung, zum Ausdruck zu bringen vermag“6, schreibt Hartmut Rosa. Ein wenig differenzierter sieht dies Christian Grüny. In der Musik erlebte Resonanz hängt für ihn auch von der Vertrautheit mit bestimmten, je nach Musik verschiedenen Regeln ab, etwa denen der Tonalität, der Harmonik etc. Wer nicht über derlei Regeln verfüge, nicht an sie gewöhnt sei, dem mangele es unter Umständen an der Resonanzfähigkeit für die ihnen entsprechende Musik. Gleichwohl konstatiert auch er für die Resonanz ein „Überwiegen des pathischen Moments, von einem primären Bewegtwerden, das deutlich über einen bloßen Anstoß hinausgeht“.7 Von denselben oder zumindest sehr eng verwandten Vorstellungen von Musik geht Sören Kierkegaard bei der metaphorischen Bestimmung des musikalisch Dämonischen aus, freilich mit ganz anderem Resultat.

Quelle Boris Voigt: Metapherntanz auf dem Brocken / Musik & Ästhetik Klett-Cotta Stuttgart Juli 2020 (Seite 38f, in den Anmerkungen 5-7 auffindbare Quellenangaben folgen als Scan, dabei interessiert insbesondere: Christian Grüny: Die Kunst des Übergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik, Weilerswist 2014)

In diesem Moment kann ich rückkoppeln und mich zugleich hindern, bei einem früheren Ansatz stehenzubleiben: siehe „Wann ist Musik?“ hier. Christian Grüny hat auch Susanne K. Langers großes Werk „Fühlen und Form“ übersetzt und mit einer großen Einleitung versehen. In seinem Werk „Kunst des Übergangs“ widmet er das dritte Kapitel dem Phänomen „Resonanz“ und bezieht sich darin ausführlich auf Ernst Kurth und Viktor Zuckerkandl. Zugleich wird ein kritischer Neuansatz unumgänglich.

Der Aufsatz von Boris Voigt wirkt in diesem Zusammenhang noch willkommener, weil er eine Verbindung zur „Ästhetik des Hässlichen“ nahelegt, die mich in den letzten Tagen aufs neue ernsthaft beschäftigt hat. Um diese Verbindung plausibel zu machen, zitiere ich auch den weiteren Text, der sich dem Negativen zuwendet:

Interessanter noch als die begrifflich problematische Konstitution der Resonanzkonzepte ist ein anderer Umstand. Trotz ihrer weiten Ausdehnung finden in sie bestimmte Phänomene keinen Eingang, die aber erheblich näher an dem sind, was mit dem Ausdruck „Resonanz“ möglicherweise gemeint sein könnte, als viele der von den Verfassern von Resonanzkonzepten betrachteten Gegenstände. Das wären etwa Phänomene wie Jagd, Kampf, Krieg oder Progrom, manche Spielarten des Betrugs wären ebenfalls einzubeziehen. Letztere deshalb, da einige Formen von Betrug erst durch hohe Empathie mit dem Betrugsopfer möglich werden. Die destruktive Seite dessen, worauf der Ausdruck „Resonanz“ angewandt wird, erfährt eine nahezu systematische Ausblendung, abgesehen von dem Zugeständnis, Resonanz sei auch Macht- und Herrschaftsverhältnissen einbezogen.8 Grüny ist insofern eine Ausnahme, als er eingehend den Einsatz von Musik als Folterinstrument erörtert, den er ausdrücklich als „Resonanzfolter“ bezeichnet.9

Quelle Boris Voigt: Metapherntanz auf dem Brocken a.a.O.

Notizen zum späteren Gebrauch

Spiegel! …. Noch eine Rückkopplung: hier !

Musik-Folter Grüny Seite 117 Link nicht auffindbar – aber Text hier

Eminem  „Real Slim Shady“ / David Gray „Babylon“

In der Tat spielt nun auch in dem (innerhalb desselben Heftes Musik & Ästhetik) vorhergehenden Artikel von Pfleiderer und Rosa, der die Resonanz zum Thema hat, das Hässliche – oder sagen wir: das weniger Schöne – eine Rolle, etwa in Schuberts „Leiermann“. Zugegeben: ich habe es nie im Leben so, wie andere Lieder der „Winterreise“ – etwa „Das Wirtshaus“ – separat aufgerufen, um es zu genießen. Ich fand es bedeutend, aber nicht „schön“, nur trostlos. ABER… (es lässt sich gut didaktisch „behandeln“, und zwar auch von Leuten, die sich nicht besonders für Schuberts Schönheit interessieren).

Eben eingetroffen:

 1853 Digitalisat des Originals hier / Man behalte im Sinn, dass wir uns hier in der Zeit befinden, in der Baudelaire seine „Fleurs du Mal“ („Blumen des Bösen“) veröffentlichte.

  

Die Systematik vermittelt bereits eine leise Ahnung, wie konservativ und sittenstreng der Hegelschüler mit den hässlichen Dingen verfahren wird. Die folgenden Seiten zeigen, wie er ein glänzend loses Mundwerk wie das des Dichters Heinrich Heine (gest.1856) unter dem Stichwort „Das Rohe“ abstraft:

Quelle Karl Rosenkranz: „Ästhetik des Häßlichen“ Reclam Universalbibliothek Nr. 19298 Stuttgart 1990, 2015

Lesenswertes Nachwort von Dieter Kliche: Pathologie des Schönen – Die „Ästhetik des Häßlichen“ von Karl Rosenkranz ab Seite 458, auch hier fällt schließlich der Name Baudelaire, der den Umschwung der Ästhetik bezeichnet.

[Rosenkranz] versteht das Häßliche, das „Negativ-Schöne“, als einen Teil der Ästhetik, auf gleiche Weise ihr zugehörig wie zur Biologie die Krankheit, zur Ethik das Böse, zur Rechtswissenschaft das Unrecht und zur Religionswissenschaft die Sünde. (…)

Die lange und sorgsam gehegte ästhetische Werteeinheit des Wahren, Guten und Schönen steckte tief in der Krise, und der späte Heinrich Heine sah mit dem Heraufkommen des Proletariats und von dem drohenden „Gespenst des Kommunismus“ die Schönheit überhaupt in ihrem Bestand bedroht.

Über solche und ähnliche Gründe für die Emanzipation des Häßlichen gegenüber dem Schönen spricht Rosenkranz kaum. Allenfalls im Subtext (…)

[endet mit den Sätzen S. 481f:]

Dem Aufklärer und Hegelianer Karl Rosenkranz lag natürlich daran, diese Zweifel an der Vernünftigkeit der Welt zu entkräften, aber die bohrenden Fragen blieben. Damit wurde es aber auch zweifelhaft, ob das Schöne noch die Macht sein konnte, „welche die Empörung des Häßlichen seiner Herrschaft wieder unterwirft“. Mit dieser neuen, schärferen Negativität des Häßlichen wurde ein neuer Zyklus seiner Geschichte eröffnet, der jenseits von Rosenkranz‘ „Ästhetik des Häßlichen“ beginnt und in Charles Baudelaire seinen ersten poetischen Protagonisten hat. Die „Blumen des Bösen“ von 1857 sind eine neue und neuartige Ästhetik des Häßlichen.

*    *    *

Ich hatte nicht geahnt, dass diese neue Lektüre-Saison mich dazu führen würde, diesem Vertreter einer alten Ästhetik doch ein gewisses historisierendes Verständnis abzugewinnen, das den Umschwung zur „Struktur der modernen Lyrik“ dann um so schärfer erfassen lässt. Noch weniger, dass der grundlegende Artikel über „Musik als Resonanzsphäre“, der dem von Boris Voigt vorausgeht, nach einigen Repetitionen eine immer stärkere Aversion auslöst. Es erinnerte mich an die frühe Begegnung mit Joachim E. Berendt. Wahrscheinlich ist es die Klassikferne, die gerade dort zutage tritt, wo sie überwunden scheint, indem das Performative hervorgekehrt wird. Das könnte mich als ausübenden Künstler erfreuen, andererseits ist es so, dass mich das Werk im emphatischen Sinne mehr interessiert als das, was ein beliebiger Rezipient dabei empfindet. Seine Resonanzerfahrung langweilt mich. Die Gründe dafür müsste ich natürlich ausführlicher darstellen, nehme mir daher vor, das Thema im übernächsten Blog-Artikel noch einmal vorzunehmen, um vorher bei den Bachschen Werken BWV 1001-1006 zu verweilen, von denen jedes ein opus perfectum et absolutum verkörpert, und zugleich eine Darstellung verlangt, die nicht statuarisch wirkt, sondern von Leben sprüht. Eine neue Aufnahme, in sensationeller Perfektion, – bietet sie eine neue Resonanzerfahrung? Das Label ECM könnte darauf hoffen lassen.

Quelle Martin Pfleiderer und Hartmut Rosa: Musik als Resonanzsphäre / Musik & Ästhetik 24,3 / 2020, 5-16 Klett-Cotta Stuttgart Juli 2020

Subreption

Was ist „Natur“?

Ich schließe an den vorigen Blog-Artikel an, nur um diesen Zusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren. Es geht um die Resonanztheorie Hartmut Rosas und vor allem um Kierkegaard, sowie an dieser Stelle auf den im 18. Jahrhundert gebräuchlichen Begriff der Subreption, eine „fehlerhafte Erschleichung, Unterschiebung oder Verwechslung, in der etwas für etwas anderes ausgegeben wird, als es ist“ (Boris Voigt).

Eine weitere Subreption findet sich im Umgang der Romantiker mit der Natur, die ihnen ebenfalls Projektionsfläche des eigenen Inneren ist, ohne dass eine wirkliche Begegnung mit ihr gesucht werden würde. Die äußere Natur ist lediglich Gegenstand der Naturbeherrschung. Das gilt auch für die Musik. Wilhelm Heinrich Wackenroder beispielsweise betrachtet sie nach ihrer Außenseite hin als lebloses, aufs Funktionieren ausgerichtetes Maschinenwerk. Nur nach der Innenseite hin entfaltet die Maschine geheimnisvolle sympathetische Beziehungen. Dieselben Schwierigkeiten begegnen in der Verbindung von Musik und Sozialem. Das Gemeinschaftsideal in der Romantik beruht auf völliger Übereinstimmung des eigenen Inneren mit dem Inneren der anderen. Die soziale Welt gerät zur Projektionsfläche der eigenen Subjektivität. Fügt sie sich nicht dem eigenen Inneren, werden die anderen Menschen zur Belastung. In Wackenroders Erzählung Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger ruft die titelgebende Figur aus: „Ein dreifaches Unglück für die Musik, daß bei dieser Kunst grade so eine Menge Hände nötig sind, damit das Werk nur existiert! Ich sammle und erhebe meine ganze Seele, um ein großes Werk zu Stande zu bringen: – und hundert empfindungslose und leere Köpfe reden mit ein [ … ].“

Letztlich unterliegen weniger die Romantiker selbst in ihrem Denken der Subreption als vielmehr etliche ihrer heutigen Interpreten, etwa wenn der Romantik ein Gegensatz zum instrumentellen Denken unterstellt wird oder die Romantik als ein Streben nach Überwindung der Trennung „vom großen Lebensstrom der Natur“ interpretiert wird oder von einer „Rückführung zur Verbindung mit der Natur“ die Rede ist. Eine solche Romantikinterpretation liegt auch Rosas Resonanzinterpretation zugrunde. Allerdings erkennt er in aller Schärfe das Dilemma, in den die Moderne als historischer Sonderfall prinzipiell verstrickt ist, deren epistemischer Horizont sich nämlich dadurch auszeichnet, dass er „strikt zwischen einer beseelten Kultur und einer stummen Natur unterscheidet“.

Quelle Boris Voigt: Metapherntanz auf dem Brocken / Musik&Ästhetik Klett-Cotta Stuttgart Juli 2020 (Seite 54f im Orig. mit Quellenangaben Charles Taylor, Rosa, Chr.Utz )

Private Nachbemerkung

Kierkegaard: jetzt erst nehme ich ihn ernst, dabei habe ich ihn doch früh entdeckt (im Anschluss an Nietzsche), fand die Themen gut (Mozart „Don Giovanni“), aber die Darstellung langatmig bis langweilig. Mich störte vor allem die komplizierte Christlichkeit. Woran sich nichts änderte, auch als ich den Erstdruck der Dissertation (?) von Adorno besaß. Ich verstand sie nicht, während ich für alles andere von ihm, inclusive Radiovorträge, die ich von der Tonbandaufnahme abschrieb, viel Mühe aufwandte. In den 60er Jahren könnte ich anhand der Anschaffung von Taschenbücher die allmähliche Politisierung verfolgen. Empörung über den Vietnamkrieg. Obwohl ich heute dank Internet an einem Tag mehr z.B. über den wahren Rudi Dutschke erfahren kann als damals in Wochen und Monaten. Ich las ja nicht mal täglich Zeitung. Machte aber die Wendung von Adorno zu Herbert Marcuse mit. Heute in der ZEIT mit 10 Minuten Lektüre dreier vielzeiliger Seiten „Cohn-Bendit“ , – auch ein ganzes Leben. (Er gehört für mich „erinnerungstechnisch“ in die Nähe von Walter Mossmann, der später sogar in unsrer WDR-Matinee auftrat, was mir – nun irgendwie dem establishment zugehörig – schlaflose Nächte verursachte.)

All dies zu erwähnen hat natürlich mit dem Thema dieses Artikels nur noch wenig zu tun, kommt mir aber bei der Resonanztheorie unweigerlich in den Sinn. Wie auch das „Abdriften“ nach Indien, das mich quasi nebenbei prägte, bei mir allerdings aus vielen Gründen nicht zu Pilgerfahrten führte, wie sie in der studentischen Jugend damals Mode wurden (ich war kein Hermann-Hesse-Leser). Jedenfalls steht dies im Hintergrund, wenn ich mich weiter mit dem Resonanzdenken beschäftige. Auch als notwendiges Umwegprogramm.

Und jetzt nur Mut! Und Zeit! Auf Seite 21 zitiert er aus der

„Ästhetik des Häßlichen“ des von ihm [Kierkegaard] hoch geschätzten Rosenkranz, die zehn Jahre nach „Entweder/oder“ erschien…

Mehr darüber in der merkwürdigen Quelle hier. Und neuerdings auch hier.

Eine große Zeitung

Daran erkenne ich sie:

 .    .    .    .

Sie passt nicht nur zu Silvester, sondern auch zum Neujahrsmorgen. Und im Streiflicht, das man gern als erstes liest, erscheint sogar, wie von vielen Menschen gewünscht, die inzwischen bekannte rhetorische Jahresendfigur als Satire: „Heute ist die Oma der weiße alte Mann unter den Frauen.“

Andere Themen, die uns zu Beginn eines neuen Jahrzehnts unter den Nägeln brennen, lassen sich in neuer Beleuchtung nachlesen. Ich hatte mir längst ein Büchlein ans Bett gelegt, um bei plötzlich auftauchender nächtlicher Melancholie gewappnet zu sein. (Ehrlich gesagt: das erste, was mir heute beim ersten Sonnenstrahl – den gab es wirklich!!!! – einfiel, war die Frage, warum das Schubertlied vom Heideröslein mir in meiner Kindheit viel weniger gefallen hat als das Volkslied und weshalb das ganze Schulmusikstudium, bei dem solche Vergleiche immer zugunsten der Klassikerversion ausfielen, nicht geholfen hat, bis dann Elly Ameling kam und alles zugunsten Schuberts wendete. Noch mehr durch das Lied „Frühlingsglaube“: Nun muss sich alles wenden…)

Man wird wieder sagen, dass ich die Holländer bevorzuge, und das vielleicht nur wegen meines Vornamens, den mein Vater gegen meine Mutter durchgesetzt (ihr war der Name zu kurz). Habe ich erwähnt, dass ich Elly Ameling schon einmal zum Hotel Solitude fahren durfte? Vielleicht hier? Und im Neuen Jahr werde ich wieder nach Domburg fahren. Um aber auf das anfangs erwähnte Büchlein zurückzukommen, das wirklich hervorragend ist und auch das im Titel genannt Problem zufriedenstellend löst:

Aber ich würde auch Hartmut Rosa nicht vergessen, – war es nicht ein Gespräch mit Richard David Precht? Jawohl, siehe hier, dafür habe ich ja den (das) Blog: damit ich behalte, was ich vergesse!

Falls ich an diesem Eintrag noch weiterschreibe (das schöne Neujahrswetter lockt in die nahgelegne Ohligser Heide), also: falls, – so sollte es dem „Heideröslein“ gelten. Und nicht der Vergänglichkeit.

Unruhe und rasender Stillstand

Unter dem Eindruck der Lektüre des Buches „Die Unruhe der Welt“ von Ralf Konersmann notiere ich mir zum nochmaligen Hören und Sehen die gestrige PRECHT-Sendung mit dem Beschleunigungs-Analysten Hartmut Rosa. Besonders erstaunlich – angesichts der nächtlichen Stunde und des Themas – das unerhörte Sprechtempo der beiden (sehr einvernehmlichen) Gesprächskontrahenten. Ein Grund mehr, das Gespräch nachzuhören mit der Chance, hier und da die Stopptaste zu drücken. Übrigens weigere ich mich, Richard David Precht als Modephilosophen abzutun: wo gibt es sonst so intensive Gespräche mit Themen, die uns interessieren müssten – außer vielleicht auf Youtube (dort aus alten Zeiten aufbewahrt)? Nebenbei gesagt stammt er aus Solingen, und in philosophischem Zusammenhang erlebt man die Stadt, in der gern die angeblich „Schärfste Klinge“ verliehen wird, wohl ansonsten nur 1mal: zu Beginn der Kantschen „Prolegomena“, deren Vorwort in der Neuausgabe unterzeichnet ist mit „Solingen 7. August 1905“ und dem Namen  Dr. Karl Vorländer.

Zitate aus dem oben (und unten) genannten Buch – auch Hartmut Rosa und den großen Anreger Paul Virilio betreffend – sollen folgen. An dieser Stelle nur der Link zur ZDF-Sendung:

http://www.zdf.de/ZDFmediathek/kanaluebersicht/aktuellste/1704486#/beitrag/video/2420740/Rasender-Stillstand

bzw.

HIER (43:17) Prinzipien: Angst abgehängt zu werden / Mehr Welt erreichbar machen / ab 8:50

⇑ Nicht mehr abzurufen, siehe Restnotizen HIER

Wikipedia zu Hartmut Rosas Habilitationsschrift über „Soziale Beschleunigung. Die Veränderung der Temporalstrukturen“.

Die „technische beziehungsweise ökonomisch induzierte Beschleunigung“ zeigt sich in der rasanten Entwicklung der Technik im 19./20. Jahrhundert und der sozialen Beschleunigung der Menschen. Die Geschichte der Moderne sei gleichzeitig die Geschichte von Beschleunigung. Aufgrund des Zeitgewinns durch technischen Fortschritt entstehe eine Zeitnot und kein Zeitgewinn. Laut Rosa führt die Vielzahl der Möglichkeiten dazu, dass ein Mensch die ihm gegebenen Möglichkeiten nicht mehr im Laufe seines Lebens ausschöpfen kann. Die „Steigerungsrate übersteigt die Beschleunigungsrate“, was dazu führt, dass das gerade Erlebte bereits nicht mehr up to date ist und die Individuen keine Chancen haben „lebensgesättigt“ zu sterben, wie es auch schon Goethes Faust erging. Rosa kreiert das „Slippery-Slope-Phänomen“, welches ausdrücken soll, dass der Mensch sich nie ausruhen kann/darf und sich nie zufriedengeben darf, da er sonst einen Verlust oder einen Nachteil erleiden könnte. Rosa sieht keine Steuerungsmöglichkeiten des Lebens für den Menschen mehr, da sich das Tempo der Beschleunigung verselbständigt habe.

ZITAT Konersmann zu Paul Virilio und Hartmut Rosa (Anm.19 Seite 372)

Die Rede vom Ende der Geschichte ist seltsam diffus und bedient sowohl die Kritik des „rasenden“, technikinduzierten „Stillstandes“ (Paul Virilio) als auch den gegenläufigen Befund leerlaufender, aber auch alternativlos scheinender „Beschleunigung“ (Hartmut Rosa). Das Hegel-Interesse Kojèves, des prominenten Stichwortgebers all dieser Deutungen, ist einseitig, und die Zusammenführung der historischen Spekulationen Antoine-Augustin Cournots (1801-1877) mit der  Phänomenologie von 1807 ist für den aufmerksamen Hegel-Leser kaum mehr als eine elegante Überspitztheit. Anknüpfend an das Herr und Knecht-Kapitel der Phänomenologie möchten die von Kojève zwischen 1933 und 1939 vor einer illustren Hörerschaft gehaltenen Vorlesungen die Politik der sozialen Kämpfe fortsetzen, Hegels Kriterium der Vernünftigkeit jedoch fallenlassen. Damit verliert die von Kojève beeindruckte Leserschaft das Problem aus dem Blick, dem sich Hegel mit der Kopplung von Vernunft und Geschichte gestellt hat: das Problem der Unverfügbarkeit des menschlichen Handelns und der historischen Zeit. Für Hegel ist die Vernunft keine Verlegenheit, kein verschämtes Zugeständnis an den Traditionalismus der Vormoderne, sondern das Mittel der Wahl, um die Unruhe aufzuspalten und zwischen bloßem Tumult und regelrechter Entwicklung zu unterscheiden. Hegel hat die Wächterfunktion der Vernunft immer wieder betont: Niemals darf sie schlafen! (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O., S.23).

ZITAT Konersmann zu seinem eigenen Vorhaben (Seite 17)

Was also ist das für eine Kultur, die sich, ohne dies jemals beschlossen zu haben, der Unruhe verschrieben hat? Und wie ist sie zu diesen Vorentschiedenheiten, die in keinem Katechismus, keinem Verfassungstext oder sonstigem Verhaltenskodex festgeschrieben sind, gekommen? Indem ich diese Fragen stelle, sollte klar sein, dass das vorliegende Buch keine Anklage erhebt und weder Gegenwelten entwerfen noch Ratschläge erteilen will. Es will die Aufmerksamkeit schärfen und herausarbeiten, wie kulturelle Konventionen aufkommen und wie sie durchgesetzt werden. Was mich interessiert, ist die Unwiderstehlichkeit der Unruhe, ist der kulturelle Laderaum dieses Prinzips und die Robustheit der von ihm getragenen Vorstellungswelt.

Quelle Ralf Konersmann: „Die Unruhe der Welt“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015

***

Nachtrag nach einem Jahr: Stimmgabel und soziale Resonanz

In der ZEIT die Besprechung eines neuen Buches von Hartmut Rosa: „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“. Suhrkamp Berlin 2016.

ZITAT

Das merkwürdige (zweifelhafte) Suggestiv der Metapher von der Stimmgabel: so funktioniere der wünschenswerte Kontakt zwischen Menschen. Dabei will er sich nicht mit einer „metaphorischen Verwendung des Begriffs“ begnügen, sondern die Resonanz als „sozialphilosophischen Grundbegriff“ und als „sozialwissenschaftliche Analysekategorie etablieren“.

Dazu muss Rosa die Vagheit der Resonanz verringern – und so landet er am Ende doch bei der Physik, nämlich bei der Stimmgabel:

„Bringt man zwei Stimmgabeln in physische Nähe zueinander und schlägt eine davon an, so ertönt die andere als Resonanzeffekt mit. Wenn Subjekte also im Sinne der Leitthese dieses Buches auf Resonanzerfahrungen hin angelegt sind, so können sie darauf hoffen, als ‚zweite Stimmgabel‘ von etwas Begegnendem zum Klingen gebracht zu werden – oder aber im Sinne der ‚ersten Stimmgabel‘ so lange zu suchen, bis sie ‚Widerhall‘ finden.“

Das klingt gut und schön – ist es aber leider nicht.

Mit dem Resonanzbegriff handelt sich Rosa eine Vorgabe ein, die er pikanterweise nicht erwähnt: Das Spiel mit den Stimmgabeln funktioniert bekanntlich nur, wenn sie genau gleich gestimmt sind. Resonanz steht eigentlich für öden Gleichklang und bestraft jede Abweichung mit Totschweigen. Passenderweise hat deshalb der hierzulande leider kaum gelesene, von Rosa immer beiläufig erwähnte Politikwissenschaftler William Conolly vorgeschlagen, den Kapitalismus mit seiner nivellierenden Wirkung als „Resonanzmaschine“ zu beschreiben.

Quelle DIE ZEIT 16. Juni 2016 Seite 41 Soziologie mit der Stimmgabel / Mehr Resonanz, bitte! Hartmut Rosa will die Gesellschaft, deren Beschleunigung er immer beklagt, durch zwischenmenschliche Anerkennung heilen. Von Dieter Thomä.