Archiv der Kategorie: Biographisches

Mienenspiel (ein Leben)

Wie wir denken und fühlen

Prinzessin sein

    

10 Jahre später: Übung

Augen, Nase, Mund?

Kein Selbstportrait (Rihanna?)

Wiederum 10 Jahre später: Zum Studium der Anthropologie

HIER 

Was gibt es noch? Weitere Beispiele für „Kultur-Anthropologie“: Hier

Visuelle Anthropologie Hier Weiteres (aus München) Hier

Osteuropa betreffend: hier Wiki hier  Mediathek Osteuropa hier

Großstadt hier

Wie [man] das Leben gestaltet.

Der suggerierte Zusammenhang einer Geschichte in diesem Blog-Verlauf ist ziemlich frei erfunden bzw. assoziiert (JR). Dank an Eos!

Individuum:

2022

Alle Fotos ©

[ Lesen: https://de.wikipedia.org/wiki/Philosophische_Anthropologie hier ]

Am Wannsee

Zur Erinnerung

Von Greifswald nach Litzmannstadt, Anfang 1942: „ Jan hat herrliche Tage “ (Familien-Album) Jahre des Unwissens (was ist Krieg?). Zweiter Bericht ca. 50 Jahre danach. („…die Polen…“ )

Zur gleichen Zeit:

Am 20. Januar 1942 treffen sich in einer Villa in Berlin-Wannsee hochrangige Vertreter des NS-Regimes zu einer Besprechung, die als Wannsee-Konferenz in die Geschichte eingeht. – (Sie wussten es alle.)  Der Film darüber im ZDF 24. Januar 2022 Bilder (Screenshots) aus dem Film:

Über den Film: Wikipedia hier (u.a. Personenliste + Darsteller) die realen Teilnehmer hier

Video verfügbar bis 17.01.2024, in Deutschland, Österreich, Schweiz

https://www.zdf.de/filme/die-wannseekonferenz/die-wannseekonferenz-104.html

HIER Der Film

Pausengespräch. Zwei Männer mit Blick auf den Wannsee (ab 01:00:25)

1 „friedlich . . .“

2 „sehr . . .“

1 „Heinz Rühmann lebt hier irgendwo. Ebenso Minister Speer. Da runter … liegt die Villa von Max Liebermann. … Der Maler!“

2 „ich weiß … jüdischer Impressionist.“

1 „… Sie sind ein Mann von Bildung…“

2 „… und das überrascht Sie … angesichts meiner Aufgaben im Osten…“

1 „… das hören Sie wohl häufiger…“

2 „… gelegentlich.“

1 „…hätten Sie sich träumen lassen, dass Sie von heute auf morgen Ihren Schreibtisch in Berlin mit so einem Einsatz in Lettland tauschen müssen?“

2 „so erlebt man aus eigener Anschauung, was an den Schreibtischen beschlossen ist. Was ist daran verkehrt?“

1 „diese Vorgänge da im Osten … man hört von Entgleisungen … Brutalitäten … Erschießungsgräben …“

2 „das gehört zum Handwerk. Entweder man lernt’s. Und irgendwann kommt’s. Die einen besser, die anderen schlechter.“

1 „Wie halten Ihre Männer das aus? Jeden Tag diese Aktionen. Ganze Dörfer.“

2 „Wir betonen die Notwendigkeit des Auftrags.“

3 (hinzustoßend) „Und den Rest erledigen Gewöhnung und eine Extra-Ration Schnaps. Schnaps verwischt die Eindrücke des Tages. Nur wenn sie schon während der Arbeit saufen, muss man einschreiten. Zu viele Fehlschüsse, und dann arbeiten sich die Halbtoten bei Nacht wieder aus den Gruben, und man muss sie am nächsten Morgen wieder erschießen.“

1 „Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“

3 „Sie lagen doch selber im Schützengraben.“

1 „Wir haben auf Soldaten geschossen. Nicht auf Frauen und Kinder.“

3 „Ich habe einen Mann, der schießt bevorzugt auf Kinder. Weil die ohne ihre Eltern sowieso nicht überleben können. Er findet, er tut den Kindern einen Gefallen. Hat seine Logik, finden Sie nicht?“

Pause (1 entfernt sich in Richtung Haus)

Jemand tritt heraus: „Die Besprechung wird fortgesetzt!“

01:03:03

1 Dr. Rudolf Lange 2 Wilhelm Kritzinger 3 Dr. Eberhard Schöngarth

 *    *    *

Jahre des Vergessens (in der Schule gibt es kein Thema „Drittes Reich“)

Klassenfahrt nach Berlin (Ausflug zum Wannsee) Sommer 1958

… bald beginnt das Leben, ich will nach Berlin.

John Dowland

Nicht traurig sein! (Ein Antidot)

John Dowland

Can she excuse my wrongs [hier]

Übersetzung von Peter Rottländer

1. Kann sie meine Fehler mit dem Mantel der Tugend bedecken?
Soll ich sie lobpreisen, wenn sie sich als grausam erweist?
Sind dies helle Feuer dort, die sich in Rauch auflösen?
Muß ich die Blätter lobpreisen, wo ich keine Früchte finde?

Nein, nein: Wo statt Körper Schatten sind,
wirst du vielleicht geschmäht, wenn dein Blick getrübt ist.
Kalte Liebe ist wie in Sand geschriebene Worte,
oder Blasen, die auf dem Wasser schwimmen.

Willst du dich weiter so schmähen lassen,
wissend, daß sie dich niemals gerecht behandeln wird?
Wenn du ihren Willen nicht überwinden kannst,
wird deine Liebe ewig so fruchtlos bleiben.

2. War ich so unedel, daß ich nicht emporstreben könnte
zu jenen hohen Freuden, die sie mir vorenthält?
So hoch wie sie sind, so hoch ist mein Verlangen:
verweigert sie mir diese, was gilt denn dann noch?

Gibt sie dem nach, was die Vernunft gebietet:
Der Wille der Vernunft ist, daß Liebe gerecht sei.
Liebste, mache mich glücklich und gewähre mir das noch,
oder beende das Warten, wenn ich denn sterben muß.

Besser ist’s, tausend Tode zu sterben,
als so gequält weiter leben zu müssen:
Liebste, erinnere dich aber daran, ich war’s
der dir zuliebe zufrieden gestorben ist.

Alfred Deller in seiner späten Zeit

1. Can she excuse my wrongs with virtue’s cloak?
shall I call her good when she proves unkind?
Are those clear fires which vanish into smoke?
must I praise the leaves where no fruit I find?

No, no: where shadows do for bodies stand,
thou may’st be abused if thy sight be dim.
Cold love is like to words written on sand,
or to bubbles which on the water swim.

Wilt thou be thus abused still,
seeing that she will right thee never?
if thou canst not overcome her will,
thy love will be thus fruitless ever.

2. Was I so base, that I might not aspire
Unto those high joys which she holds from me?
As they are high, so high is my desire:
If she this deny what can granted be?

If she will yield to that which reason is,
It is reasons will that love should be just.
Dear make me happy still by granting this,
Or cut off delays if that I die must.

Better a thousand times to die,
then for to live thus still tormented:
Dear but remember it was I
Who for thy sake did die contented.

Aus der frühen Zeit des Sängers:

ZITAT

Dies ist die allem endlichen Leben anklebende Traurigkeit, die aber nie zur Wirklichkeit kommt, sondern nur zur ewigen Freude der Überwindung dient. Daher der Schleier der Schwermut, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörbare Melancholie alles Lebens.

Nur in der Persönlichkeit ist Leben; und alle Persönlichkeit ruht auf einem dunklen Grund, der allerdings auch Grund der Erkenntnis sein muß.

Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809)

George Steiner [Vorspruch zu seinem Buch]: Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe / Suhrkamp Frankfurt am Main 2006 / ISBN 3-518-41841-6

Nachwort

Ich kann mir Steiners Gründe nicht durchweg zu eigen machen, obwohl Schelling mich ebenso anrührt: vielleicht der „Schleier der Schwermut“ mehr als die „anklebende Traurigkeit“. Aber die ganze Natur? Der einfache Grund, dies so zu sehen, ist wohl die projizierte Vergänglichkeit, – ein Wort, nah am falschen Sentiment, leichthin gesagt und wohlklingend. Kennt die Ästhetik der Klassiker nicht auch das Erhabene, das Tremendum, den Sternenhimmel, die griechische Schönheit? Da klebt nichts …

Und doch geht mir der achte Grund nicht aus dem Kopf:

ZITAT

Wir werden nie erfahren, welch tief verborgene Unaufmerksamkeit, Abwesenheit, Abneigung oder alternative Vorstellung den manifesten erotischen Text dekonstruieren. Noch die einander nächststeheneden, aufrichtigsten Menschen bleiben Fremde füreinander, mehr oder minder voreingenommen, mehr oder minder unerklärt. Der Akt der Liebe ist auch der eines Akteurs. Diese Doppeldeutigkeit ist dem Wort mitgegeben.

Denken ist am lesbarsten, am wenigsten verhüllt in Ausbrüchen entfesselter, geballter Energie, wie etwa im Falle von Furcht oder Haß. Diese Triebkräfte können, insbesondere im Augenblick des Geschehens, kaum vorgetäuscht werden, mögen auch Virtuosen des Doppelspiels oder der Selbstkontrolle die Verschleierung bis zur Meisterschaft beherrschen.

Tiere, mit denen wir Umgang haben, zeigen uns, daß wir in Momenten der Furcht einen spezifischen Geruch absondern. Vielleicht hat auch Haß einen Geruch. Da Haß die gesamte Palette mentaler und instinkthafter Kräfte mobilisiert, könnte er sehr wohl die vitalste, geladenste Geisteshaltung sein. Er ist stärker, kohäsiver als Liebe (wie Blake intuitiv erkannte). Oft ist er der Wahrheit näher als jede andere Offenbarung des Selbst. Die andere Klasse gedanklicher Erfahrung, bei der es zum Zerreißen des Schleiers kommt, ist die spontanen Lachens. In dem Augenblick, da wir den Witz verstehen oder einen Blick auf die komische Seite erhaschen, liegt unser Wesen bloß. Kurzzeitig gibt es keine  ›Hintergedanken‹. Doch diese Öffnung hin auf die Welt und die anderen ist nicht von Dauer; unabsichtliche Beweggründe kennzeichnen sie.

In dieser Hinsicht wird das Lächeln fast zur Antithese des Lachens. Das Lächeln von Schurken hat Shakespeare sehr beschäftigt.

Im großen und ganzen bleibt der Skandal bestehen. Kein letztes Licht, keine einfühlende Liebe legt das Labyrinth der Innerlichkeit eines anderen frei. (Bilden echte Zwillinge, mit ihrer Privatsprache, wirklich eine Ausnahme?) Letztlich kann Denken uns zu Fremden füreinander machen. Die intensivste Liebe – schwächer vielleicht als Haß – ist eine nie abgeschlossene Unterhaltung Einsamer.

Ein achter Grund für Betrübnis.

Quelle George Steiner: Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe / Suhrkamp Frankfurt am Main 2006 / ISBN 3-518-41841-6 (Zitat Seite 61f)

Vorschau & Rückblick leben

Zufall nach 65 Jahren

Variationen über alte oder neue Themen (s.a. hier oder hier)

Franz Kafka: Die Verwandlung / Text: hier Wikipedia: hier

Damals in der ersten Fischer-Buch Serie 1956

 

Alle in dieser Serie umkreisten Titel stehen heute noch in meiner Nähe (im Regal hinter mir). Mein Arbeitsplatz im Jahre 2000 (87. Geburtstag meiner Mutter, deren Urenkelin sich schreibend und malend dem 2. Geburtstag näherte).

Und wo ist der Zusammenhang, historisch oder privat, mythologisch, ökonomisch, individuell? Anfang und Ende, ich zitiere Bruno Latour, der übrigens Emanuele Coccia zitiert:

und ich zitiere online weiter, bevor ich mit Begeisterung analog weiterlese:

Paradoxerweise … bewirkte ausgerechnet die Episode der Pandemie, dass der Geist der Eingeschlossenen befreit und ihnen einen Augenblick lang erlaubt wurde, der langen Haft im »stählernen Gehäuse« der »ökonomischen Gesetze« zu entrinnen, in dem sie geschmachtet hatten. Wenn man sich je von schlechter Emanzipation emanzipiert hat, dann in diesem Fall.

Von Michel Callon habe ich gelernt, dass der Glaube an die Selbstverständlichkeit des ökonomischen Beziehungsmodus sich nur ausbreiten kann, wenn Lebensformen in eine Welt übertragen werden, in der sie nicht zu Hause waren. Dabei ist wieder einmal der Unterschied zwischen dem Leben »im Präsenzmodus« und dem Zugang »online« im Spiel. Das Seltsame an der Ökonomie ist nämlich, dass sie sich zwar mit den gewöhnlichsten, wichtigsten, unseren täglichen Sorgen aufs Engste verbundenen Dingen abgibt, diese aber hartnäckig so behandelt, als seien sie denkbar weit entfernt und spielten sich ohne uns ab, so, als würden sie vom Sirius aus und völlig interesselos erfasst – manchmal benutzt man dafür das Adjektiv »wissenschaftlich«.

Quelle Bruno Latour: Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown / edition suhrkamp SV Berlin 2021/ ISBN 978-3-518-12771-1

Lesehinweis: Die einzelnen Kapitel im Zusammenhang mit ihren Quellen-Explikationen betrachten: so zu Kapitel 1 Seite 174, zu Kapitel 2 Seite 175 usw.

Dort (S.174) auch der Link zur Oper von Michaël Lévinas (Ausschnitt) hier

Betr.: Netzwerkdenken aktuell hier und hier

Siehe auch (S.198) den Link zur Verzögerung des Earth Overshoot Day im Frühjahr 2020 hier !

Siehe auch Akteur-Netzwerk-Theorie hier. / Dank an JMR 6.12.21 (bzw. 12.12.21)

Wie allein bin ich?

Einzeln, einsam oder wirklich allein?

.    .    .    .    .

Safranski bezieht sich auf Burckhardt

Jacob Burckhardt – das ist mein Italien (Michelangelo)

.    .    .    .    . Notiz im Buch

Meine Mutter hatte das hineingeschrieben, ein Geschenk also von Frieder Lötzsch, einem Klavierschüler meines Vaters, in dessen Todesjahr 1959. Er galt als intellektuelles Wunderkind, als er auf Langeoog mit den Älteren diskutierte; er belehrte sie alle und zitierte Aristoteles (Thema „Persönlichkeit“). Nach Jahrzehnten traf ich ihn bei einem Ehemaligen-Treffen in Bielefeld wieder, wir hatten uns nicht viel zu sagen. Seine Veröffentlichung des Jahres 2006 betraf einen unserer ehemaligen Lehrer, den Philosophen Helmuth Dempe, den ich erinnere dank eines heftigen „Gesprächs“, das zwischen ihm und meinem Vater entbrannte, beide recht intensive Rechthaber. Beim Kaffee im Freudental an der Sparrenburg-Promenade. Lauter typische Einzelne. Wie auch ich, im jüngeren Umfeld, zumal ich Geige spielte und klassische Musik ernst nahm. Sehr befremdend eigentlich, dass ich – obwohl Altsprachler und eher schüchtern – zum Schulsprecher gewählt wurde.

Es ist eigentlich immer dasselbe Problem mit den Anderen: ob man mehr vom Individuum her denkt – oder mehr von der Gesellschaft, der Gemeinschaft, der Freundschaft, den Außenbindungen her denkt. Man kann es überall herauslesen, wenn man will. Ein Beispiel: das aktuelle Spiegelgespräch:

Quelle Der Spiegel Nr.46 / 13.11.2021 Seite 96 (Gespräch Christiane Hoffmann mit Timothy Garton Ash).

Gab es nicht schon immer „Persönlichkeiten“? Leute mit bedeutender Ausstrahlung?

Renaissance, Wiedergeburt. Und Gegenwart.

Hannah Arendt nach Safranski

Das muss man verinnerlichen, den Satz von der „Balance zwischen Einheit und Vielheit“. Die Demokratie bewirke und bewege die Lebendigkeit der Gesellschaft dadurch, dass die Einzelnen einander dabei helfen, jeweils neu anzufangen. „Doch die damit einhergehende Nichtübereinstimmung der Individuen muss lebbar bleiben. Das leistet die Demokratie mit ihrem rechtsstaatlichen Regelwerk, das den Differenzen und der Pluralität einen Rahmen gibt. Nur so entsteht die Balance zwischen Einheit und Vielheit. “

Jeder kommt von einem anderen Anfang her und wird an einem ganz eigenen Ende aufhören.

Aber das ist im realen Leben eine zu abstrakte Formel. Denn das Kernproblem liegt heute anders: Wir leben in einer Kultur,

die getrieben ist von einem Konzept der Unendlichkeit, dem unerschütterlichen Glauben daran, dass alles für immer so weitergeht. Diese Kultur ist sehr erfolgreich. Aber wenn man es mit Endlichkeitsproblemen zu tun hat, ist es nicht ideal, keine Vorstellung von Endlichkeit zu haben. Und die Themen, die aus meiner Sicht das 21. Jahrhunderrt bestimmen – Artensterben, Klimawandel und alle anderen ökologischen Probleme – sind Endlichkeitsprobleme. Wenn die Insekten weg sind, sind sie weg. Und wir auch. Ganz einfach.

So Harald Welzer im Interview der Süddeutschen Zeitung (Johanna Adorján) am 13./14. November 2021 (Seite 56), und es wird konstatiert:

2020 hat die tote Masse auf diesem Planeten die Biomasse erstmals übertroffen. Das bedeutet, es gab auf der Welt mehr Menschgemachtes als Natur.

Mehr, mehr, mehr. Die Litanei der Ökonomen.

Wenn etwas Großes passiert ist wie die letzte Finanzkrise, stehen sie da und sagen: „Huch“. Dann schweigen sie drei Monate. Und wenn die Politik agiert hat, sagen sie: „Im nächsten Quartal rechnen wir mit einem Wachstum von soundso viel Prozent.“ Mehr Beitrag haben sie nicht. Auch bei Corona: keine einzige Idee. Nur Hochrechnungen, ab wann wieder mit Wachstum zu rechnen ist. (…)

Harald Welzer gibt einen interessanten Hinweis zur Sprachpraxis, nämlich, statt „Wachstum“ immer „gesteigerter Verbrauch“ zu sagen. Er sagt:

Man stelle sich nur mal vor, der Koalitionsvertrag, den wir bald sehen werden, beginnt mit der Aussage: „Wir werden für gesteigerten Verbrauch sorgen“. Klingt gleich ganz anders, oder? Dann wäre bestimmt ein anderes Bewusstsein dafür da, was diese wohlklingenden Wachstumsbeschwörungen in Wahrheit immer bedeuten. Vor allem für die Umwelt.

Das war am Wochenende zu lesen. Sehr interessant auch seine These, die an Ernst Bloch anknüpft: „Gott wurde säkularisiert, der Teufel aber nicht.“

Ja, die Aufklärung hat nur Gott für tot erklärt. Den Teufel – das Prinzip des Widersacherischen, wie es bei Bloch heißt – nicht. Und so kommt es, dass es bei jeder Katastrophe dieselbe riesige Überraschung gibt. Ein Amoklauf an einer Schule in Amerika: Na so etwas, wie konnte denn das passieren? Der Unfall, die Katastrophe, das Misslingen ist in unserer Gesellschaft systematisch nicht vorgesehen. Es wird immer als Unfall gesehen, als Abweichung von der Normalität, nicht jedoch als Teil der Normalität. (…) Ein Unglück, ein Terroranschlag, ein Erdbeben wird immer als einzelnes Phänomen betrachtet. Eine Art negatives Wunder, dass es überhaupt geschah. Es wird völlig überhöht, ist „tragisch“, „unvorstellbar“. Es muss dann auch immer ein Schuldiger gefunden werden, der das zu verantworten hatte. Dabei, und jetzt kommen wir wieder zum Thema Endlichkeit: Es kann nicht immer gutgehen. Es kann immer etwas passieren. Man muss sogar damit rechnen, dass schreckliche Dinge passieren.

Und heute liegt das Buch vor mir, „Nachruf auf mich selbst“ – einzelner geht es nicht:

Welzer: Nachruf auf mich selbst

dies bewegte mich 1980 / 1982 – die Unterstreichungen stammen von damals . . . rückblickend finde ich mich damals jung …

Die 90er Jahre?

Nach der „Jahrtausendwende“ – ein großer Sprung:

Berlin 2017 / 2019 München 2019

Donnerstag 18.11. 2021 – die neue ZEIT ist da: ich habe Zeit, sie zu durchblättern, schließlich bin ich nicht allein, der Kaffee ist längst fertig. Seelenlage: ausgeglichen.

Aber ich bin abgelenkt durch Artikel und Blickfang auf der nächsten Seite: Foto gemeinfrei. Denn der abgebildete Springer, ein junger Mann, war schon damals tot, sonst wäre dies kein antikes Grabmal.

Paestum um 480 v. Chr. s.a. hier

Zurück zu „Seelenlage: Schmerzlich“. Da heißt es zu dem Buch von Daniel Schreiber („Allein“):

Schreiber ist Experte für Tabus. Er hatte 2017 in dem schmalen Band Zuhause erzählt, wie er sich als schwuler Junge in einem ostdeutschen Kaff durch die Kindheit litt. In Nüchtern (2014) geht es um Sucht. Der Autor weiß, wie es sich anfühlt, randständig zu sein, beäugt und beurteilt zu werden. Alleinsein, schreibt er, ist etwas, was auch anderen Furcht einjagt, weil Einsamkeit als ansteckend wahrgenommen wird, sie ist mit Scham behaftet, wird versteckt.

Es ist die Selbstoffenbarung, die Schreibers Buch von dem Werk Rüdiger Safranskis gänzlich unterscheidet, auch wenn die Titel ähnlich sind. […] Hier nun: Start bei der Renaissance! Safranski arbeitet sich durch die Reformation über Rousseau zu Kiekegaard vor, verweilt bei Stefan George, Zwischenstopp bei Ricarda Huch und Hannah Arendt (niemand soll ihm sagen, wie beim Romantik-Buch, er habe die Frauen vergessen!), am Ende landet er bei Ernst Jünger – »Der Einzelne als Stoßtruppführer«

Es ist ein Fast Forward durch die Philosophie. Man kann sich vorstellen, wie so ein Buch zu Weihnachten an die Papas geht und wie wenig nach einem Cognac noch auffällt, wie grob es geschnitzt ist. »Wer als Einzelner erlebt, steht im Freien, ohne sich deshalb schon befreit zu fühlen.« Nun ja. Ob italienische Stadtstaaten sich »in der Arena des polyzentrischen Kräftespiels wie eigensinnige Individuen« verhielten? Sind die großen Künstler von Florenz vor allem »Darsteller des eigenen Ichs«? Eigentlich nein. Wohin führen solche Vereinfachungen? Mit Sicherheit weit weg vom Schmelzkern des Themas, einer eigenen Einsamkeitserfahrung.

Quelle DIE ZEIT 18. November 2021 Seite 72 „Seelenlage: Schmerzlich“ Daniel Schreiber und Rüdiger Safranski erkunden das vereinzelte Ich auf verblüffend verschiedene Weise / Von Susanne Mayer

Stadtstaat und Kosmopolitismus

Die großen Begriffe der italienischen Stadtstaaten uomo singolare, uomo unico“

Quelle Jacob Burkhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien / Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1952 (1860)

Siehe auch hier: http://s128739886.online.de/athen-und-florenz/

Sobald man das Individuum hervorhebt, ist es ein notwendiger Schritt zu bedenken, dass kein Individuum für sich allein existiert.

.    .    .    .    .

Quelle Thomas Vašek: Philosophie! die 101 wichtigsten Fragen / Theiss/ Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2017

P.S. Ich verweise dankbar auf den Artikel, in dem ich wohl zum ersten Mal im Blog auf dieses schöne Lexikon hingewiesen haben (ebenfalls in der Vorweihnachtszeit, Thema SEELE): hier

Und was ist, was vermag eigentlich der einzelne schöpferische Mensch?

Hier war mir das Büchlein noch neu. Jetzt ist es mir aus einer veränderten Situation heraus von neuem wichtig geworden. Ich schaue nicht mehr als erstes auf die Tiere, auf die Natur, sondern auf den Menschen, der an die Stelle Gottes tritt. In der Kunst ebenso wie bei der Herstellung einer wohlgeformten Holzkelle oder eines Hauses. Da sollte ich den entscheidenden Sprung der Gedanken darstellen oder wiedergeben…

Hübsch hässlich!

Siehe auch hier und hier.

Manchmal drängt sich dieses Wortpaar auf, dessen Erfindung ich auf den bratschespielenden P.R.-Mann Felix Ney vom Kölner Lufthansa-Büro zurückführe.

Wichtigeres kann ich dagegen nicht mehr dingfest machen, z.B. das lästigste Märchen meiner Kindheit, das „von den blutigen Knien“ (ihre Innenansicht war gemeint!). Man wird es vielleicht erst los, wenn man es wiederliest und einfach doof findet. Das folgende Foto finde ich allerdings gut, einfach gut, ich wäre nicht drauf gekommen, es entstand am Ortseingang von Oudeschild auf Texel:

Foto Texel 11.9.21: E.Reichow

Nicht auszudenken, – man würde dieses Foto einem Chirurgen schicken…

Oder im heutigen Solinger Tageblatt (dpa) der philosophische Satz:

Von einem bösen Foul, das zur roten Karte führte, war u.a. die Rede. Und so kam ich auch auf die unausrottbare Erinnerung mit den Knien, die nur von Innen blutig gedacht werden sollten, – was ich schon als kindlicher Märchenleser unästhetisch gefunden habe, ohne das Wort zu kennen. Aber echt von außen blutige Knie waren mir gut bekannt. Schlimmer noch, wenn man auf Asche statt auf Rasen gestürzt war.

Und auch die heutige (21.9.21) Titelgeschichte von Johannes Bebermeier in t-online gehört dazu (Abkürzungen von mir):

… Mitte Juni auf dem Parteitag der Grünen: ein pennender Tontechniker, ein nicht abgeschaltetes Mikrofon und viel Frust nach einem eher mäßigen Auftritt der Kanzlerkandidatin.

Eigentlich soll B.s Rede dem Wahlkampf neuen Schwung geben. Doch schon, als sie die Bühne verlässt, nach einigen langen Sekunden gequälten Lächelns im Applaus der Parteifreunde, ist vom Schwung nicht mehr viel übrig.

[Sie] sagt ein Wort, das sie in diesem Wahlkampf wohl sehr oft gedacht, aber sonst nie öffentlich ausgesprochen hat. Ein Wort, das die vergangenen Monate alles in allem und gemessen an den hohen grünen Erwartungen ziemlich gut zusammenfasst. A. B. sagt: „Scheiße!“

Ich finde „ziemlich gut“ schon fast „hübsch hässlich“. Vor allem aber die Tatsache, dass man heutzutage dieses eine hässliche Wort endlich ausschreibt. Im Jahre 1960 habe ich es noch nicht einmal ausgesprochen. Das weiß ich so genau, weil es in Berlin bereits untrennbar zu einem Witz gehörte, den man über den Dirigenten Konwitschny erzählte. Der nicht immer ganz nüchterne Mann habe die Fünfte von Beethoven dirigiert und sich bei der Menge der C-dur-Schlussakkorde (daraus hat Loriot offenbar seinen Sketch entwickelt!) verzählt. Er habe zuletzt noch einmal ins Leere geschlagen und gut vernehmlich die wütenden Worte gezischt: „Scheiße! Dann eben nicht!“

Heute erzählt man eher die Geschichte von seiner doppelten Karriere. Und ich zähle natürlich die Akkorde nach und vermute, dass er die Schlussfermate einen Takt zu früh geschlagen hat, die Arme unten ließ, während das Orchester noch auf den allerletzten Schlag wartete.

Meine Partitur aus dem Jahr 1955. Die erste Sinfonie, die ich am Radio mitlas, war allerdings die 8., deren Partitur ich im Bücherschrank meines Vaters konfisziert hatte, wie auch die 7., deren vorangestelltes Beethoven-Portrait ich verehrte. Und die erste Partitur überhaupt, die ich selbst vom Taschengeld erwarb, war die Ouverture zu „Die Ruinen von Athen“, sinnvollerweise sehr preiswert, im Dezember 1954. Und die erste greifbare Melodie, die leider nirgendwo wiederkehrt, übte ich wie verrückt am Klavier, bis meinem Vater, von dem ich eigentlich wusste, was Partiturspiel bedeutete, im Badezimmer nebenan der Geduldsfaden riss. Die Szene, – irgendwie doch unvergesslich, und zweifellos – ein bisschen hässlich.

antiquarisch

Überhaupt eine hochgespannte Zeit, die ich mir gar nicht so sehr zurückwünsche.

Besuch in Siegen

Was macht eigentlich Reinhard Goebel?

Seit wann kennen wir uns? Ich habe das vor rund 15 Jahren schon einmal reflektiert, allerdings so, dass er sagte: „Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr“. Es war ein Scherz, denn er wusste durchaus, wie ichs meine. Allerdings habe ich mich auch an ein Bilderbuch meiner Kindheit erinnert, das mich mit folgender Maxime erschreckte: Ruhe recht und schone niemand! Und heute erhielt ich die Mail eines Kommilitonen von einst, der in die gestrige Klassikforum-Sendung in WDR3 mit Reinhard Goebel hineingehört hat: „Er plauderte über Gott und Harnoncourt und auch die Welt, ließ aber an anderen kaum ein gutes Haar.“ Wie unterschiedlich doch die menschliche Wahrnehmung funktioniert. Mir fiel auf, wie liebevoll Goebel immer wieder über seine Lehrer sprach (Franzjosef Maier, Igor Ozim oder Marie Leonhardt zum Beispiel) und wie hart zuweilen über sich selbst (über sein spätes Violin-Examen in Rostock, über die Takt-Schwerpunkte in seiner alten Aufnahme des Pachelbel-Kanons, die gleichwohl als kritisches Gegenstück zu der Version mit Schmidt-Isserstedt und dem NDR-Orchester auf Anhieb begeistern konnte). Wie auch immer man seine Arbeit und seinen Lebensweg betrachtet: er ist ein Phänomen sondergleichen.

Aus dem JR-Beitrag 2005 (vollständiger Text siehe hier):

Mehr über Reinhard Goebel hier (Wikipedia) und hier (Website) und eher privat:

Bücherwände allüberall!

Aber dort…

…  stehen zwei Bände, die ich auch habe.

Immerhin!

 

Reinhard Goebel: Beethovens Welt (ohne Beethoven) siehe hier

 

 

.    .    .    .    .

Daumen drauf: 19. Jahrhundert er ist ein Frauenversteher unentwegt „präsent“

Was mir aus den Gesprächen im Moment besonders festhaltenswert erscheint, also: über das hinaus, was RG schon in dem GersteinTelekolleg über die Brandenburgischen Konzerte ausgeführt hatte, seine Charakteristik der Concertos: I die Jagd HÖRNER, II der Ruhm TROMPETE, III die Musen: Instrumente in DREIERGRUPPEN, IV der Friedensfürst FLÖTEN, V der Kriegsherr 16tel-REPETITION, VI die schöne Aussicht aufs Jenseits GAMBEN: all das gilt nur für den jeweils ersten Satz.

Wer ist wer? Es gibt keine Langeweile. Der weite Himmel über Siegen!

Alle Fotos: E.Reichow

Und etwas Ähnliches in live und lebendig? Hier:

Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal bei der Erinnerung an die Phantasiewelt meiner frühen Kindheit auch an das VI. Brandenburgische Konzert von Bach denken würde:

JR 1945 (?) Waldemar Bonsels 1940 (Siehe Bio hier!!!)

Unbehagen & Tagesgeschehen

Zuckerkandl

Die Ausgangslage

Wohltemperiertes Klavier I BWV 863 Quelle Victor Zuckerkandl: Vom musikalischen Denken / Begegnung von Ton und Wort / Rhein-Verlag Zürich 1964 / Zuletzt studiert 2006/2007

Die Lage des Tages 25. Juni 2021

Im Tageblatt über Beuys (sein Lob auf Lehmbruck) gelesen: größtes Unbehagen. Wieder einmal scheint mir alles verdächtig, was nach wohlfeiler Esoterik riecht. Zufall: auch Zuckerkandl lag wieder auf dem Tisch, den ich als unverdächtig und inspirierend in Erinnerung habe. Das Bach-Praeludium BWV 863 habe ich am Klavier (d.h. nicht nur auf dem Papier) wiederholt und kann es „besser denn je“.  Über dem vor Jahren (nach Bergner) in der Studienpartitur analysierten Stück steht mein Hinweis von damals, der nun diesen (voraussichtlich – unfreiwillig –  kritischen) Artikel auf den Weg bringt. Doch zunächst das aktuelle Motiv:

Quelle Solinger Tageblatt 25. Juni 21 Seite 7 „Der Mann, der Beuys zum Künstler machte“ von Christoph Driessen

„Steiner war das große Idol von Beuys“ (was einen nur skeptisch stimmen kann), er führte „die Katastrophe des Ersten Weltkrieges darauf zurück, dass man der Kultur zu wenig Raum gegeben habe.“ (Schwachsinn: die größten Künstler waren mit Begeisterung gerade in diesen Krieg gezogen). Die Rede vom „Innenton, den jede Skulptur in sich trägt“, ist metaphorisches Gesäusel. Und die dauffolgenden Worte von der Synästhesie sind keine Erklärung, sondern ebenfalls Gesäusel, „vor allem ganz intuitiv und emotional“. Die Begabung der Synästhesie ist ebensowenig eine künstlerische Auszeichnung wie etwa das absolute Gehör, erst recht kein Kriterium für Urteilskraft.

Motivation gis-moll Mitte Juni

Mein ältestes Buch zum WTK wirkt zuweilen immer noch „verstärkend“ (Hermann Keller Bärenreiter 1963 Seite 94):

Das Präludium ist, ebenso wie das nächstfolgende, eine dreistimmige Invention, die erste im W.Kl. Was das Wesen einer Invention ausmacht, nämlich die Durchführung eines Themas (einer „inventio“) ohne Dazutritt weiterer Motive oder Themen , das ist hier in beispielhafter Weise erfüllt. Das Thema ist ein charakteristisches aus Sechzehnteln und Achteln gebildetes Taktmotiv. Es wird im Sopran aufgestellt, vom Baß nachgeahmt, dann mit seiner ersten Hälfte im Sopran sequenzmäßig weitergeführt und leicht umgebildet (T. 3/4). Dann wiederholt sich das Spiel zwischen Alt und Baß (T. 3/4), so daß damit alle drei Kombinationen ausgeschöpft sind. In Takt 10 tritt das Thema in der Umkehrung auf, in T. 14 schließt der erste Teil.

Das ist interessant, in meiner Partitur habe ich das übersehen (s.o.), ich war (mit Christoph Bergner) anderer Meinung, weil der Triller als Abschluss doch ziemlich viel Gewicht hat. Ich vermute allerdings, dass ich damals z.B. die Umkehrung in Takt 10 noch nicht erkannt habe, zumal sie Bach durch Überbindung des AIS bewusst versteckt hat. Dafür habe ich etwas anderes entdeckt, das mich an meinen älteren Bruder erinnert hat: ein Motiv, das sich nicht als bloße Abwandlung erklärt, sondern als „Wink“, der … ja was? es ist ein abfallender Dreiklang oder nur ein Quintfall, der durch einen vorhergehenden Zeitlupentriller auffälliger wird: Übergang Takt 6/7 und Übergang 7/8. Es ist lediglich eine Mikroassoziation, der ich aber aus familiärer Sentimentalität Raum gebe: Mein Bruder „musste“ damals nach den zweistimmigen Inventionen mit den Bachschen Sinfonien anfangen und schimpfte beim Üben über die vertrackte Dreistimmigkeit, bis er sich in diese eine Stelle verliebte und mich drauf aufmerksam machte, indem er sie gefühlvoll mitsang, – er war stolz auf seine Entdeckung! Für mich schlägt die Stelle bis heute eine anachronistische Brücke zu Mozarts wunderbarem Cantabile-Thema des zweiten Satzes der „Sonata facile“, die wir natürlich längst gespielt hatten, – obwohl sie keinem von uns „facile“ vorkam, wohlwissend, dass sie genau so klingen sollte: und nicht nur „facile“, sondern auch „semplice“.

das grüne Motiv

Was das Praeludium angeht, fährt Keller a.a.O. fort: „Der Spieler erinnere sich, daß für Bach der Hauptzweck der Inventionen war, eine cantable Art im Spielen zu erlangen. So erfordert dieses anmutig alle starken Akzente vermeidende Stück doch einen kantablen, alle Stimmen beseelenden Vortrag, dessen Voraussetzung wiederum eine ruhig gehendes Zeitmaß mit Achteln als Zählzeit ist.“

Hinsichtlich der Form, dem dynamischen Aufbau des Ganzen, wäre für mich allerdings wesentlich, dass neben dem kantablen Fluss auch in diesem Stück – wie schon in der vorhergehenden Fuge angemerkt – ein Höhepunkt vor der Coda herausragt (ohne dass man ihn besonders hervorhebt): Takt 24. Gern sehe ich darin eine Vorahnung der resoluten Tonrepetition im Ausgang des nachfolgenden Fugenthemas, – eigentlich ein Problem für die unauffällige Verzahnung der Stimmen. Oder gerade ein willkommenes Strukturmerkmal? – Der Alltag schafft eigene Kontrapunkte, und so begleiteten mich diese Überlegungen und Motivrelikte zum Zahnarzttermin, der wiederum eine kleine Reise nach Remscheid heraufbeschwor.

Homunkulus und Dentaltechnik (Erinnerung an vorgestern)

SG: Remscheid: Von hier aus kann man den Kölner Dom sehen, wenn das Wetter es zulässt.

Analyse

Eine Million Zahnformen – Leibniz exemplifizierte seine Monaden an Blattformen.

… geniale Apparaturen, mit und ohne Menschen funktionierend, sympathische junge Leute aus Aleppo, Bagdad, aus dem Iran, der Türkei, Argentinien, das Digitale verbindet sie alle. Für mich spielte an Remscheids Eingang wie vor 40 Jahren (Jugend musiziert) das elektronisch ausgelöste Blitzlicht eine Rolle, S-Kurve, Tempo 30, jäher Schreck, Protokoll folgt. Ich bin aus der Zeit gefallen, ein Restbestand. Alles nur für einen streng analogen Zahnfarbenabgleich, als sei ich der Mann der Zukunft. Ich werde sorgenfrei lächeln können. Ausfahrt in Richtung SG mit präzisen 30 km/h, – leichter Druck im linken Unterkiefer, fast ohne Schmerz, grundlos glücklich.

Rückfahrt nach SG, wachsendes Unbehagen, Gedanken über Automatisierung kreisen unabweisbar weiter, künstliche Intelligenz, soviel Feintechnik für die Funktion unserer Kauwerkzeuge, Ästhetik der Formen und Farben ins Unendliche aufgefächert, reduziert auf Homunkulus in Faust II, über die unzureichenden Mittel des bloßen Geistes, über den Film „Ich bin dein Mensch“. Ein Roboter. Darin „steckt eine jahrtausendealte Diskussion um Menschlichkeit und Künstlichkeit, um Natur und Kunst, um den menschenbildenden Prometheus und die technischen Raffinessen des Mängelwesens Mensch. (…) Und so wie für Alma ein Roboter zum Menschen wird, so wird uns der Film mit all seinen doch nur vorgespielten Gefühlen und Gedanken zur täuschend echten Gegenwart. Diese traurige, ernste Komödie ist ein Fest der Kunst und der Künstlichkeit, und manchmal fällt ja beides in eins.“ (Adam Soboczynski in DIE ZEIT „Tänzchen mit Frankenstein“ 24.6.21 Seite 55)

Zur Musik

Ich mag den Anfang des Bach-Praeludiums nicht so groß sehen, wie es Zuckerkandl nahelegt, ausgehend von einem melodischen „Urphänomen“, den ersten drei Tönen der Oberstimme. Ein Einfall? … auf den die Arbeit folgt. Und dann die Relativierung (S.115 vorletzte Zeile):

Eine solche Überleitung, Verlegung des Schwerpunktes der Tonbewegung von einem Klang zum anderen, ist eine simple Aufgabe, die nach den Regeln der Kunst durchzuführen ein Kompositionsschüler im zweiten Studienjahr fähig sein muß.

Das galt für mich, seit ich das Stück kennenlernte, ich wollte es nie üben, – zu simpel, der Wechsel zum verminderten Septakkord und das schwächliche Zurückgleiten in der zweiten Takthälfte. Kein Wunder, dass der kleine Reuter bei „Jugend musiziert“ gedächtnismäßig versagte und sich die Noten holen musste: es sind keine Artikulationen, die sich ins Hirn eingraben. Es ist ein Schema; jeder kann es benutzen, ein leichtes Unbehagen auch hier:

Es ist die gleiche Polarität (A), die das Thema der „Kunst der Fuge“ prägt, oder das komplexere „Thema regium“. Erst in Bachs jeweiliger Metamorphose lädt es sich auf. Es steht nicht, wie ein anderes Praeludium, etwa das in cis, mit der ersten Geste groß vor uns, aber jenes, mit verdoppelten Proportionen (2+2 statt 1+1), fährt ganz ähnlich fort mit einem Sequenzgang, nur gesteigert, groß und pathetisch ausholend ab Takt 5, unvergesslich:

cis-moll BWV 849

Wie erwähnt, folge ich bei der oben in die Noten eingezeichneten Gliederung – wie so oft – den hervorragenden „Studien zur Form der Präludien“ etc. von Christoph Bergner (Hänssler 1986). Alfred Dürr (Bärenreiter 1998 Seite 196f) hat eine ganz andere Skizze zum Formverlauf gegeben, die ich vielleicht ein andermal diskutieren möchte, was aber letztlich nicht weiterführt. Es geht nicht nur um die Frage, ob Takt 13 das Ende eines Formteils darstellt (Indiz: der eindeutig abschließende Triller) oder den Anfang eines neuen (Indiz: Themeneinsatz im Bass, dem der Sopraneinsatz Takt 14 nur folgt). Davor und danach spielt die Umkehrung des Motivs eine Rolle…

Man soll die Idee der Symmetrie, die mit Hilfe des verminderten Sextakkords und der Technik der Umkehrung entsteht, nicht strapazieren. Als Warnung und Anreiz zugleich gebe ich die folgenden Seiten wieder:

1

2

Quelle 1Hanns Heinrich Eggebrecht: Bachs Kunst der Fuge / Serie Piper 1984 / 2 Walter Kolneder: Die Kunst der Fuge Mythen des 20. Jahrhunderts Bd.I Heinrichshofen 1972

(Fortsetzung folgt)

FAUST

Damals

Ich denke oft an das Haus zurück, das meine Eltern mit uns Mitte der 50er Jahre hoch über Bielefeld bezogen, d.h. man überblickte die halbe Stadt und hatte vom Garten aus nur 50 Schritte bis zur Promenade, einem breiten, asphaltierten Kammweg, der bis zur Sparrenburg führte. Ich befand mich, ohne es benennen zu können, in der Pubertät, meine Mutter sprach von „Flegeljahren“, die angeblich ausblieben, dabei war ich zumindest gedanklich auf Höhenflüge eingestimmt, die Nachtigall sang gleich hinterm Gartenzaun und aus der Ferne kamen entsprechende Antworten. Der Eingangsbereich unseres Holzhauses war ein gemauerter Keller mit Heizungsraum, wo ich oft neben dem Kohlenverschlag Geige übte, außerdem gab es ein Klo, einen Abstellraum mit Putzgerät, eine Treppe nach oben und einen großen Keller, in dem ein Apfelregal stand, das den Duft der gehorteten Früchte verbreitete, ein großer alter Esstisch, meist mit Werkzeugen bedeckt, außerdem eine Schubkarre und verschiedene Fahrräder. Und eines Tages entdeckten die Freunde meines älteren Bruders diesen Raum als idealen Ort für Zusammenkünfte, besonders wenn man oben im Garten gefeiert hatte, vielleicht noch den Abschied hinauszögerte, ein paar Getränke aus dem oberen Wohnbereich beschaffte. Und genau dort unten entstand von einem bestimmten Abend an ein unglaubliches Zentrum, das eine neue Welt zu eröffnen schien. Vielleicht real nur zwei, drei Sommerwochen lang. Einer von den Freunden hatte ein riesiges Tonbandgerät mitgebracht, Grundig, kaum zu glauben, dass der schlaksige Junge es  von der Straßenbahnhaltestelle aus den Berg herauf geschleppt hatte. Auch Mikrophone dabei, so konnte man sich selbst beim Feiern aufnehmen und sogleich wieder abhören. Sie improvisierten kleine Szenen, es gab viel Gelächter. Und eines Tages hatte dieser Freund namens Lönnendonker etwas vorbereitet, nämlich einige Langspielplatten überspielt, Musik, sie hatten eine Band gegründet, „The Skyliners“, und erste Versuche festgehalten. Aber da gab es auch eine Aufnahme, die mehrere Spulen füllte und merkwürdigerweise uns alle in den Bann zog, vielleicht bei den Älteren dank einer nachhelfenden Schullektüre. Aber ohne die hysterische Fieslingsstimme des Mephistopheles wäre der magnetisierende Effekt wohl nicht eingetreten: es war Goethes Faust in der Gründgens-Inszenierung. Vielleicht 1957? (Der Film kam erst 1960 heraus. Es muss diese Aufnahme gewesen sein: 3 LP Box-Set mit 36-seitigem Begleitbuch (mit Texten). Die Gründgens-Inszenierung des Düsseldorfer Schauspielhauses aus dem Jahre 1957. Mit Paul Hartmann (Faust), Gustaf Gründgens (Mephisto), Käthe Gold (Margarete), Elisabeth Flickenschildt (Marthe Schwerdtlein), Ullrich Haupt und anderen. Ich glaube, das Gerät verblieb wegen seines Gewichtes einige Tage dort bei uns im Keller, und auch ich durfte es offenbar bedienen, hörte stundenlang, konnte immer längere Passagen auswendig, die andern ebenso, und die etwas spröde Musik von Mark Lothar befremdete uns zuerst, ergriff uns schließlich genau so wie das strenge Pathos der Schauspieler. Selbst der Prolog im Himmel, den wir immer übersprungen hatten, begeisterte uns, weil die Stimme des Bösen so furchtlos und zynisch mit dem Herrn des Weltalls rechtete und räsonnierte. Unvergesslich die Szene mit den rettenden Chören: „Was sucht ihr mächtig und gelind, ihr Himmelstöne mich im Staube, klingt dort umher, wo schwache Menschen sind, die Botschaft hör ich wohl, allein: mir fehlt der Glaube!“ Das war der  packende Monolog für mich, den Nietzsche-Leser, unbeschreiblich all dies, und wenn ich durch die Wälder lief, um mich sportlich stark zu machen, waren es diese recht physisch verstandenen Übermensch-Ideen, die mich umtrieben.

Szene III

Szene II

Szene I

Was konnte man damals wissen über die Entstehung des Textes? Eine vollständige Werkausgabe hatte sich schon meine Mutter besorgt („zeitlos“ wie manche Möbel, vielleicht ähnlich motiviert wie – nach dem ersten Gehalt – das Bild der Sixtinischen Madonna, das dann lebenslang über ihrem Bett hing): 20bändig herausgegeben von Theodor Friedrich 1922, Eintragungen aus ihrer Schulzeit (Abitur 1931), Unterstreichungen von meinem Bruder und mir. Im Anhang des dritten Bandes („Faust“) die folgende Chronik:

Und die Lesespuren im Text, die meiner Mutter (beflissen) und rechts – zum Gefühl – die meines Bruders (provokativ), auf der nächsten Seite die allerletzte Unterstreichung im ganzen Faust-Band: „Auch, wenn er da ist, könnt‘ ich nimmer beten“. Von wem wohl?

Andererseits muss ich mich daran erinnern, dass damals alles literaturwissenschaftliche Zubehör nicht interessant war am „Faust“. In der Gymnasial-Oberstufe gab es bei uns eine Theater-AG, der ich nicht angehörte; wir Altsprachler brachten allerdings die „Antigone“ des Sophokles auf die Bühne, mit dem Sprechchor, der die Aktionen kommentierte, archaisch, beeindruckend – die anderen dagegen spielten „Doktor Faustus“ von Marlowe, aus meiner Sicht enttäuschend abweichend von meinem schon anders gepolten Faust-Bild. Wie aber war es gepolt? In meiner Vorstellung spielte der Wissensdrang der Titel-Person eine große Rolle, die Loslösung vom leeren Ideal, von den Worthülsen des Guten, Schönen, Wahren, auch die Magie und die geheimnisvolle Phiole (über Jahre bis hin zu Gottfried Benns Verherrlichung des „Provozierten Lebens“). Aber entscheidend war seltsamerweise die Sexualität, die mir in Goethes Drama wilder und abgründiger erschien als irgendwo in der engen heimischen Außenwelt, die sich darüber vollständig ausschwieg, oder in den rüden Anspielungen aufgeklärterer Mitschüler. Im Drama gingen mir die gehässigen Bemerkungen über das „gefallene“ Gretchen nach, die unverstandenen Worte ihres Bruders „dass alle brave Bürgersleut / Wie von einer angesteckten Leichen / Von dir, du Metze, seitwärts weichen“, es war die von mir kaum begriffene moralische Bewertung im Verlauf der ganzen Verführungsgeschichte, die intensivsten Identifikationen mit dem Mädchen, mit dem leider nicht nur glorreich wirkenden Manne, dem störenden Teufel, der aber zwingend dazugehörte, ja, der alles aus nächster Nähe mitbetrieb. Die scheinheilige Rolle der Marthe. Gretchen, im Kerker, die sich nicht retten ließ, dem Wahnsinn verfallen. Lauter ungelöste Konflikte auch in mir, der ich alles immer wieder in der Phantasie auf eigene Wünsche und Vorstellungen hin extrapolierte, augmentierte, reduzierte, beschönigte. Der Zwang, im wirklichen Leben all diese inneren Bewegungen auf Null zu dimmen, Tarnkappenverhalten einzuüben. Außer in der Musik (Schumann, Puccini, „Tristan“). Merkwürdigerweise habe ich ab 1956 Einstein „Mein Weltbild“, Julian Huxley „Entfaltung des Lebens“ und Freud „Abriss der Psychoanalyse“ gelesen, ohne mich je um Widersprüche zu kümmern. Aufklärung um jeden Preis. Im Nachhinein – so dachte ich später – hätte ich eine Therapie gebraucht. (Nebenbei: meine Mutter auch, Goethe auch!)

Ich habe gelesen (aber wo?): wer Faust I auf die Bühne bringt und nicht die Szene 1 des Faust II dranhängt, hat den Sinn der Aufführung verfehlt…

Später (Faust zweiter Teil)

Im zweiten Teil bin ich immer steckengeblieben. Es war mir unmöglich, einen „klassischen“ Goethe anzubeten, ich war nicht selbst imstande, ihn wirklich  „umzudenken“. Die Rede vom „Wahren, Guten, Schönen“ – oder was so ähnlich klang – war mir zuwider. Auch ein Gedicht, das scheinbar so ähnlich anfing wie die Sinnsprüche meiner Oma, mochte ich nicht weiterlesen: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“. Ich las Gedichte, ohne zu wissen warum. Aber dann war mir der Faust II in der Gründgens-Aufnahme auch wieder zu phantastisch und im Realismus zu hanebüchen, zu materialistisch. Ich habe ihn vollständig verfehlt! Hätte ich doch wenigstens in meiner neueren Goethe-Ausgabe der 60er Jahre mal das Nachwort gelesen: von Goethes Skrupeln und von Schillers Bedeutung für die Weiterentwicklung des Faust-Dramas  um 1800. So arbeitet ja wohl kein „Klassiker“?  (Ja doch! gerade! „bis ans Ende“!)

Aus dem Nachwort von Hanns W. Eppelheimer (1962). Daran ist aber nun auch wieder nicht viel Verlockendes. Frischer Wind kam erst auf durch Friedenthals Biographie (1963). Heute würde ich jedem raten, mit dem Buch von Rüdiger Safranski (2013) zu beginnen, unvergleichlich differenziert, auch wenn man es nur nach Stichworten aufschlägt; man muss nicht von A-Z lesen, – obwohl man bald dahin tendieren wird. Und das Dümmste wäre, vorsätzlich darauf zu verzichten, als erübrige sich die von Safranski geleistete  Aufklärungsarbeit seit 2015. Man beginne mit der Figur des Mephistopheles! (Sobald man sich inhaltlich kursorisch vorbereitet hat, z.B. anhand von Wikipedia hier.) Ab Seite 606 etwa:

„Was den Teufel betrifft, so war in Goethes Weltbild für ihn eigentlich kein Platz. Er statuiere keine selbständige Macht des Bösen, pflegte er zu sagen, und als Kant das ‚radikal Böse‘ in seine Philosophie einführte, erklärte Goethe, nun habe der weise Mann aus Königsberg seinen Philosophenmantel beschlabbert. Für Goethe gab es keinen Teufel.“ Seite 607: „Mephisto bewahrt den Menschen vor Erschlaffung und hält ihn rege. Das Prinzip Mephisto gehört also zum Menschen. Und insofern gehört Mephisto auch zu Faust. Faust und Mephisto, treten zwar als eigenständige Figuren auf, bilden aber letztlich zusammen eine Person, so wie Goethe auch von sich selbst sagte, er sei ein Kollektivsingular und bestehe aus mehreren Personen gleichen Namens. [„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, etc.“] Die prekäre Einheit der Person hindert indes nicht, ihre einzelnen Pole gesondert ins Auge zu fassen, um zu verfolgen, was sie beitragen zur Steigerung des Ganzen.

Faust II Gründgens-Hörfassung (alle Szenen heutzutage abrufbar ab hier):

Der Text von Melchinger hat mich aufgeweckt und ermuntert, den „Faust“ nicht aus den Augen zu lassen…

Heute

In solcher Deutung war Faust nicht mehr ein vom Dichter verherrlichtes Idol oder womöglich der Dichter selbst, der sich in seinem Helden als Prototyp des Menschen gezeichnet wissen wollte. Das war in weit entfernter Zeit einmal so gewesen, als der „Urfaust“ entworfen worden war, in der Epoche von „Wanderers Sturmlied“ und „Prometheus“. Inzwischen hatte der Dichter Distanz zwischen sich und seinen Helden gelegt. Fausts Streben wurde von ihm ausdrücklich als „widerwärtig“ bezeichnet. (Aus dem vorhergehenden Text von Siegfried Melchinger 1959)

Und während ich das folgende Buch studiere, schweife ich immer wieder ab in die anregenden Goethe-Biographien von Safranski oder noch einmal: Friedenthal, weiche nicht aus (wie früher), wenn die Fakten seines Lebens gerade den Weg in die Moderne vorzeichnen (nach der Französischen Revolution, dem Kolonialismus, dem Industrialismus, des Totalitarismus), also nicht nur Italien oder „das Land der Griechen mit der Seele suchend“… Ich hebe die entsprechenden Passagen hervor:

Goethe läßt sich auf den alchemistischen Traum des Menschenmachens ein in einem historischen Augenblick, da in den Naturwissenschaften seiner Zeit die erstmals gelungene Harnstoffsynthese, also die Bildung einer organischen Substanz aus anorganischen Stoffen, Anlaß zu kühnen Spekulationen gab über die Möglichkeit, auch kompliziertere Organismen und am Ende vielleicht sogar menschliches Leben künstlich herstellen zu können. Deshalb bezieht sich Goethe in der 1828 geschriebenen Homunkulus-Episode nicht nur auf paracelsische Alchemie, sondern eben auch auf diese zeitgenössischen Versuche. Wagner erklärt: Was man an der Natur geheimnisvolles pries, / Das wagen wir verständig zu probieren, / Und was sie sonst organisieren ließ, / Das lassen wir kristallisieren. [S.614] Auch wenn Homunkulus ein Fabrikat Wagners ist, so gehört er doch in die Sphäre des Zusammenspiels von faustischer Metaphysik und mephistophelischer Physik. Ein anderes Beispiel ist die Erfindung des Papiergeldes, auch so eine moderne Idee, die Faust und Mephisto bei ihrer Weltbemächtigung aushecken. [S.614f] Goethe, der zeitweilig auch für die Finanzen des Herzogtums zuständig war, hatte sich anregen lassen von der finanztechnischen Revolution, welche die Band von England in Gang setzte, als sie dazu überging, die Menschen des umlaufenden Geldes nicht mehr allein auf Gold und bereits getätigte Wertschöpfungen zu gründen, sondern auf die Erwartung künftiger realer Wertschöpfung, wozu die vermehrte Zirkulation beitragen sollte. [S.616] … die innere Werkstatt der Einbildungskraft…. Die Machtergreifung des Eingebildeten kann sogar politisch geschehen, dann sprechen wir von der Herrschaft der Ideologien. Es kann aber auch vorpolitisch und alltäglich geschehen – auch hier läßt Goethe seinen Faust einiges voraussehen, was heute im Zeitalter der Medien Gestalt angenommen hat, wo jeder einen erheblichen Teil seiner Lebenszeit nicht mehr in der ›ersten‹ Wirklichkeit, sondern im Imaginären und in einer mit Imagination durchsetzten Wirklichkeit verbringt. Die Welt ist fast nur noch das, was einem vorgestellt wird. [S.617]

Quelle Rüdiger Safranski: GOETHE Kunstwerk des Lebens / Carl Hanser Verlag München 2013

Michael Jaeger: Goethes „Faust“ / Das Drama der Moderne / ISBN 978 3 406 76429 5 / oben Titelbild: Will Quadflieg u Gustaf Gründgens in Faust Schauspielhaus Hamburg©1960, mauritius images / unten: Inhaltsübersicht

Die beiden letzten Szenen erleben: GRABLEGUNG hier BERGSCHLUCHTEN hier

Wichtiger Lese-Hinweis: den guten Wikipedia-Artikel zu Faust II nicht nur überfliegen, sondern inhaltlich Satz für Satz begreifen, mindestens – sagen wir – 1 Stunde lang verinnerlichen, inklusive aller Links – etwa zu mythologisch befrachteten Namen. (Es geht z.B. nicht ohne die Antike!) Leichter als heute war der Zugang nie in unserm ganzen Leben. Aber das Internet ist kein Ruhekissen. Schwierigste Voraussetzung in diesem Fall: keine Kundenmentalität, keine vorgefasste Meinung, was ein Goethe zu liefern hat.

Ein Beispiel der typischen Schwierigkeiten: Faust Zweiter Teil „Weitläufiger Saal“

Worum gehts? Man muss die szenischen Anweisungen genau lesen, z.B. Weitläufiger Saal  mit Nebengemächern, verziert und aufgeputzt zur Mummenschanz. Direkt vorher heißt es (der Kaiser spricht): So sei die Zeit in Fröhlichkeit vertan! / Und ganz erwünscht kommt Aschermittwoch an, Indessen feiern wir, auf jeden Fall, / Nur lustiger das wilde Karneval. (Trompeten. Exeunt.) MEPHISTOPHELES. Wie sich Verdienst und Glück verketten, / Das fällt den Toren niemals ein; / Wenn sie den Stein der Weisen hätten, / Der Weise mangelte dem Stein. (Dann, im weitläufigen Saal, beginnt der HEROLD:)

Denkt nicht, ihr seid in deutschen Grenzen / Von Teufels-, Narren- und Totentänzen! Ein heitres Fest erwartet euch. / Der Herr auf seinen Römerzügen, / Hat, sich zu Nutz, euch zum Vergnügen, / Die hohen Alpen überstiegen, Gewonnen sich ein heitres Reich.

(Er wurde dort gekrönt, hat sich die Krone geholt, und da:) Hat er uns auch die Kappe mitgebracht.  Nun sind wir alle neugeboren. Die Narrenkappe!  Es bleibt doch endlich nach wie vor / mit ihren hunderttausend Possen / Die Welt ein einzig-großer Tor.

Die Welt der Narren also wird uns im Folgenden präsentiert, in sorgsam ausgewählten Gestalten und Symbolen.

Nach 75 Seiten beginnt die neue Szene LUSTGARTEN mit folgenden, an den Kaiser gerichteten Worten FAUSTs: Verzeihst du, Herr, das Flammengaukelspiel? Und der KAISER zum Aufstehn winkend (denn F. & M. haben gekniet), sagt: Ich wünsche mir dergleichen Scherze viel. – (und er repetiert:) Auf einmal sah ich mich in glühnder Sphäre: Es schien mir fast, als ob ich Pluto wäre. (und er beschreibt, was er gesehen hat, – auch für uns, damit wir es einordnen.)

Michael Jäger schreibt im Seitenblick auf dieses Kanevalsgeschehen: – „während zur  selben Zeit die gesamte Gesellschaft dem allgemeinen Ablenkungstrubel des Mummenschanz erlegen war.“

Die gesamte Gesellschaft also (mit Herold = Ansager) im Karneval, nämlich: GÄRTNERINNEN – OLIVENZWEIG MIT FRÜCHTEN – ÄHRENKRANZ – PHANTASIEKRANZ – ROSENKNOSPEN – MUTTER (und Tochter) – HOLZHAUER – PULCINELLE – PARASITEN – TRUNKNER – SATIRIKER – DIE GRAZIEN AGLAIA, HEGEMONE, EUPHROSYNE – DIE PARZEN ATRIPOS, KLOTHO, LACHESIS – DIE FURIEN  ALEKTO, MEGÄRA, TISIPHONE – FURCHT – HOFFNUNG – KLUGHEIT – ZOILO-THERSITESKNABE WAGENLENKER (Begleiter des Plutus) – WEIBERGEKLATSCH – DER ABGEMAGERTE – HAUPTWEIB – WEIBER IN MASSE – PLUTUS – SATYR – GNOMEN – DEPUTATION DER GNOMEN AN DEN GROSSEN PAN

In dem oben gegebenen LINK der Gründgens-Aufnahme findet man alldies auf ein Minimum gekürzt: Sie erinnern sich? (alle Szenen heutzutage abrufbar ab hier), darin –

  auf Filmteil 12:36 anklicken

„Denn wir sind Allegorien“

Tipp: Man gehe dem Link zu „Knabe Wagenlenker“ weiter nach und lese die Diplomarbeit von Susanne Fuchs (Wien 2009). Da hat man den Schlüssel zur ganzen „Mummenschanz“-Szene…

*     *     *

Weiteres ZITAT aus Michael Jaeger „Goethes Faust“:

In der den zweiten Akt abschließenden Szene Felsbuchten des Aegäischen Meers ereignet sich dann im Gewande der antiken Mythologie die Lebensentstehung als die «Vermählung» des Homunkulus «mit dem Ozean», dargestellt als dessen Vereinigung mit der göttlichen Nymphe Galatee. Auf den Wellen kommt diese Meerestochter venusgleich als «lieblichste Herrin» (8378) auf einer großen, von Delphinen gezogenen Muschel angefahren. Es umkreisen Galatees Wassergefährt die Doriden und Nereiden, auf Delphinen, Seepferdchen und Meereskentauren reitend. Die Sirenen blicken auf die Ägäis und kündigen die unmittelbar bevorstehende «Muschelfahrt» Galatees an: „Leicht bewegt, in mäßiger Eile …[etc]“

Raffael (Wikimedia hier)

Oben: eine für mich höchst motivierende Schlüsselstelle (betr. 1987), jetzt zur Klassischen Walpurgisnacht. Der entsprechende  Text hier in der Gesamtausgabe meiner Mutter:

Über meine soeben bezeichnete „Schlüsselstelle“ hinausgehend, wird mir ab Seite 108 in Jaegers Werk völlig klar, dass der „Schock“, den ich für mich auf 1987 datiert habe, genau dem entspricht, den Goethe selbst in seiner Zeit erlebte und mit dem er sich vor und nach 1830 auseinandersetzte. Kapitel Système Industriel: Fausts Plan und der Saint-Simonismus. Siehe dazu hier und hier (Saint-Simon). Entsprechend Jaeger, Seite 109:

Mit dem allergrößten Unbehagen las Goethe jene Pariser Manifeste, in denen eine technisch-industrieller Umbau von Natur und Gesellschaft angekündigt wurde. Dabei trat ihm die komplette Unzeitgenäßheit seines eigenen Wissenschaftsprinzips der Naturkontemplation vor Augen, wurde doch das neue Universalsystem von Saint-Simon gleichsam als Anwendung von Newtons physikalischem Weltbild auf die Gesellschaft konzipiert. Saint-Simon selbst gewann unter seinen Anhängern die Statur eines neuen »Newton der Geschichte«. Die Verzweiflung Goethes angesichts solcher vermeintlich naturwissenschaftlicher Sozial-, Wirtschafts- und Weltpläne, durch eine an Newtons Physik angelehnte »Physico-politique« die »Genesis zu überbieten« und das »irdische Paradies« herzustellen, muss grenzenlos gewesen sein […].

Und Rüdiger Safranski zum gleichen Thema :

Als Goethe an diesen Szenen des Untergangs des Großunternehmers Faust schrieb, war er seinerseits fasziniert von technischen Großprojekten und andererseits abgestoßen von der Saint-Simonistischen Industriereligion, worin das Individuum dem Kollektiv und die Schönheit dem Nutzen geopfert wird. Was die moderne Technik betrifft, so besorgte er sich ein Modell der ersten Eisenbahn und präsentierte sie wie einen Kultgegenstand. Mit Eckermann sprach er über den Bau des Panamakanals, über die Möglichleit eines kanals bei Suez und über die Verbindung von Rhein und Donau. Diese drei großen Dinge möchte ich erleben, sagte er, und es wäre wohl der Mühe wert, ihnen zu Liebe es noch fünfzig Jahre auszuhalten. Das waren für ihn Projekte, in denen er den Gipfel menschlichen Erfindungsgeistes und unternehmerisxcher Tüchtigkeit erblickte. Insofern diese Visionen auch bei den Saint-Simonisten im Schwange waren, begrüßte er das und gestand zu, daß an der Spitze dieser Sekte offenbar sehr gescheite Leute stünden.

Quelle Rüdiger Safranski: GOETHE Kunstwerk des Lebens Carl Hanser Verlag München 2013 (Seite 621)

Hier die letzten Seiten der Arbeit von Michael Jaeger: Goethes »FAUST« Das Drama der Moderne / C.H.Beck München 2021

Das hier zuletzt beschriebene „wahre Wunderwerk der Faustphilologie“ ist tatsächlich als Online-Ausgabe aufzufinden und steht zum geduldigen Studium bereit:

HIER

Ich habe sozusagen ausgesorgt bis an mein Lebensende.

*    *    *

Gründgens Faust II 3.Akt, Szene 2.2 hier  ab 16:25 Helena „…der leere Platz / Beruft den Herrn und sichert mir den meinen.“ FAUST „Erst knieend laß die treue Widmung dir / Gefallen, hohe Frau!“…

Zum Verständnis dieses Anfangs: es geht um den Ton der Rede, die „Sprechart unsrer Völker“, – die Griechin Helena kennt den Reim noch nicht. Zitat aus dem Kommentar (Schöne S.612): „Eine altpersische Legende erzählte von der Entstehung der ersten Endreime beim Liebesdialog des Sassanidenherrschers Behramgur und seiner Sklavin Dilaram (…). Hier wird dieser Vorgang in Szene gesetzt – als bilde in Fausts und Helenas Wechselrede und dem Einklang ihrer Reime geradezu der hochzeitliche Akt sich ab.“ Siehe hier Stichwort „Behramgur“. Der Chor danach stimmt „den Hymenaeus an: das antike Vermählungslied, das gesungen wird, wenn die Liebenden einander zugeführt worden sind.“ (A.Schöne) Hinter der vermummten Gestalt (Phorkyas), die bei 4:10 auftritt, verbirgt sich niemand anders als Mephisto. – Man sollte sich nicht beschämt fühlen: Fausts lange Rede an die Heerführer, die Benennung ihrer Länder und dann die verbale Vorbereitung auf das Land Arkadien, all das ist ohne Text und ohne Kommentar nicht zu verstehen, – ist aber schön zu hören und zu ahnen.

Zu Peter Steins Aufführung

Die Aufführung FAUST II Szene für Szene ab hier

10. Juni – neue Phase: der Faust-Kommentar von Albrecht Schöne ist unterwegs …

Der Blick zurück – so leicht wie heute war der Zugang zum Faust II seit der (noch unvollständigen) Gesamtausgabe von 1828 noch nie. Meine (wirklich vollständige) Ausgabe von 1962 zum Größenvergleich (links).

Das alte 20bändige Original hat mir vor vier (?) Jahren die freundliche Nachbarin (*20. Juli 1943) geschenkt, die das Werk von ihrem Vater geerbt hatte. Sie ist am 14. Mai dieses Jahres gestorben; ich werde an sie denken, so oft ich einen dieser Bände in die Hände nehme.

    zu guter Letzt dtv 1962 Seite 177 f

Fortsetzung folgt wirklich. Wird hier erst auf Seite 351 enden. Und die Interpretation der letzten, unerklärlichsten Verse werde ich bei Albrecht Schöne finden. „Ereignis“ = „Eräugniß“. Für immer „unzulänglich“.

In diesem Moment klingelt es, die Post ist da!!! 14. Juni 10.11 h :

Deutscher Klassiker Verlag 2017 (Antiquariat Lenzen Düsseldorf, 2 Bände neuwertig, 24.- €, d.h. wie geschenkt… nachschlagen:)

Und gleich die Probe aufs Exempel: beim Mitlesen der obigen Szene Faust II, 3.Akt, Szene 2.2. irritierte mich (abgesehen vom Inhalt, hören Sie ab 6:05 „Mit angehaltnem stillen Wüten…“) eine Abweichung im Text, – ein Fehler von Bruno Ganz oder in meinem dtv-Text? „Stahl“ oder „Strahl“ in Strophe 2 ?

Frage gelöst:

Ist es eine Kleinigkeit? Durchaus nicht! Und das Problem, weshalb sich Faust hier wie ein Oberbefehlshaber aufführt, ist auch alsbald gelöst…

Zum Abgewöhnen

Eine Besprechung hier und noch eine (Spiegel) hier

Zur abschließenden Orientierung

Das Faust-Projekt (Wikipedia)

Horowitz-Notizen

Was war damals?

Um auf den Stand der Dinge zu kommen: ich persönlich habe mich nie brennend für diese Virtuosen interessiert, anders als meine zwei Kommilitonen, die ich dann nach einer unvermeidlichen Entfremdung mitsamt ihren Präferenzen lebenslang gemieden habe. Wie oft hatten wir vorher die Rachmaninoff-Konzerte gehört, untermalt mit den schmachtenden Bemerkungen des Freundes Elmar, steten Hinweisen auf interpretatorische Feinheiten. 15 Jahre später fühlte ich mich durch dieses Interview bestätigt, – der Meister schien mir allzu kindisch. Und nur eine Bemerkung von Zoltán Kocsis ließ mich stutzen:  seine haltlose Bewunderung für die Bassgänge, also: wie sie bei Horowitz klingen, und das schien mir aus dem Mund eines solchen Klangzauberers beachtenswert, anders als einst bei Elmar, der den typischen Klassikphrasen-Jargon pflegte.

Ab 5:46 Wanda

Rico Kaufmann Wikipedia hier

Mir ist es kürzlich folgendermaßen ergangen: Beim Gespräch in meiner Stamm- Buchhandlung wurde mir ein Buch von Lea Singer („kennen Sie doch sicher!?“) empfohlen, hat mit Musik zu tun, mit Horowitz. Das kam mir zupass, Geburtstagsgeschenk für meinen Freund, guter Tipp, und auch Milstein kommt drin vor? Das passt genau. Und ich werd’s parallel lesen, um sicher zu sein… Und dann wurde ich total verunsichert, das kann nichts sein, da versteht man ja seitenlang gar nichts. Und außerdem sind wir ja nicht schwul. Wenn ich hier auch kürzlich ein Buch erworben habe, das ein gewisses Interesse bekundet. (Bruno Gammel: ANDERS FÜHLEN). Ich muss ihm dazu einiges sagen (er ist ja kein notorischer Leser), man sollte auf Seite 32 beginnen, um sich sofort in bekanntem Gelände zu bewegen, und dann irgendwann den Anfang nachholen. Unmöglich diese Frau, ohne Vorwarnung eine Rätselgeschichte für absolute Insider aufzutischen. Ich will gefesselt werden, aber nicht durch highbrow Pseudo-Kunst. Zugegeben: ich hatte versucht, sofort einzutauchen, in Erwartung „leichter Literatur“, heute angefangen, übermorgen fertig. Jetzt empfehle ich, sorgfältig das rückwärtige Cover zu lesen. Und Rezensionen bei Perlentaucher. Oder meinetwegen aus dem Schwulen-Umfeld. Hauptsache: sympathisch und leichtfüßig. Keine Arbeit, – die sich aber nun doch nicht vermeiden lässt. Machen Sie mit? Ich musste ja auch den eigenen Widerstand überwinden. Dem Freund zuliebe.

Aus bestimmten Gründen will ich zunächst etwas im eigenen Blog nachschlagen: …über Mozarts Orgelwalze, hier ist es. Ich bitte um Geduld!

Zurück zum Buch: die NZZ Rezension hier

Und eine ausführlichere, sehr schöne Inhaltsangabe:

https://schwulenkram.wordpress.com/2019/11/03/der-klavierschueler-lea-singer/

Es hat einige Zeit gedauert, ehe bei mir der Groschen fiel (ich hätte es auch längst irgendwo gelesen haben können): Lea Singer ist identisch mit Eva Gesine Baur.

Ehrlich gesagt: die Lektüre ist etwas mühsam geblieben. Wie in Krimis, die mit ständigen Rückblenden arbeiten und so den gutwilligsten Zuschauer der Spannung berauben. Man spürt den Willen zur Kunst, der einen aber nicht in dieses Genre gelockt hat. Auch hier und da unnötig irritierende Wendungen, die nicht von der Sache her motiviert sind. Jedenfalls weniger vergnüglich als – sagen wir – Felix Krull, obwohl man sich an ihn erinnert fühlt.

(Fortsetzung folgt)

Es ist über eine Woche vergangen. Und ich notiere hier den Text, die Seite, die Zeilen, die – nach unregelmäßigen Lektürezeiten – für mich die Schlüsselstelle des Romans repräsentieren. „Der Klavierspieler“ erkennt, welche Rolle Wanda Toscanini, die Tochter des Dirigenten, als Frau für Horowitz spielt:

Zwei Tage später kam am Seefeldquai ein Brief an, den Horowitz an diesem 30.  Januar 1939 aus Lyon an mich geschrieben hatte. Drei Mal musste ich ihn lesen und konnte es nach dem dritten Mal noch immer nicht glauben, was da stand. Wie immer kein Wort über die politische Situation. Aber plötzlich ging es um Wanda und nur um Wanda.

Meine Frau weiß alles über mich. Meine Frau gibt mir absolute Freiheit, aber sie erlaubt in keinem Fall eine Verbindung. Meine Frau weiß über uns beide schon ein Jahr Bescheid, aber sie wollte es nicht sagen. Meine Frau hat deshalb gelitten. Ich liebe meine Frau tief und ernst, und ich will nicht, dass meine Frau leidet. Meine Frau will dich auch mit deiner Familie nicht sehen. Ich kann meine Frau verstehen, dein Vater ist unangenehm und arrogant gewesen. Du stehst zwischen mir und meiner Frau.

Dann kam der Schlag ins Gesicht: Du bist berechnend und kannst nichts mehr von mir haben.

Das war seine Schrift, aber das war nicht er.

Irgendetwas stimmte nicht. Der Brief endete mit dem Bekenntnis: Ich muss Dich sehen, aber es ist unmöglich. Ich fühle für Dich, was ich immer für Dich gefühlt habe. Ich bin traurig.

Mir sei übel, Magendarmverstimmung, redete ich mich am Abend heraus. Ich schloss ab, legte mich aufs Bett, nackt, nur seine dunkelblaue Lanvin-Jacke am Leib, paffte Zigaretten von seiner Marke und trank den Wodka, den er mit Rachmaninow trank.

Erst in der Müdigkeit leuchtete ein Lösungswort auf: Amerika.

Wir werden alle Amerikaner, hatte Horowitz verkündet, der Maestro, seine Frau, meine Frau, meine Tochter und ich. In drei Monaten reisen wir nach Amerika, stehen sofort unter amerikanischem Protektorat, und in drei Jahren werden wir einen amerikanischen Pass bekommen. Dieser Kontinent gehörte, was die klassische Musik anging, derzeit bereits einem einzigen Mann: Arturo Toscanini. Kein anderer konnte ihm das Wasser reichen, was Ruhm und Macht und Prominenz anging.

Ohne Toscanini würde es hart werden, mit Toscanini als Feind eine Katastrophe. Volodjas Frau nannte sich Toscanini-Horowitz. Sie wollte beide Namen haben und musste beide haben, der eine stand für das Geerbte, der andere für den aktuellen Besitz, denn sonst hatte sie nichts. Ihr Vater hatte ihr die Musik geraubt, obwohl sie laut Wally das einzige der drei Kinder war, das sich begabt zeigte. Toscanini hatte ihr Klavierspiel als schändlich bezeichnet und ihr das öffentliche Singen untersagt.

Doch wie hatte sie ihren Mann besiegt? Ich habe sie nie geliebt, hatte er allen seinen Freunden gesagt.

Vier Tage später kam die Aufklärung per Post, verfasst am 5. Februar 1939 in Paris. Wieder ging es nur um Wanda. Meine Frau findet, dass du trotz deiner Begabung keinen Horowitz [als Lehrer] brauchst, ein Zürcher X oder Y wird die genügen. Meine Frau ist ein hochanständiger Mensch mit moralischen Qualitäten. Meine Frau ist der Führer meines Lebens! Meine Frau versteht einige Seitensprünge, aber sie versteht wie jede Frau nicht, dass man ein Gefühl für einen Mann haben kann und darf. Für meine Frau ist es eine Krankheit, die man heilen soll. Meine Frau geht, wenn ich mit dir verkehre. Meine Frau hat furchbar gelitten, sie ist fast nervenkrank geworden.

Und dann der entscheidende Satz: Meine Frau wollte ohne mich nicht mehr leben.

Wanda hatte mit Suizid gedroht.

Der Krieger kennt keine Skrupel, sagte mein Großvater.

Wanda hatte gesiegt, weil sie gekämpft hatte, mit allen Mitteln.

Ich war ein Feigling. Ich hatte zu Recht verloren.

Kaufmann sank auf dem Küchenstuhl entkräftet in sich zusammen.

Donati stand auf und küsste ihn.

Quelle Lea Singer: Der Klavierschüler / dtv München 2021 ISBN 978-3-423-14793-4 (S.150f) [Es folgen noch 70 Seiten.]