Schöne Sätze von Anne Will
Sie bringt es auf den Punkt. 2007 soll sie im SPIEGEL gesagt haben: „Wenn die große Koalition als Regierung jetzt nichts Großes leistet, bekommen die Volksparteien ein echtes Problem, sich überhaupt noch so zu nennen.“ Jetzt wird sie gefragt, ob sie zufrieden sei, dass sie vor neun Jahren die Wahlergebnisse von heute vorhergesagt habe.
ZITAT
Nein. Ich bin eher traurig darüber, was sich entwickelt hat. Offener Rassismus, wachsende Fremdenfeindlichkeit, immer mehr politisch motivierte Straftaten, das dürfte es in unserem Land nicht geben. Und ich bin wirklich entsetzt darüber, mit welcher Verachtung, mit welcher Aggressivität auf dem „System“ herumgetrampelt wird, von dem all die, die das tun, ja in immensem Maße profitieren.
Was daran beschäftigt Sie am meisten?
Die Frage, ob Menschen für Fakten und Belege überhaupt noch empfänglich sind oder ob inzwischen nur noch Gefühle und Stimmungen verfangen. Und natürlich fragen wir uns: Wie reagieren wir darauf mit der Sendung? Können wir das auflösen? Oder bedienen wir das gelegentlich sogar, weil wir Zuspitzungen suchen? Was mache ich in der Sendung mit einer rein populistischen Argumentation, die keine faktische Rückbindung mehr hat, die allein auf der Behauptung fußt: Das fühlen die Menschen aber! Das finde ich außerordentlich problematisch.
Können Sie da Beispiele nennen?
Wenn etwa einfach und ohne jeden Beweis behauptet wird, man dürfe in Deutschland nicht mehr alles sagen. Wenn behauptet wird, alle Medien seien gesteuert, würden Sachverhalte verdrehen, würden wesentliche Informationen zurückhalten, weil diese nicht in irgendeine Linie passten.
Woher kommt dieser Siegeszug des Post-Faktischen?
Früher bekam jemand mit starken Meinungen ohne jeden Beleg an der Theke nur die Zustimmung von den zwei, drei anderen, die da saßen und vielleicht nickten. Jetzt finden sich übers Netz schnell ganze Gruppen, richtige Echokammern, die jede auch noch so absurde These liken. Damit fühlt sich der Einzelne in einer Weise bestärkt, die ich für absolut gefährlich halte.
Was kann man dagegensetzen?
Gegensetzen kann man guten Journalismus: Sagen, was ist, sauber seine Arbeit machen, aufpassen, nicht nachlassen.
Quelle: Süddeutsche Zeitung 1./2./3. Oktober 2016 Seite 58 DAS INTERVIEW Anne Will übers REDEN (Fragen: Evelyn Roll)
Der Begriff des Post-Faktischen ist kurios, aber neuerdings in aller Munde; insbesondere, seit Angela Merkel ihn gebraucht hat. Man muss ihn nur googeln und erfährt mehr als einem lieb ist. Und wenn man den Namen Donald Trump dazusetzt, geht es ins Uferlose. Wie absurd auch immer, das Wort wird stufenweise nobilitiert, in die Nähe einer philosophischen Perspektive gerückt.
Schon Friedrich Nietzsche sagte, dass es keine Fakten gebe, nur Interpretationen. Diesen Gedanken griffen postmodernistische und relativistische Denker auf, um zu argumentieren, dass jede Version eines Ereignisses eine eigene Realität habe, dass Unwahrheiten „eine alternative Sichtweise“ darstellten, weil sowieso alles relativ sei. In den vergangenen 30 Jahren sickerte dieses Denken durch in die Medien, in die Gesellschaft und in die Politik.
Constantin Wißmann im CICERO (hier)
Es ist auch nicht falsch, das „Postfaktische“ als eine neue Dimension des Lügens anzusehen. Christian Bos erläuterte das im Kölner Stadtanzeiger und erinnerte an einen amerikanischen Philosophen, der den „Bullshitter“ erfunden hat.
Egal, ob man nun lügt oder die Wahrheit sagt, man spielt dasselbe Spiel. Der eine beugt sich den Fakten, der andere widerspricht ihnen frech. Vor 30 Jahren [?] identifizierte der amerikanischen Philosoph Harry G. Frankfurt in einem kurzen Essay noch eine dritte mögliche Position. Eine, die das Spiel um Wahrheit und Lüge schlicht ignoriert, die einfach gar keinen Bezug mehr auf die Fakten nimmt: Den „Bullshitter“. Gemeint ist der Dummschwätzer, der Märchenonkel und Schwachsinnsverbreiter, der – betritt er das Feld des Politischen – schnell zum Demagogen werden kann, zum Hetzer. „Der Bullshit“, schreibt Frankfurt, „ist ein mächtigerer Feind der Wahrheit als die Lüge.“
Quelle: http://www.ksta.de/24814972 ©2016 (s. hier).
Der Essay erschien nicht vor 30 Jahren, sondern vor gut 10 Jahren. Siehe auch hier. Ich verdankte das Büchlein seinerzeit dem Freund Berthold Seliger, ohne dass ich die Bedeutung recht erfasst hätte. Jetzt ist die Zeit endlich reif… Übrigens darf man in geeigneten Fällen auch ein zischendes deutsches Wort verwenden.
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Niemand kann lügen, sofern er nicht glaubt, die Wahrheit zu kennen. Zur Produktion von Bullshit ist solch eine Überzeugung nicht erforderlich. Wer lügt, reagiert auf die Wahrheit und zollt ihr zumindest in diesem Umfang Respekt. Ein aufrichtiger Mensch sagt nur, was er für wahr hält, und für den Lügner ist es unabdingbar, daß er seine Aussage für falsch hält. Der Bullshitter ist außen vor: er steht weder auf der Seite des Wahren noch auf der des Falschen. Anders als der aufrichtige Mensch und als der Lügner achtet er auf die Tatsachen nur insoweit, als sie für seinen Wunsch, mit seinen Behauptungen durchzukommen, von Belang sein mögen. Es ist ihm gleichgültig, ob seine Behauptungen die Realität korrekt beschreiben. Er wählt sie einfach so aus oder legt sie sich so zurecht, daß sie seiner Zielsetzung entsprechen.
Quelle: Harry G. Frankfurt BULLSHIT Suhrkamp Frankfurt am Main 2006 ISBN 3-518-58450-2 (Seite 62/63)