Kleine Sport-Recherche

Zum Olympia-Frust

Es mag am Doping-Skandal liegen und an diesem aktuellen Pappmachémachthaber Thomas Bach, gegen den ich schon polemisiert habe, als es noch um die Enteignung der Garmischer Bauern ging (2011). Vielleicht auch an der Abneigung, Leute zigmal ein und denselben Platz umrunden oder in eine Medaille beißen zu sehen. Jetzt kam mir bei der Zeitungslektüre in den Sinn, dass ich selbst einmal der Ideologie angehangen habe, als ich in den Jahren vorm Abitur glaubte, ganz naiv Nietzsches Botschaft vom Körper in meine Realität umsetzen zu können und mit Eifer begann, den Teutoburger Wald am frühen Morgen mit Dauerläufen zu verunsichern. Im Ernst entlieh ich aus der Bielefelder Stadtbücherei Literatur über angemessene Trainingsmethoden. Und siegte plötzlich beim Schulwettkampf in Tausend-Meter-Läufen. Ich nahm die körperliche Ertüchtigung vorübergehend – oder vorüberlaufend – sehr ernst. Das alles stieg auf, als ich kürzlich mit Hilfe eines SZ-Berichtes über Usain Bolt staunte und dabei kernigen Sätzen begegnete, die das alte Ideal beschworen:

Die Leichtathletik ist Olympias Kernsport. Sie ist schlicht und klar, nur der Mensch ist das Maß, wenn er läuft, springt und wirft. Mit wohl keinem Sport lassen sich motorische Fähigkeiten bei Kindern derart umfasssend schulen. Die Leichtathletik lebt von der Schönheit der Bewegung, wenn ein Hochspringer vom ersten Schritt bis zum Flop in eine fließende Bewegung eintaucht. Und sie lebt von Duellen, wenn die Zeiten, Weiten und Höhen in den Hintergrund rücken, dann ist sie ein Kulturgut. Aber das scheint der Sport längst vergessen zu haben. Rekorde und Superstars, das war jahrzehntelang das Geschäftsmodell (…).

Es [das Geschäftsmodell] verspricht flüchtige Aufmerksamkeit, aber wenn nur die Sensation zählt, ist das Gewöhnliche enttäuschend, auch das Schöne. (…)

Was bleibt? Wenn ihm das Triple gelingen würde, hat Bolt in Rio gesagt, dann sehe er sich endgültig in einer Ahnengalerie mit Pelé und Muhammad Ali, „all diesen Jungs“. Er müsse nur schaffen, was niemand zuvor geschafft hat. Aber da hat Bolt das Prinzip der Sportlerhelden nicht so ganz erfasst. Ali berührte Menschen, weil er eine Haltung vertrat, weil er sie an das Unrecht der Welt erinnerte. Bolt bewegt Menschen, weil er sie davon ablenkt, herumkaspert.

Quelle Johannes Knuth Süddeutsche Zeitung 13./14./15. August 2016 Seite 37: Der Entrückte. Usain Bolt ist die Figur, auf den die zweite Woche der Olympischen Spiele ausgerichtet ist. Längst ist er sein eigenes Kunstprodukt – doch vor dem letzten Olympia-Start des Jamaikaners wird die Leichtathletik daran erinnert, wie tückisch das Geschäft mit den Rekorden ist. [Ende des Zitats]

Das Prinzip der Sportlerhelden erinnert an den überholten Mythos, dessen Problematik bei den Sport-Philosophen längst reflektiert wurde. Ernst Cassirer spielt da eine Rolle und vor allem „Die Dialektik der Aufklärung“ (Adorno/Horkheimer). Nachzulesen bei Franz Bockrath hier.

Eine Sammlung von entsprechenden Texten findet man unter folgendem Link: hier.

Ich hätte früher wie heute gezögert, den Sport als „Kulturgut“ zu bezeichnen, was an meiner Buchgläubigkeit liegen mag. Aber die Verharmlosung des Sports, – des Körperkults, der absoluten Ausbeutung und Unterjochung des Körpers, untrennbar verbunden mit der Entmachtung des Geistes -, hat eine durchgehende Geschichte und ist immer zur Hand, wenn von entspannter Freizeit die Rede sein soll. So im folgenden Beispiel aus dem Jahre 1966, wobei nur das Reisen (der Tourismus) mit fadenscheiniger Begründung aus dem Kreis der unschuldigen Aktivitäten ausgeschlossen wird:

 Damit sind wir beim Sport. Daß er auch zur Freizeitgestaltung gehört, wird kein vernünftiger Mensch bestreiten, wurde er doch gerade dazu im vorigen Jahrhundert in England „erfunden“ und begründet, auch wenn es ihn seit uralten Tagen schon gegeben hatte. Man darf sich nicht durch das hektische Getriebe, das allüberall auf unseren Kampfbahnen, Fußballfeldern, Gymnastikhallen und was weiß ich, wo sonst noch herrscht, täuschen lassen. Es gibt wirklich noch Menschen, die in den Leibesübungen mehr sehen als nur das Jagen nach immer neuen Höchstleistungen und Siegen, die tatsächlich nur turnen, laufen, springen, schwimmen, und selbst Fußball spielen aus reiner Liebe zur und Freude an der Sache. Nur um sich zu erholen und in ihren Mußestunden neue Kraft zu gewinnen für ihre Arbeit, die schließlich noch immer das Wichtigste ist im Leben. Auch das Wandern gehört dazu. Das Reisen schon nicht mehr, das früher einmal regelrecht kultiviert wurde, heutzutage aber doch meist nichts weiter ist als ein Nerven raubendes Herumrasen, das mehr schädlich als nützlich ist.

Quelle ZEIT online Artikel vom 25. November 1966 „Von Sport und Hobby, Stars und Spielen“ Autor nicht genannt. Nachzulesen hier.

Auf welche Kritik aber beziehen sich die Sport-Philosophen, wenn sie sich daran machen, ihre Themen zu nobilitieren? Auf Theodor W. Adorno, und dieser hat sich weitgehend die vernichtende Analyse zueigen gemacht, die er bei Thorstein Veblen vorfand. (Ich habe den Text leicht gegliedert, um ihn leichter lesbar zu machen…)

Veblen hat bündig jegliche Art von Sport, von den Kampfspielen der Kinder und den Leibesübungen der Universitäten bis zu den großen sportlichen Ostentationen, die später in den Diktaturstaaten beider Spielarten blühten, als Ausbruch von Gewalt, Unterdrückung und Beutegeist charakterisiert.

Die Sportleidenschaft ist Veblen zufolge regressiver Natur: „The ground of an addiction to sports is an archaic spiritual constitution.“ Nichts aber ist moderner als diese Archaik: die sportlichen Veranstaltungen waren die Modelle der totalitären Massenversammlungen. Als tolerierte Exzesse verbinden sie das Moment der Grausamkeit und Aggression mit dem autoritären, dem disziplinierten Innehalten von Spielregeln: legal wie die neudeutschen und volksdemokratischen Pogrome.

Seine Einsicht reicht darüber noch hinaus. Er erkennt den Sport als Pseudo-Aktivität: als Kanalisierung von Energien, die anderwärts gefährlich werden könnten; als Investition sinnloser Tätigkeit mit den trugvollen Zeichen des Ernstes und der Bedeutung. Je weniger man selber mehr erwerben muß, um so mehr sieht man sich veranlaßt, den Schein seriöser, gesellschaftlich bestätigter, doch desinteressierter Tätigkeit zu erwecken.

Zugleich aber entspricht der Sport dem aggressiven, praktischen Beutegeist. Er bringt die antagonistischen Desiderate von zweckmäßigem Tun und Zeitvergeudung auf die gemeinsame Formel. So wird er zum Element des Schwindels, zum make believe.

Veblens Analyse wäre freilich zu ergänzen. Denn zum Sport gehört nicht bloß der Drang, Gewalt anzutun, sondern auch der, selber zu parieren und zu leiden. Einzig Veblens rationalistische Psychologie verstellt ihm das masochistische Moment im Sport. Es prägt den Sportgeist nicht bloß als Relikt einer vergangenen Gesellschaftsform, sondern mehr noch vielleicht als beginnende Anpassung an die drohende neue – im Gegensatz zu Veblens Klagen, daß die »institutions« hinter dem freilich von ihm auf die Technologie beschränkten Geist der Industrie zurückgeblieben seien.

Der moderne Sport, so ließe sich sagen, sucht dem Leib einen Teil der Funktionen zurückzugeben, welche ihm die Maschine entzogen hat. Aber er sucht es, um die Menschen zur Bedienung der Maschine um so unerbittlicher einzuschulen. Er ähnelt den Leib tendenziell selber der Maschine an. Darum gehört er ins Reich der Unfreiheit, wo immer man ihn auch organisiert.

Quelle Theodor W. Adorno Gesammelte Schriften, S. 7504 (vgl. GS 10.1, S. 79-80) Band 10: Kulturkritik und Gesellschaft I/II: Veblens Angriff auf die Kultur.

Aber wie begründe ich, dass ich den Sport der Kinder oder Enkel wichtig finde? Und dass ich selbst gern nach Leverkusen in die BayArena fahre? Und den Weg dorthin und das Zuschauen schon für eine Ertüchtigung halte?

Was ist mit Musikwettbewerben, oder mit dem stillschweigenden Vergleich der eigenen Leistungen mit denen anderer?

(Fortsetzung folgt)

Ich muss aber gar nicht zum großen Rundumschlag ausholen, die erneute Lektüre der Süddeutschen genügt: heute, am 18. August 2016.

Doping, Kommerzialisierung, Gigantomanie. Die öffentlich-rechtlichen Sender müssen sich nicht vorwerfen lassen, sie hätten die Geißeln des olympischen Sports anlässlich der Spiele in Rio ignoriert, ganz im Gegenteil. Anderserseits haben die Sender viele Millionen für die Übertragungsrechte gezahlt und müssen Quote machen. Sportbegeisterung auf der einen Seite, tiefes Misstrauen gegebnüber dem Sport auf der anderen – diese olympische Schizophrenie lässt sich nicht heilen. Man muss sie aushalten.

(…)

„Jaaa, Lilly King schlägt Julia Jefimowa!“ schrie Bartels ins Mikro. „das war ein Sieg für den Sport.“ Jefimowa, eine zweimal des Dopings überführte Athletin, aber ganz legal am Start, galt in Rio als Verkörperung des russischen Staatsdopings, des Bösen schlechthin. Aber wollte Bartels wirklich die Hand für seine Lilly-Fee ins Feuer legen? Das US-Team hat die Konkurrenz in Grund und Boden geschwommen. Wenn man weiß, dass Schwimmen eine sehr dopinganfällige Sportart ist: Gegen wen müsste sich der Verdacht richten?

Quelle Süddeutsche Zeitung 18. August 2016 Seite 33 Das Ringen mit den Ringen Die Olympia-Berichterstattung von ARD und ZDF schwankt zwischen Sportbegeisterung und Misstrauen. Die Sender nehmen die moralische Empörung ernst – und tun trotzdem alles, um Quote zu machen. Von Josef Kleinberger.

… ein Sieg für den Sport? Solche Artikel sind ein Sieg für die Medien!

Nachtrag

Das Wort Doping-Skandal führt irre, so wie die Redensart „der Krieg brach aus“. Es handelt sich nicht um ein zufälliges Ereignis. Es gehört zum System, zum Räderwerk aller Mittel. Wenn nur die Ergebnisse zählen (die nackten Zahlen), wird keine Begleiterscheinung ausbleiben, die dazugehört. –

Und was lernen wir vom Verhalten des „leidenschaftlichen“ brasilianischen Publikums, das auch Einzelkämpfer der gegnerischen Partei niedermacht?

Man könnte sagen, das erwünschte Fair-Play-Verhalten sei eben nur Firnis auf dem rohen Holz. Gewiss, – wie auch die Höflichkeit (die vom Hofe stammt), die das Leben erleichtert, aber von der „leidenschaftlichen“ Masse erst im Laufe von Generationen verstanden wird. Oder wie die seit Generationen eingeübte Gastfreundlichkeit, die die Fremdheit zwischen den Menschen nicht aufhebt. Aber einen Kontakt oder sogar ein Gespräch zumindest nicht verhindert. Es geht um den Einzelnen in der Masse. Und um das einzelne Rädchen im System. Um die körperliche Unversehrtheit jedes Einzelnen. Und um die Würde des Menschen.