Archiv der Kategorie: Sport

Bruckner: der Einzelne und die Masse

Kopfsprung vom Konzertsaal in die Arena  

Bruckner VI 1-2 Bruckner VI 3-4

Ich habe eine fatale Neigung zu unpassenden Assoziationen, in diesem Punkt weiß ich mich mit Shakespeare und Charles Ives einig. Das Glück will es, dass ich Bruckners Sechste heute zum erstenmal höre, ich weiß nicht, wieso sie mir ein Leben lang entgangen ist. Sie ist im Solinger Konzertprogramm kombiniert mit dem Violinkonzert von Korngold*, das ich nicht mag. Es ist wie ein etwas unangenehmes, in die Augen beißendes Parfüm, da hilft kein Heifetz, dessen Aufnahme ich im Auto höre. Ich weiß, dass es schön gefunden wird, eine Versöhnung zwischen Filmpalast und Konzertsaal. Nun gut, aber mein Sinn für Monumentalität geht andere Wege.

Es gibt zum Beispiel eine Szene, in der beschrieben wird, wie der Dirigent Knappertsbusch die Sechste vor einem Publikum von fünf oder sechs Leuten spielt, an sich schon eine absurde Vorstellung, aber er hält auch noch eine Rede:

Dieses Orchester, mein Orchester, das Sie jetzt bald hören, trägt den Manen der anderen Natur Rechnung und nennt sich Staatsorchester der Ersten Weltgeräumigen Republik. Wir kommen nun keineswegs aus dem Weltraum, wir, die wir alle längst tot sind, nein, wir haben uns in Kenzingen im Breisgau versammelt, uns als Orchester gegründet, vermöge unseres Totseins begabt mit einer weltgeräumigen und republikanisch gestimmten Musikalität. Bruckner und Wagner, diese Klangkosmiker im Zeitengefüge einer Erdwende, die viel Umstellung erfordert, sind unsere musikalischen Exerzitienmeister, fürs erste. Späterhin, denke ich, aber wohl erst sehr, sehr, sehr viel später, wagen wir uns an die beiden Passionsmusiken von Johann Sebastian Bach. So, genug gesagt.“

„Kna“ dirigiert die Sechste entsetzlich langsam und immer noch langsamer, dergestalt, dass er nach zwei Stunden, nach Verklingen des zweiten Satzes, das Konzert für beendet erklärt, – er werde morgen an dieser Stelle fortfahren. Und am nächsten Tag bei einem Spaziergang mit den Getreuen sagt er:

Die Sechste von Bruckner ist natürlich leer. Die Fünfte hat Bruckner ramponiert, und die Sechste ist ein Nachwühlen geworden, ganz gewiß. Bodenlos leer ist diese Symphonie, die ihr übrigens stets mit Ypsilon und mit ph denken solltet. Aber das Leersein ist überhaupt ein Ergebnis von Fülle. Und die Leerheit ist der Anfang von neuem, innerstem Vermögen. Darum ist die Gnade, leer werden zu dürfen, eine wahre Werdung. Und die Verlangsamung ist nur ein Spielversuch.“

Quelle Ernst Herhaus: Phänomen Bruckner  Hörfragmente  Büchse der Pandora Verlags-GmbH Wetzlar 1995 ISBN 3-88178-110-2 (Seite 87 f)

Um es kurz zu machen, es handelt sich um Auszüge aus einem Traum, den Herhaus sogar genau datiert: im Jesuitenschloß bei Freiburg / Brsg. geträumt in der Neujahrsnacht auf 1989.

Auch die Bruckner-Biographie von Max Auer, aus der die Themenauszüge der Sechsten (s.o.) stammen, beginnt mit einer Art Traum-Vision, die allerdings aus einer versunkenen Epoche aufsteigt:

Bruckner Vorrede Auer

Seltsam: wenn ich von Bruckner träumen würde, sähe ich ganz sicher eine Menschenmasse, die von den Klängen seines Riesenorchesters bewegt würde. Vielleicht hat er selbst nur vergessen, die imaginäre Menge der erregten Heerscharen – unter ihnen seine eigene Person –  zu erwähnen, als er die Szene des Finales seiner Achten andeutet:

Unser Kaiser bekam damals den Besuch des Czaren in Olmütz; daher Streicher: Ritt der Kosaken; Blech: Militärmusik; Trompeten: Fanfare, wie sich die Majestäten begegnen.

Aber zurück zu meinen wirklich ganz unpassenden Assoziationen! Samstag, 12. Dezember, 18.30 Uhr. Am Ende stand es 5:0. Überall: Geträumtes Welttheater.

Bayer 04

Bayer 04 Karte

Fußball und das Heilige Gebauer

Quelle: Günther Gebauer „Poetik des Fussballs“ campus 2006 Foto: © ullstein bild

Lev Tor gehalten20151212_190223 Handy-Foto: JR

* Korrektur um 22.45 h

Es handelte sich nicht um das 1945 herausgebrachte Violinkonzert von Erich Wolfgang Korngold (1897-1957), sondern um das von Karl Goldmark (1830-1915), entstanden 1877.

Auf dem Boden bleiben!

Bundesliga beginnt

Bundesliga a  Bundesliga b

Keine Wallfahrt!

ZITAT

Als erstes fällt bei den Fans die Erzeugung von Gemeinsamkeit auf. Ähnlich vereinigend wie gemeinsames Trinken wirkt das Absingen von Fußballhymnen, unterstützt von gleichen Bewegungsweisen. Bei den sangeskundigen englischen Fußballfans wird der religiöse Charakter der Gesänge deutlicher als bei den deutschen. Der berühmteste aller Fangesänge You’ll never walk alone wurde nach dem Ersten Weltkrieg während der englischen Cup-Finale im Wembley-Stadion in Erinnerung an die gefallenen Fans gesungen. Beim Absingen dieser Hymne ist heute eine strikte rituelle Ordnung einzuhalten (die auch auf deutschen Fußballplätzen gilt). Die Schals werden mit beiden Händen über den Kopf gehalten und im Rhythmus der Musik langsam hin und her bewegt, wie die Fahnen einer Prozession. Zum Heiligen halten die Fans engen Kontakt. In Marseille pilgerten sie vor dem UEFA-Pokalendspiel zur Wallfahrtskirche Notre Dame de la Garde, um dort eine Kerze zu entzünden. Der FC Sankt Pauli gab unter dem Titel Glaube, Liebe, Hoffnung eine „Fan-Bibel“ heraus. Wissentlich oder nicht hat er die göttlichen Tugenden zu seinem Wahlspruch gewählt, durchaus passend zu seinen Fan-Artikeln, vom Wimpel bis zur Unterhose und zum Pauli-Gartenzwerg.

Quelle Gunther Gebauer: Poetik des Fussballs campus verlag Frankfurt am Main 2006 (Seite 100 f.)

Wer heute nach dem zitierten Wahlspruch beim FC Sankt Pauli selbst sucht, stößt bei den „Kiezhelden“ auf eine Baustelle (hier). Sie wird doch wohl nicht erst nach der schmerzlichen Niederlage gegen Mönchengladbach (vorgestern) eingerichtet worden sein?

NOCH EIN ZITAT

Es gibt Situationen im Leben, denen wir gern eine Schlüsselbedeutung zuweisen. In ihrer verdichteten Form erschließen sie bisher verborgen gebliebene Lebensbereiche. Am 28.11.1993 gab es für mich einen solchen erhellenden Augenblick. Reinhold Mokrosch hatte seine zwei Mitstreiter für eine empirische Wertforschung überraschend am Freitagabend zum Fußballspiel des VFL ins Stadion An der Bremer Brücke eingeladen. Obwohl schon seit mehreren Jahren im Wettstreit um die Erforschung von Moralauffassungen miteinander verbunden, wurde erst am diesem Abend deutlich, welche integrierende Bedeutung ein Fußballspiel für eine Forschergruppe haben kann. Der Philosoph in dieser Runde zeigte sich als fachkundiger VFL-Fan, der Sportwissenschaftler mußte sich schon aus beruflicher Sicht engagiert zeigen und der Religionspädagoge gab dem Abend seinen interpretativen Stempel. Als in der Ostkurve nach dem Führungstreffer der Osnabrücker die Wunderkerzen angezündet und sie im Rhythmus des Anfeuerungsgesanges hin und her bewegt wurden, platzte es aus ihm heraus: „Das ist ja wie in der Kirche – nein, es ist in der Form von Ergriffenheit mehr als wir es dort vermögen“ – Woraus sich die ironisch-nachdenkliche Frage ergab: „Ist der Sport die Religion des säkularen 20. Jahrhunderts?“

Damit sind wir vom unschuldigen Anlass „Fußball“ gleich zweimal in höchst problematische Bezirke abgedriftet. Der Samstag soll uns wieder vom Kopf auf die Beine stellen, selbst Adornos Diktum, das alsbald auftauchen wird,  werden wir hoffentlich rechtzeitig abstreifen:

Denn zum Sport gehört nicht nur der Drang Gewalt anzutun, sondern auch der, selber zu parieren und zu leiden … Es prägt den Sportgeist nicht bloß als Relikt einer vergangenen Gesellschaftsform, sondern mehr noch vielleicht als beginnende Anpassung an die drohende neue … (ADORNO 1997, 43)

Lassen Sie uns den Vortrag zu den allermerkwürdigsten Aspekten von Spiel und Sport hinter uns bringen! Der Titel: Der Sport – die Religion des 20 Jahrhunderts? Autor: Prof. Dr. Elk Franke. Nachzulesen: HIER.

Neue Ernüchterung 14. August 2015

Eine letzte Saison der Vernunft (Kommentar von Olaf Kupfer in der WZ)

ZITAT

Denn was Fußball-Romantiker[n] den Atem raubt, wird nach dieser Saison wahr: Getrieben von den wahnwitzigen Verhältnissen in England, wo die Clubs der Premier League dank einer exorbitanten Pay-TV-Vermarktung über vielfache Einnahmen der Bundesligisten verfügen, bricht auch die deutsche Liga (DFL) auf zu neuen Ufern: Extrem zersplitterte Spieltage werden schon bald die hektische Betriebsamkeit der Spitzenclubs rahmen, noch mehr Geld zu generieren – um nicht abgehängt zu werden.

Verrückte Verhältnisse kündigen die Manager für den Sommer 2016 an: Von einer Abwanderungswelle gen England ist die Rede. Und von einer Gehaltsexplosion für Spitzenspieler. Vom Ungleichgewicht des Weltfußballs. Da wollen wir es uns doch noch mal gemütlich machen und eine letzte Saison der Vernunft feiern.

Quelle Solinger Tageblatt 14. August 2015 Seite 2 / im Volltext nachzulesen als Leitartikel der Westdeutschen Zeitung WZ HIER.

Bayarena Live 15.26 h  20150815_152634  BayArena Spielunterbrechung 20150815_160754 BayArena Ecke 20150815_164442  BayArena Alleingang 20150815_163209  Fussball x Leverkusen Hoffenheim 15 August 2015

15. August BayArena 15.30 bis 17.15 Uhr Leverkusen:Hoffenheim 2:1 (Handy-Fotos JR)