Schlagwort-Archive: Begriffe

Bildung, Begreifen, Vertrauen, Sinn

Man wagt es kaum, Worte wie diese aneinanderzureihen. Oder etwa nur, wenn wir in den Bann unbegreiflicher Katastrophen geraten, die unsere Tagesordnung womöglich unwiderruflich beschädigen? Wer bereits im Begriff war, den Flugzeugabsturz zu verdrängen oder in gleichem Atemzug von den täglichen Gefahren des Straßenverkehrs zu sprechen, geriet durch Trauerfeier und Berichterstattung wieder in den Sog der Grundsätzlichkeit. Der Bundespräsident stellte das Wort Vertrauen heraus, das schon in verschiedenen Leitartikeln hervorgehoben wurde, auch von der Pflicht zur Zuversicht hätte man sprechen können, wie Kant. Es ging und geht also um das alte Thema Theodizee, wie nach dem Erdbeben von Lissabon 1755. Im Kölner Dom ist die andere Konfession beteiligt, andere Religionen werden zumindest benannt. Aber im Hintergrund steht für alle zweifellos weiterhin die Geltung von Begriffen (um das Wort „Werte“ zu vermeiden), das Denken, die Frage der Allgemeingültigkeit. Und auf der Tagesordnung, zu der wir übergehen werden, sollten sie alle weiterhin zu lesen sein, in regelmäßiger Wiederkehr. – Themenwechsel:

ZITAT

Wahrhaft welthaltig ist nicht Google, das immer abprallen wird an der Scheidemauer technischer Weltbezwingung, sondern Goethe. Er taugt zum Sinnbild für Weltneugier, Weltleidenschaft, Weltwissen, während Google in des Wortes strenger Bedeutung weltfremd ist: Google interessiert sich nur für Google. Dass Goethe kein Freund der Mathematik war, dass er dem Kausalitätsprinzip misstraute und lieber dem „Prinzip verständiger Ordnung“ auf der Spur blieb, schlug seinem unmittelbaren Nachleben zum Nachteil aus. Schon den Romantikern galt er als gestrig. Heute, da der zweckrational verhexte Globus aus der Achse zu springen droht, erkennen wir deutlich: Das Nichtbegriffene knechtet. Denn wer wollte behaupten, die sogenannte digitale Revolution hinreichend durchdrungen zu haben, um sie ohne Preisgabe der eigenen Souveränität nutzen zu können – ohne herabzusinken zum geldwerten Datentier auf anderer Leute Rechnung?

Quelle CICERO Magazin für politische Kultur 14. April 2015 SCHUL- UND BILDUNGSREFORM Goethe statt Google! Von Alexander Kissler – Nachzulinken HIER.

Es ist kein wirklicher Themenwechsel. Es gehört ja alles zum großen Dauerthema unserer Zeit und ist mit jedem der im Titel genannten Worte und vielen anderen gemeint, aber nur im Fall einer großen Katastrophe verbinden sie sich auf Umwegen mit den unbeantworteten, nie zu beantwortenden Fragen „Wo warst du, Gott?“ oder „Warum?“, und das ganz große Ritual wird gepriesen, weil es als die einzig mögliche Form der Entlastung empfunden wird. So im letzten SZ-Leitartikel von Matthias Dobrinski:

Das Unfassbare bekommt eine Fassung, die amorphe Trauer eine Form, das ist das zutiefst Menschliche einer solchen Feier. Die Erklärungsversuche bleiben vor der Tür. Rituale verschaffen der Trauer den Raum und die Zeit, die sonst irgendwann mit einem aufmunternden „Wird schon!“ abgeschnitten wird; sie schaffen Orte und Zeiten der Reduktion auf das Wesentliche. (…)

Rituale haben ihre Grenzen. Lange wurden sie genutzt und missbraucht, gerade von den Kirchen, um Fragen zu verbieten, wo sie dringend nötig gewesen wären. Lange wurden sie genutzt, um Außenseiter und Ketzer zu brandmarken: Knie mit uns nieder oder sei verstoßen! Das hat genauso für ihren schlechten Ruf gesorgt wie die Tatsache, dass Rituale hohl werden und ihren Sinn verlieren können, pathetisch und peinlich, lächerlich und verlogen.

Quelle Süddeutsche Zeitung 18./19. April 2015 Seite 4:  Germanwings-Absturz 150 Kerzen Von Matthias Dobrinski.

Der zweite Block des Zitates ist mindestens ebenso wichtig wie der erste. Ebenso der später folgende Hinweis auf die Wiederentdeckung der festen Formen, die bezeichnenderweise in der Pädagogik stattfand: „Kinder brauchen Rituale, abends, damit sie einschlafen können, morgens, damit sie in den Tag kommen, zwischendurch, um ruhig und selbstsicher groß zu werden.“

In der Tat: das verstand sich von selbst, lange Zeit waren die Kinder ja für uns Eltern Sinnproduzenten ersten Ranges. Aber am Ende des Artikels frage ich mich doch, ob wir nicht letztlich auch hier wieder mit einem „quia est absurdum“ in die christliche Kirche und ihre Riten hineingeredet werden sollen:

Es ist ein Ort des Zwecklosen, Fraglosen, Antwortlosen. Und gerade darin liegt der Sinn.

Genau an dieser Stelle hüte ich mich vor einem Übergang zur Kunst, zur Musik und anderen „Sinngeweben“.