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Warum ist die Partita so groß?

Ein nicht enden wollendes Vergnügen

Ich sage nicht: „zu groß“ oder „zu lang“. Ich will mich nicht bei der Jugend anbiedern. Man könnte doch einwenden, ich müsse niemanden überreden, so „große“ Werke des zweifellos „großen“ Johann Sebastian Bach frisch anzugehen, aber nicht leichtfertig, eher mit nachdenklicher, notfalls auch etwas sorgenvoller Miene…  Jedenfalls nicht irgendwie nebenbei. Es genüge auch nicht, nur hineinzuhören, ja, man muss dranbleiben!

Aber stellen Sie sich nur ein jugendliches Publikum vor, das wir gewinnen wollen, – warum schauen wir nicht nach Gleichaltrigen? – gleichaltrig mit wem? (bis wann?) – warten wir erst bis zum Übergang (welchem Übergang?) – nach anderthalb oder nach 3 Minuten? und was geschieht dann??? Sie schlägt ein neues Tempo an und ist nicht mehr zu stoppen. Gibt es etwa ein Thema, das Ihnen im Kopf bleibt? Oder werden Sie eher in einen Strudel hineingezogen, in dem Sie die Orientierung verlieren. Nein, Sie spüren, dass Sie in Schach gehalten werden, es klingt wie entfesselt, aber absolut kontrolliert, 10 Zauberfinger in unablässiger Bewegung, doch ist es kein Tanz, – Sie hören keine  Akzente, die in die Beine fahren, vielleicht schweben Sie auf und davon? Kann man verstehen , was mit uns geschieht, oder was wir während des atemberaubenden Fluges erfahren? Mir hat mal jemand gesagt, als ich mich ratlos zur Bachschen Form äußerte: Haben Sie’s auch schon mit Zählen versucht? Der  Schrecken befällt mich immer noch aufs Neue, wenn ich Analysen mit Zahlen und Bibelverweisen lese. Ja, das gibt es doch wohl zur Genüge. Bis zum Überdruss.

Immer wenn ich früher musikimmanent unter argumentativen Druck geriet, hatte ich einen probaten Notausgang: das wunderbare Büchlein von Clemens Kühn über musikalische Form, das mit einfachen Worten auf die gegebenen Bedingungen zurückführte. So wie hier bei Bachs Arie „Bereite dich, Zion“ mit dem Wort „Fortspinnung“, das zunächst auch nichts anderes besagt als: „es muss doch weitergehn…“ (Hape Kerkeling).

Clemens Kühn: Formenlehre der Musik /dtv Bärenreiter

Aber damit habe ich etwas Wesentliches der großen Form bei Bach noch nicht berührt; sie ist so nicht ohne weiteres erfassbar! Im Gegenteil, sie entzieht sich, ist nicht voraussagbar, wie etwa eine Reprise im klassischen Sonatensatz. Ich habe mich darüber schon vor 8 Jahren ausgelassen und möchte heute empfehlen, das zu rekapitulieren, ohne Eitelkeit, das Wichtigste daran ist ja gar nicht von mir! Leider! Aber lassen Sie ruhig zuerst die Musik mit Schaghajegh Nosrati auf sich wirken. (Vielleicht später noch einmal. Und immer wieder.)

Bachs barocker Bewegungsmodus

Oder wollen Sie zunächst noch Näheres über das Umfeld des Werkes erfahren? Es ist der erste Satz der Partita 4 D-dur BWV 828, dem noch 6 weitere (Tanz-)Sätze folgen. Es gibt 6 große Partiten, einzeln im Laufe vieler Jahre komponiert, Bach hat sie betont leicht annonciert: als „Galanterien, Denen Liebhabern zur Gemüths Ergötzung verfertiget“, als Gesamtwerk zusammengefasst erst 1731. Für den Konzertvortrag schlägt András Schiff eine andere Reihenfolge vor, hier ist seine Einführung.

Zurück von „den Partiten“ zu den Einzelsätzen, die innerhalb jeder Partita (oder Suite) durch die gemeinsame Tonart zusammenhängen und einer (nicht ganz) verbindlichen Folge von Tanztypen entsprechen: Allemande, Courante, Sarabande, Gigue, die durch weitere ergänzt werden können. Tanztypen: sie haben längst nicht mehr das Ziel, den realen Tanz mit seinen wiederkehrenden Figuren zu regeln, sondern beim bloßen Zuhören Vergnügen zu bereiten („Gemüths Ergoetzung“). Unterdessen sind es sogar anspruchsvolle Werke von stattlicher Länge geworden, die nicht mehr ohne weiteres als Ganzes überschaubar sind. Wer sich nicht nur scheinbar beliebigen assoziativen Gedankenketten überlassen will, geleitet durch Worte wie „Fortspinnung“ oder „Reihung“, fragt vielleicht nach Gliederung, Tonartwechsel, Wiederkehr oder dem Sinn der schier endlosen Bewegung, abgesehen von ihrem durchaus wohlklingenden Dauercharakter. Zumal in der heutigen Zeit, wo man das bloße Zeitvergehen allenfalls als „nutzbringend“ einordnet, wenn es „Chillen“ heißt, – was aber zu einer so aktiven Musik nicht passt. Sie aktiviert.

Und löst die Frage aus: Warum? Wozu?

Hören Sie (noch einmal) die Ouvertüre ab 2:35, prägen Sie sich das Thema ein, – obwohl es nichts Besonderes zu sein scheint (!), aber hier tritt solo auf -, und versuchen Sie, jeden neuen Themeneinsatz dingfest zu machen, meist unauffällig, wo auch immer er aufleuchtet in diesem 3-stimmigen Satz, und beachten Sie quasi (!) nebenbei, was rundherum geschieht. Das ist schon viel, – denken Sie nicht „Fuge“ oder „Kontrapunkt“ oder „neues Motiv“, es ist keine Denkaufgabe, kein Test, sondern ein Vergnügen, wie wenn Sie einem Rennen zuschauen, bei dem es nicht um Sieg geht, sondern um Dabeisein, Sichtbarwerden (hörbar), Mithalten, irgendwo Ankommen, gemeinsames Innehalten. Vielleicht sind es Kinder!

Vielleicht haben Sie einige Stationen bemerkt, zeichenhaft Läufe aufwärts, großer Lauf abwärts, oder wenn Sie „Kadenztriller“ passiert haben, ein insistierendes synkopisches Motiv, später wiederkehrend, klingelnde Dreiklangsberechungen, mittendrin Orgelpunkte im Bass auf Fis und auf H, zeichenhaft, aber doch unaufällig, danach starke H-moll-Kadenz bei 4’38 – ist es der goldene Schnitt in der Fuge? egal! -, atemlos akkordgestützte  Tiraden und ein letztes Mal das Fugenthema im Bass, versteckte aufsteigende Tonleiter der beiden Oberstimmen, stark sekundiert vom Bass, gemeinsamer Abstieg aller Stimmen in den letzten drei Takten.

Natürlich kann man Taktmengen notieren, geordnet nach Symmetrien, wobei bevorzugt gleich-lange Partien vermerkt werden. Dabei müsste aber auch eine Rolle spielen, dass das Gleichgewichtsgefühl leicht ausgehebelt wird, bzw. einfach keine Rolle spielt, indem die Gliederungsstationen „überspielt“ werden, und zwar vom Komponisten, der quasi keine visuellen Blöcke schaffen will, sondern ein Kontinuum.

Wieso z.B. soll in der Orchester-Ouverture das Dacapo eine wichtige formale Funktion erfüllen, während es hier beim Solo-Vortrag uns gar nicht zu fehlen scheint? Oder erfüllt hier die relativ langsame Allemande dieselbe Funktion? Man lese die etwas verlegene Behandlung des Problems bei Wikipedia anlässlich der Orchestersuiten:

Dieser erste Satz nimmt oft mehr als die Hälfte des Raums ein, was seine Bedeutung unterstreicht. Er besteht immer aus einer französischen Ouvertüre mit einem ersten Abschnitt im typischen punktierten Rhythmus, einem darauffolgenden Fugato mit umfangreichen konzertanten Passagen und einer – hier immer stark variierten – Wiederaufnahme des Anfangsabschnitts. Wiederholungszeichen am Schluss legen die gemeinsame Wiederholung des zweiten und dritten Teils nahe; da dies für den heutigen Geschmack dem ersten Satz ein zu starkes Gewicht gäbe, wird die Wiederholung heute meist weggelassen.

Oder man schaue sich die ganz andere (großartige) Lösung im ersten Satz der C-moll-Partita an.

Zu diskutieren wäre an dieser Stelle auch die Frage der Doppelpunktierung, die eine Zeit lang  darüber entschied, ob man Ahnung hatte oder noch nicht oder aufs Neue.

T.6 linke Hand, T.7 rechte. (Auch T.2!)

Allgemein: siehe Goebel Texte „Der Kopf macht die Musik“ (1986/2024) S. 152, wie wesentlich es ist, ob es um tutti oder solo geht. Ebenso erhellend Paul Badura-Skoda (1990), der sich auch schon auf Frederick Neumann bezieht und im oben zitierten Takt (T.6) für Doppelpunktierung plädiert: „Bach Interpretation“ Laaber Verlag Seite 71.

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29:14 „Burlesca“ Bachs KOMIK (Hätten Sie das bemerkt?)

Es muss nicht das alte Instrument sein!

Oder geht es hier eher um „innovatives“ Klavierspiel?

Ein Rätsel, von vielen bestaunt. Eher zickig als musikalisch. Unbegreifliche Phrasierungen, aber im Tempo hochvirtuos. Wozu?

Vielleicht doch eher dies? Ohne Extravaganzen, einfach schön.

Goebel – alte Texte wieder frisch

Oder: Ein Vermächtnis aus jungen Jahren, fortgesponnen

Wie soll man darüber reden? Der einst revolutionäre Griff nach der Alten Musik ist brisant geblieben, man staunt, dass wirklich Jahrzehnte vergangen sind, seit man sie – um Bachs und Monteverdis willen – insgesamt zur Kenntnis genommen hat. Und nicht nur dank Reinhard Goebel und in seinem unmittelbaren Umfeld. Es hat insgesamt – man kann sagen: weltweit – Schule gemacht. Man beachte, was allein die Heidelberger Schola – inspiriert durch die Neue Musik – an Projekten entwickelt hat, etwa zum Rätsel Gesualdo da Venosa („Eros und Gewalt“ ).

Zurück zu Reinhard Goebel, dem man heute vielleicht zum ersten Mal auf die Schliche kommen kann, ohne das Gesamtwerk in hundert Einzelaufnahmen und zahllosen verstreuten Quellen um sich versammeln zu müssen. Überhaupt: für seine glänzende Sprache braucht man kein Studium (das hat er selbst schon geleistet), sondern das gleiche unstillbare Interesse an lebendiger Musik, das ihn selber auszeichnet.

Geplant waren einige Anmerkungen, die ich während der Lektüre des Goebel-Buches besonders memorabel fand. So im ersten Text (Seite 15 ff) » Auf der Suche nach der verlorenen Zeit…« die nicht weiter spezifizierte Quelle eines FAZ-Artikels aus dem Jahr 2009, der Goebel zu den Worten veranlasste: „Alles hier über Rezeption und Darstellung des Mittelalters Gesagte trifft auch den musikalischen Barock-Nagel mitten auf den Kopf.“ Schon ist der Goebel-Fan begierig, so detailliert wie möglich zu eruieren, worum es sich dabei handelt, und stößt dabei auf ein Buch, das in der  Anmerkung 1 des Vorwortes einen klärenden Weg zur Quelle anbietet.

¹Mittelalter-Symposion. Das Mittelalter zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Probleme, Perspektiven und Anstöße für die Unterrichtspraxis. 24.09.2009−26.09.2009. Pädagogische Hochschule Freiburg. Vgl. URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=11667 (Konferenzankündigung von Thomas Martin Buck); http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2835 (Tagungsbericht von Nicola Brauch). Siehe auch den Bericht von Maik NOLTE, Das Mittelalter als Wille und Vorstellung. Und der Mediävist als Experte für Requisiten: Zur populären Aneignung einer Epoche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.12.2009, Nr. 302, S. N3.

Das Werk lohnt sich insgesamt als Einübung in die Mediävistik, vorausgesetzt man lässt sich wirklich auf die echte Fährte ein: Hier ist das gesamte Vorwort und die Inhaltsangabe zu dem betreffenden Mittelalter-Symposion, das 2009 in Freiburg stattgefunden hat.

Aus fünf Kapiteln Fankreich von »Le Roi Danse« bis Spätbarock

Man definierte sich in Frankreich ganz einfach und rigoros neu, löste alle alten Bindungen und schuf neue Wege, die Musik optimal der Prosodie der französischen Sprache anzupassen. Selbst der Opern-Prolog diente nicht mehr dazu, die Götter als die das Schicksal bestimmenden Mächte einzuführen. Stattdessen sang man hier unverhohlen das Lob des Herrschers, und slbst des Göttern war es eine Ehre, dem Sonnenkönig zu huldigen: Selten wurd Musik so eindeutig zum Politikum.

Dem reinen, absoluten Gehalt der Sonate oder des Concerto jedoch standen die Franzosen weitgehend ratlos gegenüber. Frankreich geriet in Aufruhr, als nach mehr als 60jähriger Herrschaft des Sonnenkönigs mit Konzerten von Antonio Vivaldi und Giovanni Battista Pergolesis »Stabat Mater« erstmals wieder unpolitische, ihren eigenen Gesetzen gehorchende Musik zur Aufführung kam. (…) Notation der Tanzschritte und der Armbewegungen

Nie aber ist sie intellektuelle Kunst, die um ihrer selbst willen existiert und wahrgenommen werden will. Das Absolute ist ihrem Wesen fremd. (Goebel Seite 27)

Im Jahr 1700 lag übrigens auch eine der Notenschrift im weitesten Sinne vergleichbare Notation der Tanzschritte und der Armbewegungen vor, (…) basierend auf den Vorarbeiten des Monsieur Pierre Beauchamp, der 1635 geboren, noch mit allen Meistern der Frühzeit – Robert Cambert, Molière und Pierre Perrin – gearbeitet und sämtliche Opern und Ballette des königlichen Hofes bis 1686 choreographiert hatte.  (…)

Zum Debütstück für den ersten solistischen Auftritt dieser jungen Mädchen wurde nach 1715 das Werk »Les Caractéres de la Danse« des Lully-Schülers Jean-Féry Rebel, der zwanzig Jahre später mit seinem inzwischen wieder häufiger gespielten »Le Cahos« noch ein weiteres Mal Geschichte schreiben sollte. Die Tänze – sie basieren übrigens auf der Idee des Sonnenkönigs, dass alle Provinzen Frankreich[s] durch einen typischen Tanz am Hofe zu repräsentieren seien – haben alle neben einem charakteristischen Tempo ein klar bestimmtes Figuren- und Bewegungsprofil, und so wurde das Stück zum Prüfungsstück für die Tänzerinnen – nicht nur in Paris, sondern auch in London und Dresden – und obgleich man immer behauptet, dass »Les Caractéres« völlig neuartig gewesen seien, basiert das Werk dennoch auf dem Auftritt des Maître des Danse in der ersten Szene von Molières und Lullys »Bourgeois Gentilhomme«, wo der Tanzmeister dem einfältigen Bürger Jourdain einen kurzen Einblick in seine Kunst gewährt […]. (Goebel Seite 29)

Youtube-Beispiele, an dieser Stelle nicht durch das Buch autorisiert, sondern vom Abschreiber JR als Nachhilfe ausgewählt und eingefügt:

Erinnerung an die Aufnahme vom „Bourgeois Gentilhomme“ mit La Petite Bande unter Gustav Leonhardt (1973):

Man höre sorgfältig die Ausführung der Ouvertüre, insbesondere die Punktierungen, um zu verstehen, was 10 Jahre später geschehen ist. Uns Mitspielern war oft selbst nicht recht klar, welche alten Schriften zur Überpunktierung „berechtigten“ oder warum und ab wann es doch wieder anders zu lesen oder zu interpretieren war. Der Name Neumann (Frederick) wurde genannt, ohne dass damals die leichte Internet-Orientierung von heute vorauszusetzen war, es blieb im ungefähren. Goebels Aufnahmen der Bachschen Ouvertüren entstanden in den Jahren 1982 und 1985, für mich ganz starke Eindrücke, – sie beruhten auf den neuen Überlegungen, die Goebel auch gewissenhaft dargelegt hat (Seite 150 ff). Heute könnte man das hier nacharbeiten: Ornamentation in Baroque and Post-Baroque Music, with Special Emphasis on J.S. Bach (Frederick Neumann 1978).

Goebel:

Diese Auffassung von den synchronisierten Überpunktierungen basiert eindeutig auf Fehlübersetzungen und -interpretationen der Flötenschule von Quantz (XVII. Hauptstück, VII. Abschnitt, § 58).

(…) Für den Tuttisten um 1720 galt genau die gleiche Regel wie für den Tuttisten des 20. Jahrhunderts: Kein rhythmischer Wert wird verändert. Wenn Quantz dennoch von scharfen Punktierungen redet, so im Zusammenhang von Tanzsätzen nach französischer Manier -aber die Ouvertüre ist nun einmal kein Tanzsatz. Quod licet Jovi, non licet bovi – was dem Solisten aus augenblicklicher Caprice erlaubt ist, nämlich die Veränderung des vorgegebenen Notentextes, ist dem Tuttisten schlichtweg verboten. (a.a.O. Seite 152f)

Siehe auch hier. (=Blog-Artikel „Wie Goebel in Frankreich“.)

Neugierig geworden: Wer war „Fritz“, ein unbekannter Bach, wie klang seine Musik? Ein Anfang sei gemacht mit diesem Stück aus „Pygmalion“:

Alle Titel der Goebel-CD „Cantatas of the Bach family“ anspielen: hier

Dreißig Jahre lang stellte Johann Sebastian Bach die musikalische Speerspitze der Welt: Sie war immer genau dort, wo er war, in seinen Händen und auf seinem Schreibtisch. Um 1735 aber drängten ambitionierte Konkurrenten auf den Markt und zeigten Bach, wo das neue Vorne war: im galanten Stil, der sich ab 1715 von Neapel aus nach Norden verbreitete und der flamboyanten, religiös bedeutsam verschlüsselten und manchmal auch überlasteten Musik des Spätbarock etwas entgegen stellte – eine einfachere Musik mit leichter verstehbarer Harmonik und im weitesten Sinne singbaren Melodien mit weniger komplexer Polyphonie.

Bachs Söhne, ebenfalls gestandene Musiker, die zu einflussreichen Komponisten heranwuchsen, hatten das Handwerk bei ihrem Vater gelernt – aber bei aller Verwurzeltheit in der Tradition des großen Johann Sebastian sind diese modernen Einflüsse auch bei Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Christoph Friedrich Bach und Wilhelm Friedemann Bach deutlich zu erkennen. Bei Carl Philipp ist der Prozess der musikalischen Emanzipation nur noch mittelbar nachvollziehbar, da er einen guten Teil seiner Kompositionen aus jener Umbruchzeit verbrannte – eine hier erstaufgenommene Sinfonie in F-Dur kann ihm mit der nötigen musikwissenschaftlichen Vorsicht zugeschrieben werden.

Ebenfalls eine Weltpremiere ist die Aufnahme der dreisätzigen Solo-Kantaten Carls »Ich bin vergnügt mit meinem Stande«. Eine gar dritte Erstaufführung erlebt hier die Sinfonie in B-Dur Wilhelm Friedemann Bachs. Abgerundet von Musik von Bachsohn Johann Christoph Friedrich und einer Kantate des Übervaters Johann Sebastian selbst macht diese grandiose neue Produktion der Berliner Barocksolisten und dem gefeierten Bariton Benjamin Appl unter Leitung von Reinhard Goebel die musikalische Metamorphose des 18ten Jahrhunderts akustisch erlebbar.

Weiterlesen und -suchen:

http://www.musicweb-international.com/classrev/2020/Dec/Bachfamily-Cantatas-HC19081.htm hier

(Ensemble) Pygmalion interprète la Cantate „Es erhub sich ein Streit“ de Johann Christoph Bach sous la direction de Raphaël Pichon. Extrait du concert enregistré le 7 avril 2023 à la Chapelle Royale de Versailles.

Text verfolgen nach analytischer Abschrift ©Clemens Flämig August 2022 (Quelle: https://www.bachipedia.org/werke/bwv-19-es-erhub-sich-ein-streit/ hier)

Da ich die Goebel-CD seltsamerweise übers Internet nicht bestellen kann, habe ich einen Ersatz finden müssen (27.09.24), bemerkenswerterweise schon aufgenommen 1988:

Text: Hannsdieter Wohfahrt

ENTSCHULDIGUNG! Da ich von Goebels im Buch veröffentlichten Texten ausgehe, zu denen ich mich etwas frei „auslasse“, – auch ohne alle CDs besitzen, denen sie ihre Entstehung verdankten -, kann ich in einer gewissen Konfusion enden wie JETZT. Ich hatte gehofft, mehr über „Pygmalion“ und den Bückeburger Bach-Sohn zu erfahren, fand Goebels Ausführungen wie immer erhellend, ohne recht zu bemerken, dass er sich unvermerkt gänzlich auf das die CD abschließende Werk des alten Bach bezieht, die Kantate BWV 82 „Ich habe genug“, mit einigen Seitenblicken wiederum auf dessen rhetorische Prinzipien docere, movere & delectare. Für uferloses Staunen und Studieren sei auch der Youtube-Link wenigstens zu dieser Aufnahme beigesteuert: hier.

In Goebels Text blieb ich u.a. stecken bei der Bemerkung:

Zauberhaft unbeantwortet bleibt die Frage: »Hat er nun, hat er nicht?«

Erst allmählich fiel der Groschen: Diese Frage kann sich nur aus dem maßlosen Wunschziel des „Pygmalion“ ergeben, – wobei Goebel seinen Kopf dezent aus der Schlinge zieht, indem er von dem sinnlichen Begehren hinüberlenkt zu der Todesfreude des trunken in den Himmel tanzenden Simeon, und damit zur „Climax“ der Kantate „Ich habe genug“. Was mir an Reinhard Goebel von Anfang an auffiel, war sein eigenartiger Humor, eine zuweilen etwas drollige Respektlosigkeit. Bei den Aufnahmeprojekten unseres Lehrers Franzjosef Maier inmitten des Ensembles Collegium aureum erlebte ich ihn 1974 zum erstenmal als jungen Kollegen, witzig, wortgewandt, aufmüpfig, belesen. „Missa Salisburgensis“! Siehe alle Mitwirkenden…

1974

Kein Zweifel: man sollte auch seine „besserwissende“ Aufnahme kennen:

1989 (2024)

(Blog-Artikel unvollendet, Fortsetzung folgt, vielleicht)

Zuschrift aus Düsseldorf-Oberkassel betr. einen SWR-Link zu aktuellsten Goebel-Sendungen, 10.10.2924, Dank an Christel H.!

https://www.swr.de/swrkultur/musik-klassik/reinhard-goebel-der-Kopf-macht-die-musik-100.html HIER