Archiv der Kategorie: Musiklehre

Mehrklänge hören, viel mehr Klänge!

Doch vorweg: Was sagt denn Wikipedia?

Siehe hier.

Ich sehe diesen Wiki-Artikel als eine Übung, um zu erkunden, was man überhaupt über „Akkorde“ weiß. Das weiter unten folgende (heftförmige) Büchlein stellt im Vorwort klar, dass nur die „Kenntnisse traditioneller europäischer Musik und aus ihr abgeleiteter Begriffe und Verfahrensweisen“ vorausgesetzt sind. Es wendet sich aber durchaus (oder gerade) an Studierende, die sich mit moderner Komposition beschäftigen, die „Neue Musik“ komponieren (oder auch nicht). Der Autor wagt es, Hindemiths „Unterweisung im Tonsatz“ ebenso zu berücksichtigen wie Messiaens Lehrbuch „Technik meiner musikalischen Sprache“. Er sagt Im Vorübergehen Erhellendes zum Konzeptualismus und zum Punktualismus, ohne zu fürchten, dass seine eigene Arbeit, die sich damit nicht weiter abgibt,  dadurch entwertet wird. Auch der Einwand, dass jedes zeitgenössische Werk einer eigenen Ästhetik, einem eigenen Gesetz folgt, gilt für ihn und seine Analyse nicht. Er behandelt keine Akkordverbindungen, keine Grammatik, sondern die einzelnen Gebilde. Nebenbei erfährt man, dass jenes Stück von Messiaen, das gewissermaßen den ganzen Boom des Serialismus auslöste („Mode de valeurs et d’intensités“), bei ihm selbst ohne entsprechende kompositorische Konsequenzen blieb. Der Komponist selbst meinte, man habe dieser „ganz kleine[n] Arbeit“  viel zu viel Bedeutung beigemessen… Das zu wissen hätte mir Anfang der 60er Jahre einige elementare Gewissensbisse erspart. Ich war ein Verfechter der Neuen Musik, sagen wir: bis Anton Webern. Aber es waren genau diese punktualistischen „Zufalls“-Ergebnisse, durch die ich meine Musikalität in Frage gestellt sah. Zweifellos war sie ja auch mit diesen Mitteln tatsächlich nicht weiter entwickelbar. Ich war – ohne es zu ahnen – anfällig für das Prestige anderer Musikkulturen. Im Tonsatzunterricht gab es heftige Diskussionen mit Traditionalisten wie Max Baumann und Ernst Pepping, die aus meiner Sicht (insgeheim) von Adornos „Kritik des Musikanten“ mitbetroffen waren.

Man lese, was ich damals im Konzertprogramm (mehr über das Boulez-Werk) unterstrichen und mit Ausrufezeichen versehen habe…

Berlin, Januar 1961

Hören? HIER

Solingen, August 2022

Nun also ein neues Werk zum Thema und zu vielen Themen: Claus Kühnl (eigene Website hier) Möglicherweise lege ich mir über kurz oder lang auch noch das von ihm empfohlene Harmonik-Buch von Nordhausen/ Gardonyi zu, und wenn jemanden das bloße Inhaltsverzeichnis schreckt – es gibt darin ja über 400 Notenbeispiele: wenn man nur etwas Klavier spielt, ist das eine unvergleichliche tönende Musikgeschichte: hier.

Doch zur Sache:

s.a. hier, erst kürzlich – dank NMZ bzw. Moritz Eggert – entdeckt …

Zusätzliche Musikbeispiele

Seite 6 – Schönberg Serenade op.24 hier Einzelsätze anklickbar Nr.4 „O könnt‘ ich je der Rach‘ an ihr genesen“

2 Sätze mit Partitur hier

alle Sätze: Mitropoulos-Aufnahme (1949) hier I. 0:00 II. 4:40 III. 11:37 IV. 15:37 V. 18:37 VI. 25:25 VII. 27:23

Seite 8 – Haydn (Nonenakkord) Klaviersonate (1771) XVI:20 Takt 25-26

Seite 9 „…ein früher spektakulärer Fall…“

Recordare:

Seite 10 Beethoven op. 22 (gemeint ist Takt 32 f)

Mir wird klar, dass ich diese „Disharmonien“ früher genossen, aber anders gedeutet habe, nämlich nicht als Klänge für sich, sondern immer als „Zufallsprodukte“, die aus Durchgangsnoten erklärbar, also gewissermaßen aus melodischen Gründen  exculpiert sind. Obwohl als „Reibungen“ eben: genossen. Dass der Orgelpunkt G nach Takt 30 einfach stehenbleibt, bedeutete, dass ich den Akkord der rechten Hand in Takt 32 einfach als Griff eis/gis/h/cis (Dominantseptakkord in Richtung fis-moll/ h-moll) auffassen darf, eine Zwischenstörung, die mit dem Wechsel von cis nach d einen Verminderten einführt, der sich in jede möglich Richtung auflösen kann. Und es wirkt plausibel, dass auf der 1 des nächsten Taktes der gleiche Akkord, – um einen Halbton höher gerückt -, als „gis/h/d/e“ erscheint, der sich nicht nur nach oben schein-auflöst (zum f), sondern auch unten (zum g) und sich damit überraschend zum Orgelpunkt-G bekennt: im nächsten Takt wird die Wendung plakativ im Dominantseptakkord der „vollgriffigen“ linken Hand.

Das heißt: ich habe immer syntaktisch gedeutet, nicht punktuell, den jeweiligen Akkord als Eigenheit, Eigenklang, Eigenwert betrachtend, obwohl ich dies insgeheim – wie gesagt – sehr wohl goustiert habe.

Natürlich könnte man sagen: nun bist du doch reingefallen auf das Punktuelle. Das lasse ich nicht gelten, – soll ich es ablehnen, nur weil ich einmal im Leben nicht damit klargekommen bin? Zu den größten Hör-Erlebnissen in meinem Leben gehört dafür ein Konzert in Darmstadt mit Ligetis „Atmosphère“, da fand ich Punktualität und linienhafte Dauer beispielhaft realisiert. Übrigens gefällt mir Kühnls Behandlung dieses Komponisten, der wegen seiner späteren Entwicklung oft geschmäht wurde (Horntrio), ebenso wie die des Geräuschpolyphonikers Lachenmann, den ich vergeblich „nachzuempfinden“ suchte, – um so einen Ausdruck der veralteten Ästhetik des ältesten Bach-Sohnes zu gebrauchen.

Die Begehrlichkeit wächst (Ausblick)

soeben eingetroffen…

Und was sehe ich dort, Johann Sebastian Bach betreffend??? Kontrapunkt… Choralsatz… und darüberhinaus Melodielehre

Strauss Korrektur

Betrifft: Blogbeitrag „End-Täuschung“ hier

Folgenden Text aus dem Magazin „Musik & Ästhetik“ hatte ich wiedergegeben und eine gewisse Ratlosigkeit bekundet (hier in grün folgend), die inzwischen vom Autor selbst (in rot) aufgeklärt wurde:

Ich hätte wohl nur genauer bedenken sollen, was ich da unterstrichen haben (über „Umkehrungsakkorde“). Die Frage bleibt, was der Autor mit einem „kurzen, unaufgelösten E-Dur-Quartsextakkord“ meint. Meint er den (unmittelbar vor Ziffer 108) auf Fis stehenden in H, der Dominante von E-dur?

Aufklärung durch den Autor (27.7.22):

Ich erlaube mir, mich direkt an Sie zu wenden, weil ich durch die Lektüre Ihres Textes auf einen Fehler meinerseits aufmerksam wurde: Sie fragen sich zu Recht, was ich auf Seite 44 mit dem „E-Dur-Quartsextakkord“ in der „Ariadne“, fünf Takte nach Ziffer 7, meine. Dieses Missverständnis liegt einfach nur daran, dass es um die Stelle fünf Takte VOR Ziffer 7 (c-moll7 zu E-Dur-4/6) geht. In Ihrem Youtube-Ausschnitt betrifft das die Takte 2 und 3 „die Männer zu verfluchen“.

real hören: hier ab 2:35

Betrifft also die Folge c-moll-Septakkord zum Quart-Sext-Akkord E-dur. Damit bin ich vollkommen glücklich, auch über dieses Beispiel musikwissenschaftlichen Detail-Interesses weit außerhalb des akademischen Schreibtischbereiches. Danke!

*    *    *

Noch etwas möchte ich nachreichen. Angeregt durch den klugen Artikel von Robert Christoph Bauer (s.a. hier), habe ich die alte Harmonielehre bemüht, die mein Vater mich mal – zumindest teilweise – hat studieren lassen (zu früh, – damals sind wir irgendwo stecken geblieben). Erst heute interessieren mich die Musikbeispiele darin wieder, obendrein ihre zeitgenössische Deutung (1910). Ich meine speziell das Beispiel von Schillings und den Text dazu auf Seite 289 (vor und nach dem kleingedruckten Einschub):

Quelle: Harmonielehre von Rudolf Louis und Ludwig Thuille  Stuttgart 1913 (Sechste Auflage)

Auch die Beispiele aus „Salome“ und aus der „Faustsymphonie“ interessierten mich. Nebenbei sei bemerkt, dass gerade der Komponist Max von Schillings eine Biographie aufweist, die ihn vor weiterer Zuwendung bewahrt.

Krieg und Frieden

Wann ist denn Pfingsten?

(unmöglich zu akzeptieren)

Manchmal scheinen die Lösungen greifbar nahe, ja, der Heilige Geist liegt auf der Hand. Während man keinem Artikel Glauben schenkt, der darüber in den Zeitungen steht (wenn überhaupt). Mir ging es so, als ich heute aufwachte: ich habe im Laufe der Jahre 1000 Blogbeiträge nebeneinandergestellt und oft auch aufeinander bezogen, um womöglich eines Tages ein Netz von Beziehungen zu überschauen, während ich gleichzeitig befürchtete, das Wichtigste darüber dann doch noch zu vergessen. Wollte ich in Wirklichkeit vielleicht die Komplexität der Welt für mich (sträflich) vereinfachen? Möglichst in einer Nussschale. Eine sogenannte Welt-Anschauung? Und die Musik, die es so schlagend fertigbringt, könnte sich mit der Philosophie verbinden, verbünden – es wäre zu schön um wahr zu sein. Ich will es mal formelhaft zusammenfassen, nur als Beispiel:

Kant 1795 / Thukydides 400 v.Chr.

das Buch (1869), der Film (1956), Hondrich

Darin müsste alles enthalten sein. Es genügt nicht, über den Angriffskrieg zu lamentieren und die pazifistische Utopie dagegenzusetzen. Die missglückte Lanz-Sendung kürzlich hat es peinlich vor Augen geführt.

Hier

Hondrich prägte sich mir ein, weil er (als einziger) den Krieg – paradoxerweise – als notwendige Geißel beschrieb (er schärfte den Widerspruch).

Zu Tolstoi: Es ist mir rätselhaft, dass ich dieses Buch Mitte der 50er Jahre gelesen haben soll, diese winzige, unattraktive Schrift, Seite für Seite, insgesamt 500, und es enthält doch von Anfang bis Ende Bleistift-Unterstreichungen, deren Sinn mir heute dunkel erscheint. Sie könnten Auskunft geben über meinen damaligen Seelenzustand, der mich vielleicht interessieren sollte. Vielleicht hat mich erst der Film so begeistert, genauer: die Gestalt der Natascha? Ich vermute aber, dass ich den Roman als Aufklärung über das Leben gelesen habe, außerhalb des eigenen engen häuslichen Kreises, da draußen in der wirklich großen, weiten Welt. Mit der gleichen Intensität habe ich (ab April 56) Rudolf Goldschmit-Jentner „Begegnung mit dem Genius“, und (ab Sept.58) weiter mit „Fischer Bücherei“ –  Thomas Mann „Leiden und Größe der Meister“ – aufgesogen, über Wagner natürlich, aber als erstes darin „Goethe und Tolstoi“. Mehrere Bände Dostojewski folgten. Und vor allem Hamsun.

Übersetzung von L.Albert Hauff 1893

Heute kehrt eine Ahnung zurück…

In der Unter- oder Oberprima lasen wir Thukydides im Original, aber das war eine rein sprachliche Übung; als Historiker blieb er für uns eine beliebige Erscheinung, ein „alter Grieche“ eben. Für die 400-Jahrfeier des Gymnasiums standen wir im Rezitations-Chor bei der Einstudierung der „Antigone“ auf der Bühne. Das wurde oft geprobt und mehrfach aufgeführt, das Stück begann merkwürdigerweise zu leben.

Aus dem Nachwort zu Thukydides von Hellmut Flashar (2005):

Aus Kants Anhang „Zum Ewigen Frieden“ (1795)

Das Wort „ewig“ könnte man durchaus ironisch auffassen, zumal sich Kant gleich zu Anfang seiner Schrift auf das Reklameschild eines holländischen Gastwirts bezieht, das einen Kirchhof abbildet und darüber den Namen des Hauses nennt: „ZUM EWIGEN FRIEDEN“.

Falsch ist auf jeden Fall die westliche Nada-Brahma-Theorie, die mit  Obertönen und einer Sphären-Harmonik daherkommt. Und dieses harmonistische Gefasel als universales Prinzip zu verkaufen sucht.

Ich will aber nicht ausschließen, dass es für mich eine Rolle spielt, wenn sich die Musikästhetik als anschlussfähig erweist im täglichen Leben und in der Physik; dass ihr Geist nicht frei im Raume schwebt, und dass die Volksmusik, die (Gebrauchs-)Musik der Völker und jedweden Alltags nicht ausgeschlossen ist. Wenn ich also lese:

…um Missverständnisse auszuschließen, auf der nächsten Seite die folgende Bemerkung:

Simone Mahrenholz (Quelle s.u.)

Im Einklang mit der Realität ziehe ich beim Geigeüben das alte Intonationsbuch (1997) zu Rate, höre die entsprechende CD als Offenbarung, während ich den Farbunterschied mit Fassung ertrage.

Doris Geller 1997

Inzwischen bin ich aber auch mit dem neuen (alten) Buch, der Dissertation von Simone Mahrenholz weitergekommen, und es sind unerwartete Komplikationen aufgetaucht, die mich zwangsläufig Zeit kosten:  ab Seite 245 spielt die Theorie von der bikameralen Psyche eine Rolle, die mich Mitte der 90er Jahre auch sehr beschäftigt hat. Ich hatte das Buch „Der Ursprung des Bewußtseins“ von Julian Jaynes gelesen, war begeistert von der Idee, wie auch die Musik darin in neuem Licht erschien, die „Ilias“, die Propheten des Alten Testaments, die Evolution, – kurz – alles erschien mir revolutionär. Und dann kamen die großen Zweifel an der Wissenschaftlichkeit dieses Unternehmens, vielleicht weil ich wenig später das Riesenwerk entdeckte, das Thomas Metzinger  herausgegeben hat: „Bewußtsein / Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie“ (Schöning 1995). Ich erinnere nicht mehr, welche Argumente mich vom Kurs abbrachten. Vielleicht setzte ich inzwischen ganz auf Susanne K. Langer und auf Ernst Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“. Es war eigentlich wieder wie heute, – als müsste ich alles neu und viel gründlicher durchdenken, – andererseits hat ich ja einen Beruf und eine musikalische Profession. Und nebenbei: in der Arbeit von Simone Mahrenholz geht es an dieser Stelle nicht um ein zentrales Kapitel, sondern um einen „Exkurs“ zu hirnphysiologischen Befunden, ungeachtet späterer, möglicher Korrekturen. Die Deutungen von J.Jaynes bleiben für mich schon aufgrund der von ihm zusammengetragenen Literatur-Beispiele faszinierend. Vielleicht nun auch mehr über Nelson Goodman?

Mahrenholz

Julian Jaynes

Quellen

Julian Jaynes: Der Ursprung des Bewußtseins / Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1993

Simone Mahrenholz: Musik und Erkenntnis / eine Studie im Ausgang von Nelson Goodmans Symboltheorie / Stuttgart; Weimar: Metzler 1998

Simone Mahrenholz: Musik und Begriff How to do things with music / in: Gibt es Musik? Beiträge von Daniel Martin Feige, Christian Grüny, Tobias Janz und Simone Mahrenholz / Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Heft 66/2/2021 / Verlag Felix Meiner Hamburg

Zurück zum Thema Krieg und Frieden:

Ein Kapitel des Ethnologen Christoph Antweiler in dem Buch „Heimat Mensch“ ist so überschrieben und endet mit Sätzen, die bei Kant stehen könnten:

Frieden ist nicht der Naturzustand glücklicher Gesellschaften. Er fällt nicht vom Himmel. Auch in nichtindustriellen Gesellschaften muss er aktiv hergestellt werden. Dauerhaften Frieden gilt (recte: gibt!) es nur dann, wenn es ausdrücklich friedensstiftende Mechanismen gibt. Die heutigen Länder, in denen es wenig Gewalt gibt, wie etwa Norwegen, haben das nur durch einen ganzen Kranz von Maßnahmen geschafft, der von Gesetzen auf Landesebene bis zum alltäglichen Umgang im Kíndergarten reicht. Die Semai, die Fipa und andere friedliche Gesellschaften geben uns keine Patentrezepte, aber sie können uns motivieren und inspirieren. Sie machen Hoffnung, dass Frieden im wahrsten Sinn des Wortes machbar ist.

Quelle: Christoph Antweiler: HEIMAT MENSCH Was uns ALLE verbindet  / Murmann Verlag Hamburg 2009

NB Die Anschläge des rechtsextremistischen Massenmörders Breivik fanden am 22. Juli 2011 statt.

Merksatz zum Thema MACHT (LANZ-Sendung ZDF 29.06.22 hier ab 59:30 Liana Fix)

(Um es erst einmal akademisch zu sagen) Macht an sich hat ja nichts Positives oder Negatives per se, Macht ist einfach da, Macht ist zwischen uns da, Macht ist in meiner Partei da, die Frage ist: wofür setzt man Macht ein, und mit welchen Werten, und mit welchen Werten verbindet man diese Macht. Und gerade in (aufgrund) der deutschen Vergangenheit wird Macht verwechselt mit Gewalt , das ist der Unterschied, und deswegen hat Macht eine so negative Konnotation dazu. Wenn man das begreift, dass Macht nicht gleich Gewalt ist, sondern Macht eben ein Instrument ist, um gewisse Werte zu erreichen,  und dazu gehört eben auch militärische Macht – dann kann man damit auch umgehen, in der Politik, und zu dem Zitat von Ralf Stegner [Ukraine]: es ist tatsächlich für die deutsche Gesellschaft schwierig zu akzeptieren, dass dort deutsche Waffen in einem Krieg mit Russland stehen (…).

Alfred Lorenz

Zur Analyse der großen Form

Seit ich mich mit Wagners Werken hörend und spielend beschäftige, inbesondere aber, seit ich mich bei der sogenannten Staatsarbeit zum Abschluss des Schulmusikstudiums (1964) längere Zeit ausschließlich mit „Tristan und Isolde“ beschäftigte und auf die große Form aufmerksam wurde, die – wie ich meinte – im Parallelismus der drei Aufzüge deutlich zutage trat, plante ich, mich intensiver mit den Arbeiten von Alfred Lorenz zu den gigantischen Bögen bei Wagner zu beschäftigen. Doch das Misstrauen begann, als mir klarer wurde, wie tief er in die NS-Ideologie verstrickt war, und als ich am Ende der beiden Bände RICHARD WAGNER Ausgewählte Schriften und Briefe (1938), die ich antiquarisch für 18.-DM erstanden hatte, auf den folgenden Ausblick stieß, war ich schon einigermaßen kuriert. So sehr, dass ich mich nicht mehr um das Hauptwerk dieses Propheten kümmern mochte: „Das Geheimnis der Form bei Richard Wagner“ in vier Bänden. Aber eine kürzere Version hätte ich mir durchaus gewünscht. Falls etwas „dran“ war. Eine Recherche über die Nazizeit des Autors war damals ungleich schwieriger als heute, und als die 68er uns aufweckten, war ich schon mit den großen Formen der indischen Musik beschäftigt.

Alfred Lorenz (1938)

Wikipedia (engl) hier zu Alfred Lorenz.

Zu seiner NS-Geschichte im Detail HIER

Aber ich blieb wachsam, wenn es um einen neuen Wagner ging: Adornos „Versuch über Wagner“ 1966 und diese erstaunliche Schrift von Dahlhaus, den ich in Darmstadt kennengelernt hatte (wo auch Adorno über Form sprach) und Rudolf Stephan uns (d.h. das Klaviertrio de Bruyn) täglich ins Gespräch zog.

Carl Dahlhaus 1971

Und nun erst die Entdeckung eines neuen Ansatzes für Lorenz bei Jens Wildgruber:

    Quelle Festschrift Heinz Becker 1982, darin Jens Wildgruber: Das Geheimnis der ‚Barform‘ in R.Wagners Die Meistersinger von Nürnberg. Plädoyer für eine neue Art der Formbetrachtung Seite 205 – 213 / Laaber-Verlag 1982 ISBN 3 9215 1870-9

Bar-Form (AAB) Bogen-Form ( ABA = dreiteilige Liedform)

Die Behandlung der Bar-Form im Lexikon MGG (neu): der Artikel beginnt und endet interessanterweise mit Wagner:

  … ein weitgehendes Korrespondenzverhältnis erkennen lassen und somit als Stollen einer Riesen-Barform dem 2. Akt als Abgesang gegenüberstehen (Mey 1901, S.363; Lorenz 1966 Bd.3, S.10ff).

Quelle MGG (neu) Die Musik in Geschichte und Gegenwart  Sachteil 1 „Barform“ /  Bärenreiter Metzler Kassel Basel etc. 1994 / Autoren: Johannes Bettelbach (Kurt Gudewil)

Man mag es als bloße Sentimentalität abtun, wenn ich mich an die Staatsarbeit von 1964 erinnere, die mich zum ersten Mal auf solche Großformen aufmerksam machte; auch der Name Lorenz fehlt nicht und immerhin war dieser Abschluss des Schulmusikstudiums (danach folgte das reine Violinstudium bis 1967, dann die  Orient-Tournee und die Promotionsstudien über arabische Musik bis 1970) dafür verantwortlich, dass ich mich bis heute für das Phänomen Wagner interessiere, obwohl es den neuen musikethnologischen Arbeitsgebieten zu widersprechen  schien. Es gehört alles zusammen. Das Thema lautete: „Die literarischen und philosophischen Anregungen zu Wagners Tristan und ihre Wiedergabe bzw. Umbildung in diesem Werk.“

Reichow 1964

Wie gesagt: eine Sentimentalität vielleicht, aber es wäre auch heute noch keine Strafarbeit für mich, ein Jahr lang aufs neue „Tristan und Isolde“ zu studieren. Damals soll mein früherer  Geigenlehrer Raderschatt in Bielefeld geäußert haben: „ich dachte, er hätte endlich die Pubertät hinter sich“. Ein Irrtum, – ich wollte, ich könnte sie heute als erledigt betrachten.

Rudolf Stephan sagte uns damals: Lesen Sie Adornos Analyse zur Lohengrin-Instrumentation, überhaupt den „Versuch über Wagner“! Wie kam er darauf? Ich habe das erst im April 1966 umgesetzt und stieß wieder auf Lorenz, neue Fragen tauchten auf.

Ich wusste wohl, wie ungenügend mein Ansatz zu einem Überblick des Tristanstoffes war. Was nicht heißt, dass ich heute soviel schlauer geworden wäre. Vielleicht wüsste ich nur besser, wie ich weiterarbeiten müsste. Wenigstens hinsichtlich der Lektüre würde ich wie folgt beginnen, also durchaus bei Lorenz und bei meinem Wunsch, musikalische Riesenformen zu überblicken und nicht bei „schönen Stellen“ hängenzubleiben… wie oft wohl habe ich damals Wotans Abschied incl. Feuerzauber gehört, wie oft in meinem „Einzelhaft“-Zimmer in Köln-Niehl das Tristanvorspiel (erleichterte Fassung) am Klavier gespielt? Wie oft wohl? Auch Besucher*innen waren nicht sicher.

MGG  Mahnkopf

Quellen

MGG (neu) Die Musik in Geschichte und Gegenwart Personenteil Band 11  Artikel „Alfred Lorenz“ Autor: Werner Breig

Richard Wagner Konstrukteur der Moderne (Hg.) Claus-Steffen Mahnkopf, darin: Wagners Kompositionstechnik S.159-182 Klett-Cotta Stuttgart 1999

Letzteres ein besonders maßgebendes Buch, aus dem ein bezeichnender Satz zitiert sei:

Die Wagnerliteratur ist so vielseitig wie unüberschaubar. Ein jeder, gleich, ob musikalisch fachkundig oder nicht, glaubte, sich zu Wagner äußern zu können und zu müssen. Betrachtet man sie aber etwas genauer, folgt die erste Überraschung: Der Anteil der Literatur zur Musik Wagners ist verschwindend gering.

(Sein guter Hinweis auf Ernst Kurth: Romantische Harmonik und ihre Krise !!!)

Einstweilen begnüge ich mich, die Arbeit von Jens Wildgruber zu studieren, zumal sie nirgendwo in der Wagner-Literatur beachtet und zitiert wurde, auch wohl schwer aufzufinden war  – ich weiß nicht, warum das so ist, auch nicht, warum man im Internet kaum Triftiges über den Autor und seine weiteren Arbeiten findet.

Weshalb Alfred Lorenz ansonsten fehlt (auch in meinem Bücherschrank), ist klar, obwohl man es selten so simplifiziert ausdrückt: er war ein unangenehmer Nazi (gestorben 1939!). Aber natürlich kann man sich mit ihm auseinandersetzen, ohne mit seinem weltanschaulichen Hintergrund zu sympathisieren. Das geht einem ja bei Wagner genauso!

(Fortsetzung von oben, Wildgruber)

Was mir hier besonders gefällt, ist sicher auch das, was mich an die frühen 80er Jahre erinnert, eine linke Haltung, die der Utopie zuneigte, dabei immer den positiven Zielpunkt der Geschichte ahnen ließ, die Moderne (siehe Mahnkopf); für mich immer im latenten Widerspruch zu meinen parallel realisierten „orientalischen“ oder „ethnischen“ Interessen. Ich zitiere aus Wildgrubers Artikel, um es leichter repetierbar zu machen:

Das ‚Geheimnis‘ der Barform liegt tiefer, zumal es nicht zum Gegenstand der ‚ästhetischen Vorlesung‘ gemacht wird; es liegt verborgen in der Frage, warum denn die Meister [der „Meistersinger“] im Bar die einzig statthafte Form künstlerischer Äußerung erblicken. Es gibt nur einen Hinweis darauf, daß Wagner darüber nachgedacht hat, und zwar unter einem geschichtsphilosophischen Aspekt. Die Ausgangsbasis ist zu schmal, um daraus eine komplette Theorie abzuleiten; die folgenden Ausführungen sind daher eher spekulativer Natur.

Dialektisches Denken, wie es sich im Strukturprinzip des Bars niederschlägt, ist immer auch geschichtliches Denken, das Geschichte versteht als einen fortschreitenden Prozeß, in dem von Konfliktlösung zu Konfliktlösung immer höhere Ebenen der gesellschaftlichen Organisation und des menschlichen Bewußtseins erreicht werden: Geschichte hat ein Ziel, dessen formelhafte Umschreibungen als ‚Aufhebung der Selbstentfremdung‘ oder ‚Neues Paradies‘ in ihrer Abstraktheit auf die Utopie verweisen. Wenn Wagner den Bar als dialektische Struktur interpretiert, so sieht er in ihm den Niederschlag des teleologischen Geschichtsbewußtseins seiner Schöpfer, d.h. des frühen Bürgertums, dem ein klares Ziel vor Augen lag, nämlich die Aufgabe, sich gegen das Feudalsystem durchzusetzen. Das vermittelnde Element zwischen einer Gesellschaft und ihren repräsentativen musikalischen Ausdrucksformen wäre demnach in der beiden gemeinsamen Strukturierung der Zeit zu sehen.

Speist sich das Selbstverständnis des Bürgers im ausgehenden Mittelalter aus dem teleologischen Bewußtsein, daß sein Ziel, die Selbstverwirklichung, in greifbarer Zukunft zu erreichen sei, so beruht das Feudalsystem auf genau entgegengesetzten Prinzipien. Es leitet seine Existenzberechtigung aus Vergangenem ab, aus einem in mythischen Bildern verklärten Ursprung, der dem Menschen anschaulich wurde in der Zugehörigkeit zur Blutgemeinschaft der edlen Sippe, im Besitz von Grund und Boden und in der Zugehörigkeit zu einem sozialen Stand. Die Rechtfertigung des Systems aus dem Ursprung steht in ersichtlichem Gegensatz zu teleologischem Bewußtsein: wo der Ursprung herrscht, kann Geschichte nur erfahren werden als Wiederholung dessen, was schon immer war, die Zeit steht unter demselben Gesetz des Kreislaufs wie das vegetative Dasein.

Elemente dieses Bewußtseins werden an zahlreichen Stellen im Ring des Nibelungen artikuliert, doch wäre es verfehlt, seine Konzeption aus dem ursprungsmythischen Bewußtsein ableiten zu wollen: es ist nur Stoff, nicht Strukturprinzip ( nur in Tristan und Isolde gewinnt es die Form beeinflussende Kraft).

Eine der denkbaren Formen, in der sich ursprungsgebundenes Bewußtsein niederschlagen kann, ist ganz offensichtlich der Bogen. Wenn die Meister also Walthers Prüfung abbrechen, tun sei es aus einem guten Grund: nicht etwa, weil ihnen eine altmodische Dacapo-Arie vorgetragen wurde, die für die historischen Meistersinger allenfalls eine allzu moderne Form gewesen wäre, sondern weil in der Bogenform das feindliche Prinzip seine Maske fallen ließ; der Junker sang nichts anderes vor, als die mißtrauischen Meister von ihm erwarten konnten.

Wenn Wagner gleichwohl Walther zu demjenigen Künstler macht, der den Bar zum wahren Ausdruck bürgerlichen Bewußtseins entwickelt, dann muß er Walther aus dem Bereich des Ursprungsmythos herauslösen. Genau dies – und darin liegt der Hinweis, daß Wagner vergleichbare Überlegungen angestellt haben muß – geschieht für alle drei Ursprungsbindungen, die das Gesetz des Ursprungs konkretisieren, wenn er Pogner über ihn sagen läßt:

Als seines Stammes letzter Sproß / verließ er neulich Hof und Schloß / und zog nach Nürnberg her, / daß er hier Bürger wär‘.

Es ist der Überlegung wert, ob dieser – Wagner unterstellte – Ansatz neue Wege zur Betrachtung musikalischer Formen erschließt.

Soweit Jens Wildgruber 1981. (Quelle siehe oben a.a.O.) Es waren die Überlegungen jener Zeit, die mich heute geradezu „heimatlich“ berühren.

17./18. April 2022

Übrigens habe ich vor Jahren (2016) im Blog schon einmal versucht, der Wagnerschen Kompositionsweise näherzukommen und bin nun quasi zufällig aufs neue an denselben Punkt geraten, wie man hier sehen kann. Allerdings im Parsifal. Und das passt nicht schlecht: der Blick zurück und auch voraus, immerhin haben wir heute schon Ostersonntag. Der Vollständigkeit füge ich noch einen weiteren Link hinzu, zu dem Artikel, der damals den Ausgangspunkt (Fluchtpunkt?) darstellte: hier zum 25. Juli 2016.

Und jetzt soll heute auch noch einmal der Link zur Youtube-Aufnahme folgen (ab 24:28),

Kundry 1992 Waltraud Meier, Poul Elming (Barenboim, Kupfer)  HIER 

darüberhinaus unten der entsprechende Notentext aus dem Parsifal-Klavierauszug meines Vaters, der ihn in seinen Kapellmeister-Jahren (in Schwerin erworben und) in Stralsund studiert haben wird, in den 1920er Jahren, noch optimistisch vorausschauend, womit wir heute – zurückschauend – ziemlich genau 100 Jahre im Blick hätten, – zugleich eine nahe Zukunft, die wenig Anlass zum Optimismus gibt.

Tristans Blick

im Vorspiel

er schlägt die Augen auf, sie schenkt ihm das Leben, er stirbt, sie anblickend

Leben Tod

(folgt: Walküre: „Todverkündigung“ 2.Aufzug, 4.Szene (s.o. Bar-Form MGG)

Hören? Z.B. HIER (Solti 1957), a) bis 9:45 b) bis 13:07 / c) bis Ende / Im Textbuch auf Wiederkehr Motiv 32A achten (Seite 100 und Seite 101)

Wer war Wagner? († 13. Februar 1883)

15. Januar 1882 / ZITAT:

Man muss schon abgebrüht sein, um in diesem späten Porträt nicht das Antlitz eines Jenseitigen zu erblicken. Alles Blut scheint daraus gewichen, nur die blauen Augen tragen rot geäderte Ränder, der Teint wirkt kreidig, teigig, ungesund, Haar und Backenbart fast struppig, und besonders die lachsfarbenen Lippen lassen mehr eine Steckbriefzeichnung vermuten als das Werk eines renommierten Malers. Januar 1882, Palermo, Grand Hôtel et Des Palmes, der 41-jährige Auguste Renoir porträtiert den 68-jährigen Richard Wagner. Der Meister, so berichtet der musikbegeisterte Maler hinterher, sei »sehr fröhlich« gewesen, wenngleich nervös. 35 Minuten dauert die Sitzung, nicht eben lang, und Renoirs Einschätzung des Resultats lässt tief blicken. »Wenn ich vorher aufgehört hätte, wäre es noch besser gewesen.« schreibt er, »denn mit der Zeit war mein Modell nicht mehr so fröhlich und wirkte steifer. Ich habe die Veränderungen zu sehr übernommen.«

Noch mehr Flüchtigkeit im Skizzieren hätte somit ein noch echteres, authentischeres Wagner-Bild besorgt? Der Gedanke leuchtet ein. Wo die Pose fehlt, liefert der Mensch sich aus. Vor allem aber ist die Mühe interessant, die es [den] Komponisten offenbar kostet, sich in Pose zu werfen – und nichts als diese Mühe fängt Renoir ein. Ausgerechnet Richard Wagner, dem Virtuosen der Selbstinszenierung und -stilisierung, entgleiten hier die Züge, und wären da nicht die altbekannte Silhouette, nicht die opulente Seidenschleife am Hemdkragen und der schwere, pelzbesetzte Mantel (als sei der sizilianische Winter einer der härtesten), man würde ihn kaum wiedererkennen. Renoirs Malerkollege Paul Gauguin wertete die Physiognomoe des Deutschen hellsichtig als eine transparente, durchlässige: ein bleiches »Doktorengesicht, dessen Augen dich nicht fixieren, nicht ansehen, sondern zuhören«. Zwanzig Jahre später drehte der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe den Spieß programmatisch um, ohne groß auf Wagner einzugehen. Das im Pariser Musée d’Orsay hängende Bild, schreibt er, sei »ein merkwürdiges Dokument. Es gibt gewisse Seiten Wagners mit verblüffender, fast erbarmungsloser Psychologie. Es steht dahin, wie weit sie dem Maler bewusst war, jedenfalls beweist das Bild, wie frei sich der Künstler vor dem Gegenstand seiner Verehrung fühlte.«

Quelle Rüdiger Schäpe und Christine Lemke-Matwey: Die Sächsischen Olympier / in: Richard Wagner Max Klinger Karl May WELTENSCHÖPFER / Hatje Cantz  (Austellung Leipzig) Ostfildern 2013 (Seite 24f)

(JR) Ich erinnere an meine obige Verknüpfung des Wildgruber-Artikels mit meinen Hoffnungen um 1980, an die geheime Rolle der Moderne, und finde sie – ich mag Unrecht haben – auch in der Einschätzung des Wagner-Porträts von Renoir wieder, der offenbar für den Umschlagspunkt der Moderne (nach Wagner) einstehen soll, wie ich ihn auch nach dem eben zitierten Text avisiert sehe. Ohne dabei zu frohlocken. Ich habe vor zwei Tagen den Renoir-Film gesehen, war ernstlich berührt und hätte ihn gern noch einmal gesehen… Es würde zu weit führen, darüber nachzudenken (sein Alter und auch: das Altern der Moderne). Hier ist die Fortsetzung des Zitates:

Schön für Renoir, möchte man sagen – und nicht ganz so schön für Wagner? Von der Moderne, die sich hier am Horizont abzeichnet, ist der deutsche Überkünstler gegen Ende seines Lebens mindestens so weit entfernt wie der französische Impressionismus vom Bärenfell Jung-Siegfrieds auf der wagnerschen Opernbühne des 19. Jahrhunderts. Das eigentlich Aufregende aber ist, dass Wagner sich dessen bewusst war. Auch das enthüllt Renoirs Porträt: Indem es einen sich Verabschiedenden zeigt, einen, der bereits Platz gemacht hat. All die Zukunftsorgelei, die Wagner stets lautstark betrieben hatte, in Wort und Ton, in seinen Schriften wie in seinen Musikdramen, sie muss vor einer Zeit, die nicht nur an Gott, sondern auch an der Stellvertreterschaft des Künstlers für dass Göttliche auf Erden zweifelt, notwendig verstummen. Die Schwelle zum nächsten Jahrhundert kann und will Wagner, der Visionär und Utopist, nicht überschreiten – zumal er sich von seinem Selbstbildnis, seinem künstlerischen Rollenverständnbis offenbar nicht zu lösen vermag. Dabei wären Wagner und Sigmund Freud gewiss ein famoses Dioskurenpaar geworden.

ZITATende

(JR) Mit dieser zuletzt genannten Paarung wären wir schon fast bei Thomas Mann und seinem großartigen Essay aus dem Jahre 1933, den ich aufs neue anschaue. Für mich als Leser jedoch steht – sinnvollerweise, aber rein zufällig – erst recht auf der Liste das neue Buch von Volker Hagedorn: FLAMMEN Eine europäische Musikerzählung 1900 – 1918 (Rowohlt 2022). Siehe hier.

Wer genau den gleichen Weg gehen will wie ich, könnte sich schon mal … etwas einhören (die Vorstellung beginnt genau bei 2:20) HIER (Pelléas et Melisande)

Ex improviso: Kleist, Beethoven und Anton Kuh

Wie improvisiert kann die freie Rede sein?

In der klassischen Redekunst geht es offenbar um den freien Vortrag eines – in der Gedankenführung – detailliert vorbereiteten Textes (Quintilian). Das berühmte Beispiel des imaginierten Gebäudes, das man gemächlich durchschreiten kann, nachdem man in jedem Raum gedanklich bestimmte Themen bildhaft deponiert hat: man ruft sie der Reihe nach ab. Es ist eine effektive Gedächtnishilfe.

Cicero gegen Catilina (Wiki hier)

Der scheinbar neue Gedanke, den Kleist einem Freund per Brief entwickelt, wird bei Wikipedia folgendermaßen wiedergegeben, nämlich:

Probleme, denen er durch Meditation nicht beikommen kann, zu lösen, indem er mit anderen darüber spricht. Dabei ist nicht wichtig, dass dem Gegenüber die Materie bekannt ist, sondern der ausschlaggebende Punkt ist das eigene Reden über den Sachverhalt. Mit dieser Methode könne man sich selbst am besten belehren: „Die Idee kommt beim Sprechen“. Kleist selbst habe diese Idee gehabt, als er beim Brüten über eine algebraische Aufgabe nicht weiter kam, aber im Gespräch mit seiner Schwester darüber eine Lösung fand. Die bereits vorhandene „dunkle Vorstellung“ wird durch das Gespräch präzisiert, da man sich durch das Reden zwingt, dem Anfang auch ein Ende hinzuzufügen (also die Gedanken zu strukturieren). Zwar kann man einen Sachverhalt auch sich selbst vortragen, doch ist das Gegenüber insofern wichtig, als es dazu zwingt, strukturiert zu reden. Zudem kann es förderlich sein, wenn der Gesprächspartner zu erkennen gibt, dass er einen „halb ausgedrückten Gedanken schon […] begriffen“ habe – Kleist geht es also nicht um die Mäeutik im Sinne Sokrates’.

Sehr einleuchtend. So ähnlich hatte ich es auch in Erinnerung, als ich dem Essay jetzt in einem Reclambändchen wiederbegegnete und den Vorgang falsch gedeutet fand: als handle es sich um eine Art Improvisation. Schon der Ansatz schien mir verfehlt, da es doch insgesamt um die Praxis des Gespräches gehen soll. Jeder weiß, dass zumindest ein gutes Gespräch unter Freunden nicht nach einem geschriebenen Leitfaden abläuft, es sei denn, das Gespräch findet vor Publikum statt und soll dicht an der vorgegebenen (!) Thematik bleiben. Aber auch ohne einen solchen Leitfaden wird man nicht von „Improvisation“ sprechen, wenn etwa Freunde einander erzählen, was ihnen so einfällt – in Rede und Gegenrede. Sprechend und zuhörend. Es ist dabei ganz selbstverständlich, dass sie reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, einander zuhören, emotionale Interjektionen einfügen („Ach!“ und „Oh!“), sich sogar ins Wort fallen („eh ichs vergesse“), unterbrechen, das Thema wechseln, assoziieren, ausschweifen, lachend zur Rückkehr mahnen („komm bitte zur Sache!“): es handelt sich keineswegs um eine Reihe von (Solo-) Improvisationen, sondern eben um ein normales Gespräch, und das sollte kein Theater sein, natürlich auch keine Talkshow. Erst wenn einer sich produziert, sich vorführt, in den Vordergrund drängt, könnte man von einer (unerbetenen) Improvisation reden. Aber weshalb diese Unschärfe der Begriffe, wenn am Text ausdrücklich ein Philosoph beteiligt ist? Er sollte dafür sorgen, dass der Begriff „Begriff“ nicht nach Belieben seinen Bedeutungsumfang verändert. Selbstverständich gibt es verschiedene Typen und „Stilhöhen“ des Gesprächs, das Telefonat, das Dienstgespräch, die Diskussion, das Steitgespräch usw. (siehe Wikipedia hier). – Kurz: das Wort Improvisation, das letztlich sein Prestige aus der Musik erhalten hat, ist in seiner Allgemeinheit relativ ungeeignet, menschliches Normalverhalten zu nobilitieren. Und bei Kleist handelt es sich offensichtlich um eine „Idee“, die jederzeit auftreten kann, auch beim Spazierengehen im Wald; sie kann beim Zwiegespräch vielleicht eher stimuliert werden und besonders willkommen sein. Der wesentliche Vorgang besteht aber darin, dass man durch das Gegenüber veranlasst wird, „die Gedanken zu strukturieren“, ein Kontinuum zu schaffen, in dem gewiss auch ein punktueller Einfall inszeniert werden kann oder beiläufig eingeflochten wird, was gerade den Charme ausmacht. Aber nicht der Geistesblitz, sondern das weiter“plätschernde“ Gespräch ist atmosphärisch die Hauptsache, was nicht despektierlich gemeint ist: Es ist nicht konfus, sondern hat – bei aller Leichtfüßigkeit – Hand und Fuß.

Fachgespräch: Seymour Bernstein – Ben Laude Fachgespräch: Rubinstein – Neuhaus

Fotos: Screenshot JR Youtube Bernstein/Laude „Chopin & Pedagogy“ / Astrid Schmidt-Neuhaus: Heinrich Neuhaus, Die Kunst des Klavierspiels, edition gerig Köln 1967 (Seite 6c)

Der Hauptfaktor, der das vielbeschworene „Köln Concert“ zu einem Paradigma gemacht hat, ist nicht dieses oder jenes Thema oder Motiv, sondern die Tatsache, dass ein sinnvolles großes Kontinuum geschaffen wurde, wie es im Jazz bis dahin vielleicht noch nicht existierte. Es war ja auch kein Gespräch, sondern allenfalls eine freie Rede am Klavier.

Berühmt wurde das Paradigma vom Streichquartett als  Gespräch unter vernünftigen Leuten (Goethe). Sie reden nicht durcheinander, sondern in wechselnden Rollen, wobei das Zuhören eben auch tönt. Selbst das Durcheinanderreden könnte eine dramatisierende musikalische Funktion haben. Andererseits gibt es auch die Erfahrung, dass dem einzelnen Spaziergänger gar keine vernünftige Gedankenfolge durch den Kopf geht, sondern ein kopfloses Gewirr wiederkehrender Bilder und Phrasen, ein obstinates Mühlrad. Und erst das Gegenüber schafft den grundierenden Ernst, der verhindert, dass man nur herumalbert, eine Improvisation könnte von A bis Z aus Spiel bestehen, und das Publikum hätte seinen Spaß. Aber im Gespräch zu zweit muss man sich – bei aller Unterhaltung – gegenseitig ernst nehmen.

Man lese nach dieser improvisierten Vorbereitung die Zusammenfassung des Kleistschen Gedankengangs in Wikipedia HIER . Danach die folgenden, von mir etwas ratlos mit dem Stift durchpflügten Buchseiten:

 

Den Originaltext von Kleist findet man im „Projekt Gutenberg“ , nämlich  hier

Tatsächlich steht nirgendwo ein Wort oder ein Vorgang, aus dem sinngleich ein „Improvisieren“  oder „aus dem Stegreif reden“ abzuleiten wäre – vielleicht am ehesten der Ratschlag, einfach mal „draufloszureden“. Man könnte auch sagen: den erstbesten Einfall, der sich aus der unvorhergesehenen Situation ergibt, beim Schopf zu fassen. Wenn man Glück hat, kann man daraus etwas machen. Der quasi öffentliche Druck, der zur sofortigen Reaktion zwingt, sorgt für ein Gewicht in der Aussage. Jeder weiß, dass es danebengehen kann, man kann ins Stottern kommen, sich verhaspeln und blamieren. Man erinnert sich aber nur, wenn es gelingt. Anders als geplant, aber man muss ja mit den Folgen leben. Unter Umständen kann man den vielleicht in der Not gewählten unverschämten (?) Ausdruck nachträglich überzeugend als bewusst und gezielt gewählt interpretieren.

Wenn man sich einmal geärgert hat, wie bei einem einsamen Spaziergang die Gedanken sich im Kreise drehen, „als gehe ein Mühlrad im Kopf herum“, und man sehnt sich danach, mit einer anderen Person ein Gespräch zu führen, das aus Reden und Reagieren besteht: man hält sich schon aus Respekt an einen Gesprächsfaden. Dann versteht man auch, weshalb die indischen Weisheitslehren uns raten, Konzentration zu üben, indem wir die Aufmerksamkeit auf eine einzige Sache, ein Ding, ein Wort richten und nichts anderes hereinlassen. Das berühmte „OM“ zum Beispiel. Oder einen Krug, eine Blume, eine Ganesha-Figur. Das wäre in Ordnung, zumal ich vielleicht nicht zum Beten aufgelegt bin: Konzentration hat Wert.

Zu den Menschen aber, von denen ich am wenigsten einen persönlichen Rat annehmen würde, so sehr ich sie aus anderen Gründen schätze, gehören Rousseau und Kleist. (Der eine hat den schärfsten Denker der Geschichte zutiefst beeindruckt, ich meine Kant, den der andere so gründlich missverstand, dass er – wie behauptet wurde – nur noch im Freitod eine Lösung sah.)

Jedenfalls war es nicht Kleist, der sich durch die Klarheit des philosophischen Gedankens profilierte, wie etwa Schiller. Sondern durch geschriebene Texte. Und dieser eine Text über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden ist kein Teil einer kontinuierlichen lebenslangen philosophischen Arbeit, ebensowenig wie der Text über das Marionettentheater. Es sind halt gute Einfälle, Gesprächsthemen. . .  Ein Lieblingsthema war für Kleist auch das rechte Deklamieren seiner Texte, er war selten zufrieden und

„fand es unverzeihlich, daß man so wenig tue und jeder, der die Buchstaben kenne, sich einbilde, auch lesen zu können, da es doch ebenso viel Kunst erfordere, ein Gedicht zu lesen, als zu singen, und erhegte daher den Gedanken, ob man nicht, wie bei der Musik, durch Zeichen auch einem Gedichte den Vortrag andeuten könne. Er machte sogar selbst den Versuch, schrieb einzelne Strophen eines Gedichtes auf, unter welche er die Zeichen setzte, die das Heben, Tragen, Sinkenlasse der Stimme usw. andeuteten, und ließ es von den Damen lesen.“

Vonwegen: Improvisation! Der Vortrag war auch sein eigenes Problem, des öfteren ist sogar von Stottern die Rede…

Gern las er seine Werke den Freunden vor, und Frau [Hedwig] von Olfers, die Tochter Staegemanns, erinnert sich noch, »Penthesilea« und den »Prinzen von Homburg« von ihm gehört zu haben: er begann meist zaghaft, fast stotternd, und erst allmählich ward sein Vortrag freier und feuriger.

Quelle Dichter lesen / Von Gellert bis Liliencron / Marbach am Neckar 1984 / ISBN 3-7681-9978-9 / Seite 144 u. 147

Was las ich doch da oben noch? Kleist und die französische Salonkultur? Das ist wohl nur so improvisiert, belegt ist dagegen etwa folgendes:

Aus Paris schreibt Kleist am 28./29. Juli 1801, überfordert und enttäuscht von der riesigen, unpersönlichen Stadt, den so genannten Bekenntnisbrief an Adolphine von Werdeck, eine Freundin der Familie. Er ist entsetzt über die empfundene Kälte in den Beziehungen der Menschen und beklagt die Jagd nach Genuss und Vergnügen. Die Pariser Großstadtwelt mit ihren hohen Häusern, stinkenden Straßen und verschmutzen Gassen ekelt ihn an. Die Einwohner erscheinen ihm als ein Haufen von lauten, hastenden und rücksichtslosen Individuen. Die Entfremdung droht in eine persönliche Krise zu münden. Nur an der ausgestellten Kunst und dem Marmor des Louvre kann er sich „erwärmen“.

Quelle Anke Klare: Kleist in Paris  hier

Über die Salonkultur in Berlin gibt es eine fabelhafte Dissertation, aus der man schon in der Internet-Vorschau soviel Wissenswertes entnehmen kann, dass man äußerst vorsichtig wird mit abwertenden oder verkürzenden Urteilen: siehe Petra Wilhelmy Der Berliner Salon im 19. Jahhundert: 1780 -1914 hier.

Bevor wir den Blick auf die Musik richten, noch einmal der Kleist-Text: hier Max-Planck-Gesellschaft hier

Manche Deutungen des Textes beziehen ihre Faszination aus den vagen Vorstellungen, die man beim Musikhören gesammelt hat: da blieb es nie bei einer 5-Sekunden-Formel, sondern man erlebte etwas durch deren Fortspinnung, Wiederkehr, erneute Fortspinnung, veränderte Wiederkehr usw., diese Dauer ist wesentlich, und die unleugbare Wirkung von Bagatellen hängt damit zusammen, dass ihnen eine übertriebene „Sprengkraft“ zugeschrieben wird. Niemals würde man nach einem Konzert von 10 Minuten zufrieden nach Hause gehen, mit der Versicherung, dass der Komponist oder der Improvisator bekannt dafür sei, dass er mit einem Tonhauch die Welt aus den Angeln zu heben vermag. Trotz Schönbergs Vorrede zu Anton Webern. Wer improvisieren kann, muss es durch eine gewisse Dauer der Vorführung beweisen, nicht gleich sein Pulver verschießen. Es hat seinen guten Grund gehabt, dass Bach – ein Wundermann der Improvisation – sich weigerte, ein kompliziertes Thema aus dem Stegreif  für den preußischen König in eine 6-stimmige Fuge umzusetzen. Das Ansinnen war peinlich dilettantisch.

Man kann davon ausgehen, dass Beethoven große sonatenhafte Sätze bei guter Laune auch öffentlich improvisiert hat. Es gibt Beispiele, die er Fantasie genannt hat, er hat bekanntlich auch schriftlich ausgearbeitete Sätze „quasi una fantasia“ überschrieben. Dilettantisch war die Annahme, dass eine solche Improvisation für immer verloren war. Beethoven war ja nicht in Trance, er wusste, was er tat und konnte es zweimal nacheinander, in quasi identischer Form. Es wird auch einiges Formelwesen darin gewesen sein, geübte Techniken, samt Überschreitung jedes formelhaften Wesens. Man hat über dieses Vermögen nachgedacht, z.B. Paul Bekker (1911) und August Halm (1927), die hier beide zitiert seien. Und dem ist nichts hinzuzufügen.

Beethoven als Improvisator:

       

Quelle Paul Bekker: Beethoven / Verlag Schuster & Loeffler Berlin 1911

Quelle August Halm: Beethoven / Berlin 1927 / Reprint: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1976

Die folgende Karikatur hat Überleitungsfunktion und soll nicht etwa Beethoven in Frage stellen:

  mehr über Cham hier

Wer war eigentlich Anton Kuh? Ich habe von ihm zum ersten Mal durch den Kollegen Rainer Peters erfahren, der über den ganzen Wiener Umkreis der frühen Moderne schier alles wusste. Aber damals war es noch nicht so, dass man nach Hause kam und alles am PC recherchieren konnte, was einen neugierig gemacht hatte. So wusste ich über Jahrzehnte über diesen großen Improvisator eigentlich nur, dass seine Kunst irgendwas mit Karl Kraus zu tun hatte, dessen Buch über „Die Sprache“ ich seit August 1966 besaß und im Gespräch mit meinem kleinen Sohn nicht aus den Händen legte.

(Foto)

https://de.wikipedia.org/wiki/Anton_Kuh hier

Ich erwähnte schon die „Bagatellen“ in der Musik, man könnte sie vielleicht in die Nähe der Aphorismen bringen, über deren Sammlung Anton Kuh 1922 anmerkte:

Die vorliegenden Aphorismen haben den Vorzug, keine zu sein. Da sie sich gegen die Sprache als Formschutz der Lüge und Kristallschliff der Eitelkeit richten, ist die Ungeschliffenheit ihre halbe Parole. Man betrachte sie im übrigen als Anfangs-, End- oder Mittelsätze von Essays, die der geneigte Leser nach Intelligenz und Neigung hiemit zu schreiben aufgefordert wird. Entstammen sie doch entgegen dem Brauch weder der Aufpeitschung des Gehirns zum Zweck ihrer Abfassung, noch intensiver Schreibtischfeilung, sondern der jahrelangen, konsequenten Faulheit ihres Autors, Bücher zu schreiben.

Quelle Anton Kuh: Von Goethe abwärts. Essays in Aussprüchen, Leipzig-Wien-Zürich, E.P.Tal & Co. 1922 / online siehe hier

Gegen Ende der Sammlung steht ein Ausspruch, der besonders gut zum Verfahren des Autors Anton Kuh selbst passt:

Die Wenigsten wissen, daß auch das Nichtschreiben die Frucht langer und mühseliger Arbeit ist.

Die Stegreif-Rede vom 25. Oktober 1925 „Der Affe Zarathustras“  hier einfacher (als pdf): hier

Vielleicht fragen Sie am Ende: was ist denn das für eine Rede, ist sie wirklich von Nietzsche? Oder ist es eine Parodie? Erfunden von Anton Kuh, Nietzsche in den Mund gelegt? Seite 49, da beginnt es mit den Worten:

Friedrich Nietzsche nämlich hat einst in einer Nacht eine
Vision
gehabt: Kraus ist ihm erschienen. Nicht bloß als Person.
Kraus mit seinem „Fackel“-Deutsch, wie er leibt, ohne zu
leben!
Und nun hören Sie zu und versuchen Sie, nicht davon
erschüttert zu sein, was Nietzsche, Krausens Nietzsche-Angriff
ahnend, über Kraus und Wien schrieb. Die große Stadt, die
hier vorkommt, ist Wien. Wer Kraus ist, werden Sie erraten.
Jetzt geben Sie genau acht (liest):

(liest) steht da… er hat sich Geschriebenes mitgebracht. Und er liest es vor:

Man kennt es heute nicht mehr. Die Ausgabe von 1930. Meine Mutter (*1913) hat es wohl als Schülerin erstanden, sie schenkte es mir, und dann hat es sich jemand angeeignet, mit dem ich noch nicht gerechnet hatte.

Stimmung! Raum! Klang!

Das Hören selbst hören

Ich komme zurück auf die CD „Discovery of Passion“ und nehme den schon besprochenen Track 9 als Beispiel. „Hor che’l ciel e la terra“, ein Monteverdi-Madrigal, im Original für 6 Stimmen, – schwer zu akzeptieren, dass statt des  emotionalen Ineinandergreifens der menschlichen Stimmen eine flinke Blockflöte mit ihren Läufen über dem ruhigen Continuo brilliert. Hat sie noch mit dem Ausdruck des Textes zu tun? Wohl nicht, Erinnerung an das vokale Vorbild wirkt eher störend, der Augenblick gilt, der ungeschützt herausragende hohe Ton, die lerchenhaften Kapriolen, das rhythmische Beben des Atems. Und das alte Vorurteil, die Flöte stimmt nicht ganz, hier und da, es sind nur Einzeltöne, sie sind offenbar so gewollt oder wenigstens akzeptiert, und ich bin im Zweifel, ob es nicht nur mein Ohr ist, das sie anders erwartet. Unzulässigerweise. Wie kann ich herausfinden, was objektiv gilt. Cello und Cembalo beginnen, der harmonische Rahmen ist eindeutig, und wenn die Flöte dazukommt, scheint der erste hohe Ton zu tief, und erst in der Folge fügt sich alles harmonisch zusammen, auch wenn die Flöte zurückkehrt zum Ausgangston und sogar darüber hinausgeht. Die Modulationen, – alles wunderschön, bis zur Kadenz bei 1:08. Man badet in den Klängen. Die darauffolgenden Tupfer (ich denke an den Text: „veglio, penso, ardo, piango!“) sehr fein artikuliert, in der Tonlänge kalkuliert, bei 2:14 denke ich wieder an den Text („e chi mi sface“ ) und fühle den Schmerz im Beben der Vierergruppen – und dann kommt der Halt bei 2:49, die hohe Terz des darunterliegenden Akkordes, was ist damit? … sie steht im Raum und ist tief… 2:52 darf ich das fühlen und monieren? Oder mich an die kleinen Tücken der Physik erinnern, die auch wieder zu den Ausdrucksmitteln der Musik gehören?

Wie oft haben wir uns im WDR darüber ereifert, wenn ein Kollege, der die „Aufführungspraxis“ hasste, seine englischen Lieblingsfeinde verbal abstrafte („da stimmt kein Ton!“), und ich vermutete, das ihn die Abwesenheit des Vibratos irreführte: vielmehr, er kennt gutes Geigenspiel nur mit starkem Vibrato, er hat sich an die Schärfung des Tones, die sich aus dem Vibratoausschlag ergibt, derart gewöhnt, dass er den bloßen Ton, den vibratofreien, als unrein empfindet. Allerdings: wenn man das formuliert, wird der andere es mit Empörung zurückweisen, denn sein Ohr ist ihm heilig und unfehlbar wie der Papst.

Ich will an dieser Stelle keineswegs eine Kritik der CD festmachen, die mir ein riesiges Vergnügen bereitet hat. In diesem Artikel ist sie mir jedoch auch Anlass, einem schwierigen Thema der alten Musik, der Kammermusik, gerade der aus Streichern und Bläsern zusammengesetzten Ensemblemusik nachzugehen: es sind ja schon Leute darüber verzweifelt. Streicher stimmen permanent nach, vergleichen die C-Saite des Cellos mit der E-Saite der Geige, verabreden, dass die unterste Quint etwas enger eingestimmt wird. Und wenn ein Klavier mitwirkt, diskutiert man anders als wenn ein Cembalo dabei ist, das einer bevorzugten barocken Stimmung angepasst ist. Intonation ist keine Privatsache, und wer sich auf entsprechende Lehrgänge einlässt, wird reich beschenkt. Ich würde behaupten: das hat zwar mit Physik zu tun, aber man wird auch musikalischer. Als Orientierung über die Vielfalt der Thematik geben ich die Inhaltsübersichten der beiden Hefte, die mir zur Verfügung stehen, beide im Verlag Bärenreiter:

Hemann 1981 Geller 1997

Am E-dur-Dreiklang in der Kreutzer-Etüde Nr. 9 übe ich, den Weg zum obersten Flageolet-Ton zu kontrollieren; damit man nicht zu hoch ankommt. In der letzten Sechzehntelgruppe wahlweise  auch schon mit Flageolets auf e und h, überhaupt dort in der 7. Lage verweilen (+ Sprung) und einfach – spielen.

Der entscheidende Punkt (wie immer): man muss sich motivieren. Ein Beispiel in eigener Sache: der Anblick von Tonleitern ödet mich an, aber die folgende Seite aus Hemann hatte von vornherein mehrere Sympathiepunkte: sie bestätigten die Urstudien von Flesch, die Schradieck-Übungen, die mir seit Jahrzehnten vertraut sind, und in der Anmerkung das Problem mit den höchsten Flageolettönen. Das zieht mich an, und ich bleibe „am Ball“ bzw. im Spiel. Grete Wehmeyers Wort von der „Kerkerhaft am Klavier“ – um es im Stil eines ehemaligen Vorgesetzten zu benennen – ist nicht „zielführend“.

Kann man Intonation heute auch online trainieren?

https://de.wikipedia.org/wiki/Streckung_(Musik) hier

Intonation und historische Stimmungen (Andreas Puhani):

https://musikanalyse.net/tutorials/stimmungen/ hier

BEETHOVEN IX. (Thema Raum)

Die beiden Beethovenaufführungen sind nur dank eines Zufalls in diesen Artikel gelangt: die Genfer Aufführung hat mich als erste durch den Raumeindruck fasziniert, mir schien, dass die Stimmen des Orchesters besser denn je aus dem Gesamttext herauszulesen waren. Ich wollte eigentlich die Sinfonie gar nicht als Ganzes hören und stieg beim langsamen Satz eine, konnte dann aber beim Übergang zum Chor-Finale, das ich früher immer etwas gefürchtet habe, nicht aufhören. Der „Rest“ war gewaltig, ekstatisch, der Bass ein glaubwürdiger Redner und Rufer, der Chor keine geballte Masse an der Grenze zur Hysterie, man war nicht das ferne Publikum, sondern in den Raum mit einbezogen, angesogen, eine riesige Zahl von Sympathisanten und Empathisten, „Millionen“ in der Tat, wie es in Musik und Text behauptet wird.

Weiterhin (immerhin noch bis 1.1.22 abrufbar?):

GENF https://www.arte.tv/de/videos/097958-000-A/ludwig-van-beethoven-die-neunte/ ab 2:12 hier

Vorbei (nur bis 30. Dezember verfügbar – warum? ein Weihnachtswerk?)

WIEN https://www.arte.tv/de/videos/094540-001-A/beethoven-symphonie-nr-9/ ab 3:00 hier

Schräges Feuilleton

DIE ZEIT Seite 40 WISSEN  22.12.21

Ich bin nicht so glücklich, wenn die ZEIT Musikthemen behandelt, weil allzu selten, und dann mit Vorliebe zu Pop-Größen. Oder die Musikjournalistin Christine Lemke-Matwey hat wieder einmal das Wort, durchaus interessant, aber zweimal in einer einzigen Ausgabe wie heute – das sieht nicht nach Vielfalt aus.  Ihr Tagebuch zum „Boosterglück“ spare ich mir, die ausführlich behandelte „Ausbrecherin“ Elisabeth Kulman (Seite 57) erträgt nur mit Vergügen, wer vorher live mindestens dies hier geliebt hat. Weitergeblättert also. Doch wenn es um die Musik im Großen und Ganzen geht, erscheint unter der Rubrik Musikwissenschaft ein anerkannter Nicht-Fachmann, der zweifellos vielseitige „Stimmt-das?“-Autor Christoph Drösser, – warum nur? Weihnachten ist nahe, und „Schräge Töne“ passen offensichtlich ganz gut zum Artikel auf der gegenüberliegenden Seite, wo die Kantorin Barbara Fischer über die Kraft des gemeinsamen Singens und »O du fröhliche« in der Pandemie spricht. Vor mehr als einem Jahrzehnt gab es schon mal heftigen Widerspruch aus dem Lager der Neuen Musik, die nach Drösser nicht massentauglich ist, und dann kam auch noch das passende Buch heraus:

2009 Rowohlt ISBN 978 3 498 01328 8

Und heute wieder dieselben Themen, dazu als ethnischer Blickfang – um nicht wieder einmal mit den Knochenflöten der Schwäbischen Alb anzufangen – die wilden Querflöten vom Mount Hagen Sing Sing Festival in Papua Neuguinea – und der provokative Hinweis auf den angeblichen Streit der Forscher, wozu Musik eigentlich gut sei. Schließlich wird zum Glück Melanie Wald-Fuhrmann genannt, s.a. hier, und ganz am Ende gibt es das geradezu kathartische Fazit: ein Defizit. Worin mag es bestehen?

Der Forscherstreit ist also noch lange nicht entschieden. Helfen könnten dabei musikethnologische Studien, denn immer noch wird die Debatte geprägt von einem sehr westlichen Musikverständnis, das Musik als »von Menschen organisierter Klang« auffasst. In anderen Kulturen werde nicht zwischen Klang und Bewegung unterschieden, dort sei Musik ein ganzheitliches, auch körperliches Erlebnis, sagt Melanie Wald-Fuhrmann vom MPI [hier]. Auf dieses Defizit immerhin können sich inzwischen alle beteiligten Wissenschaftler einigen.

Siehe auch ZEIT online (hinter Bezahlschranke) hier. Über Forscherstreit – eine angebliche „Kakofonie der Wissenschaft“ siehe – im Pandemie-Zusammenhang – Christian Drosten, zitiert in diesem Blog am Ende des folgenden Artikels: Corona Bedenken!

Wie wäre es, zuerst dies zu verstehen:

Was ist „Humanly Organized Sound“ ? – mit dem Ausblick auf „Soundly Organized Humanity“ …

1973

Ich kann gar nicht ausdrücken, wie genial ich das Konzept finde, das hinter einer Abbildung steckt wie der folgenden. Genial die Menschen, die es in Musik leben, und genial der Mensch, der es uns plausibel macht. Am Ende ist es aber gar nicht genial, sondern einfach – menschlich:

Beispiel auf Seite 29

Eins, zwei, viele?

Mein vorläufiger Kommentar

Ein Orchester kann bedeuten: eine Menge, die von Einem geführt und instrumentalisiert wird, oder: die angeleitet wird zusammenzuwirken, sich auf allen Ebenen zu ergänzen, damit sind symbolisch Millionen gemeint und von Liebe, Mut, Widerstand, gemeinsamer Freude ist die Rede. Es ist mehrdeutig, einer kann – auf unterschiedliche Art – alles auf sich beziehen (Ludwig XIV, Napoleon, Mozart, Beethoven, Wagner) oder: alle Mitwirkenden oder Zuhörenden können sich gleich wichtig finden, (Individuen in einer Gemeinschaft). Oder – angefangen mit einer Dreiergruppe – jeder kann einen Rhythmus vorgeben, sie können gemeinsam den gleichen Rhythmus produzieren, oder: sie können ihn kooperierend auf drei verteilen, so dass sich ein komplexeres Gefüge ergibt: nicht als hörbare Klanggestalt, sondern als spürbarer Sinngehalt.

Unvorhergesehen!

Ex improviso – ein Lob der Ungewissheit

Ein so handliches Buch kann man unmöglich bis Weihnachten unangerührt lassen, ein Muss für alle Musiker/innen. Oder ganz allgemein: für Menschen? Selbst wenn sich durch Monate mangelnder Initiativen einiges an Frust und Kritikbereitschaft angesammelt hat: nichts kann willkommener  sein, als ein Angebot zur Improvisation, auch ohne Publikum, ohne Schaubühne. Gerade in dieser Zeit: Ein neues offeneres Leben beginnen. Nein, keine Anleitung, Gottseidank, – ein Angebot darüber nachzudenken. Sich in der Ungewissheit einzurichten…

ISBN 978-3-15-014164-9 Euro 6,00

Das Stichwort Fußball gefällt mir – auch im Blick auf Sohn und Enkel/in…

Zur Abwechslung lieber etwas hören (als lesen)? Bitte HIER (Radio Ö1)

Den vorgelesenen Text findet man in dem Kapitel „Das improvisierende Gewohnheitstier“ S.67 bis 74.

So froh gestimmt ich im Gesamttext herumstöbere und überall Anlass finde, mich festzulesen und den Anregungen zu folgen, so stocke ich doch, ehrlich gesagt, bei der strikteren linearen Lektüre und zwar gleich am Anfang des Büchleins: über das Gendern. Da geht es um das platonische Höhlengleichnis: demnach sei unsere Existenz umgeben von flackernden Schatten, die da vor den Höhlenbewohner*innen an die Wand geworfen werden (Seite 10), was mich sofort veranlasst nachzuschauen, ob Platon (oder seine Dolmetscher*innen) tatsächlich das gedachte menschliche „Publikum“ so ultramodern differenziert hat (haben). Oder ob hier bereits improvisiert bzw. paraphrasiert wird, so wie auf der nächsten Seite mit den Chirurg*innen. Nein, Plato variiert zwar in engen Grenzen, er spricht von „Gefangenen“ oder „Menschen“, wollte uns aber ganz gewiss nicht in vordergründige Diskussionen verstricken.

Ich hätte vielleicht einfacher begonnen, etwa bei dem lateinischen Spruch „variatio delectat“, aber wenn es nun derart streng zugehen soll, repetiere ich zunächst einmal die Deutung des Höhlengleichnisses bei Wikipedia hier. Ob der Mensch etwa, wenn er über einem ostinaten Grundbass Variationen entfaltet, in Wahrheit erkundet, wie er sich dabei an Bestimmungen zu halten vermag, die ihm Sicherheit geben. Oder eher Vergnügen? Freiheit? Und konstatiere bei mir selbst womöglich ein bürgerliches Sicherheitsdenken, das in der Kunst wenig zu suchen hat. „Ein Lob der Ungewissheit“ – zweifellos brauche ich dafür vor allem Geduld.

Ziemlich irritierend schon auf den Seiten 32/34, wenn davon die Rede ist, dass nur ein winziges Publikum das »Köln Concert« von Keith Jarrett am 24. Januar 1975 live in der Oper Köln erlebt hat, dass es dann auf der nächsten Seite heißt: „Niemand, der in der Kölner Philharmonie zugegen war, und niemand, der die Musik von der Aufzeichnung her kennt“ – (Eröffnung der Philharmonie bekanntlich 1986).

(Fortsetzung folgt – nach weiterer Lektüre)

Geduld! Nach einem Tag Lektüre weiß ich, wie dehnbar der Begriff „Improvisieren“ ist, die Musik fehlt mir immer mehr. Ein großartiger Effekt, – keine improvisierten Sprengkörper mehr, keine improvisierenden Chirurginnen, keine verfehlte Klimapolitik, aber viele nützliche Anregungen zum Weiterdenken, z.B. eine neue Orientierung an den zum Jazz führenden Links – und an den wenigen, hier ausgesparten Klassikern des Nachdenkens über Improvisation, z.B. den, auf den Georg Knepler schon 1969 hinwies, als der Jazz offenbar noch nicht zur Debatte stand, Ernst Ferand: Die Improvisation in der Musik / Eine entwicklungsgeschichtliche und psychologische Untersuchung / Rhein-Verlag Zürich 1938:

Ich werde dazu einen Extra-Artikel versuchen, übend und mit Bangen improvisierend. Und was für eine Herausforderung wäre es erst, die ausgefeilte Methodik der indischen Improvisation darzustellen, absolute Voraussetzung: „Riaz“ – die strenge Disziplin des Übens. Eine globale Welt der Improvisation, angedeutet in den wenigen Zeilen:

Entscheiden Sie doch bitte: was ist im folgenden wunderbaren Beispiel komponiert, was improvisiert?

Zurück zum Jazz: Im Anmerkungsteil des Büchleins findet man auf der ersten Seite zwei unglaubliche Webadressen: ein Wunderland der sichtbar gemachten Musik, Transkriptionen und der klingenden Beispiele. Eine Datensammlung „von knapp 500 digital gespeicherten, monophonen Soli. Sie lassen sich online auf ihre Strukturen hin analysieren.“ Zitat Anmerkung 3. / Hier ein winziger Einblick:

Zugang hier

Die zweite Web-Adresse ist für Laien (wie mich) vielleicht noch aufregender: eine Liste von tausend Jazz-Standards zum Sehen, Hören, Lernen. Ein sensationeller Zugang, eine Verlockung, ein Suchtmittel, ich finde keine Worte für ein solches Angebot!

Zugang hier Zugang hier

Mit einem Schlag ändert sich mein Blick auf dieses unscheinbare Reclam-Heft: was mag mir noch entgangen sein, an diesem Tag und in meinem bisherigen Leben? Kaum zu glauben: 6 € für eine Essaysammlung und den Gratis-Zugang zu zwei Schatzkammern der Jazz-Geschichte!

*    *    *

Ja, noch etwas liegt mir am Herzen (seit gestern Mittag 18. Dezember bei Mamma Rosa): eine schmale, aber gewichtige, hinreißend geschriebene Monographie über den Pianisten Walter Gieseking. Sie stammt aus der Feder eines ehemaligen Kollegen (Redakteur im WDR und SWR):  Rainer Peters. Und wie spannend er zu erzählen weiß, habe ich nicht nur bei vielen gemeinsamen Eisenbahnfahrten zum Arbeitsplatz in Köln genossen, sondern auch in seinen Moderationen zur Neuen Musik oder in den glänzenden Essays zur Einführung der Bartók-Kammermusik-Reihe im WDR-Funkhaus. Seine wissenschaftliche Akribie bewies er in geradezu gewaltigen Werken über den Komponisten Bernd Alois Zimmermann (siehe hier und hier). Rainer Peters wusste ALLES über die Geschichte der Neuen Musik, Lieblingsthema damals die Wiener Schule und ganz besonders: Alban Berg. Das Buch von Soma Morgenstern war gerade herausgekommen. Und heute – in einem weiten Sprung zurück, lange vor Beginn unseres Studiums und der gemeinsamen Arbeit in Köln – erinnert er mich an die Erschütterung, die der Tod Giesekings 1956 bei meinem Vater auslöste. In dessen Bücherschrank hatte ich damals gerade die unauffällige Schrift über die Methode Leimer-Gieseking entdeckt, um dann – auf ein Wunder hoffend – mit Bachs E-dur-Stück eine Probe aufs Exempel zu versuchen: leider strandete ich auf ganzer Linie, aber immerhin: die ersten Takte sitzen bis heute, und zwar im Kopf, nicht unbedingt in den Fingern. Ich ahnte allerdings, dass dem Gedächtnisgenie Gieseking nicht mit einer bestimmten Lehrmethode beizukommen war…

(bitte anklicken)

1953 (ist das nicht  James Dean? was hat er dort zu suchen? „auch das Schöne muss sterben „…)

Das Buch von Rainer Peters umfasst auch eine wunderbare Auswahl alter Fotos und endet ebenfalls mit James Dean: er sitzt gemeinsam mit Gieseking am Klavier, beide habe je eine Hand auf den Tasten und wenden sich einer fröhlichen Runde zu, – wenn man den mit Gläsern und Flaschen bedeckten Tisch im Vordergrund so deuten kann. In der Tat, es ist wohl derselbe Gästetisch, den man oben auf dem Youtube-Video in der Gegenrichtung sieht, mit den beiden Protagonisten vor oder nach der pianistischen Kollaboration.

Ich möchte mich von diesem Thema nicht trennen, ohne Ihnen einen Blick in das Verlagsprogramm zu bieten, in dem allerhand musikalische Kostbarkeiten dieser Art versammelt sind: HIER.

Irritation durch Bach

Was mich „am Laufen “ hält

Sonate für Violine solo, letzter Satz, BWV 1001 Presto

Vorher: Anleitung für Geigenschüler*innen [mich selbst] zum Üben mit Motiven!

Die unten im Notentext eingetragenen Bindungen habe ich von Dadelsen BJB 78 S.108

Beschreibung des Problems (Einwand: genügt es nicht, einfach nur zu spielen?)

Wozu also überhaupt diese – nicht einmal vollständige – Abschrift? (z.B. fehlende Takte Blatt II, rechter Rand +4). Das Prinzip war schlicht, Parallelbildungen leichter aufzuspüren; sie liegen ja auf der Hand, aber man sollte sie sozusagen räumlich erfassen können, wie ein Lego-Gebilde. Nur eins sehe ich nicht als Weg zur Lösung: Noten und Takte zählen. Obwohl 4-Takt-Gruppen natürlich eine Rolle spielen. Kontinuierliche Sechzehntel von Anfang bis Ende in beiden Teilen, und durchaus gegliedert, denn auch in solchen „Laufsätzen“ gilt: nicht 16tel = 16tel, sondern was Clemens Kühn schreibt (vgl. ihn auch hier):

Aus rhythmischen Kräften gewinnt Bachs Musik ihre Motorik. Motivische Kräfte bestimmen ihre Linearität. Beide Momente, das Motorische und das Lineare, treffen sich im Formprinzip der barocken Fortspinnung: der – eher lockeren, forttreibenden – Anknüpfung von Motiven und Teilen.

Im Fall einer Arie (»Bereite dich, Zion«) schreibt derselbe Autor:

Die Ausdehnung der drei Formglieder gehorcht keiner Norm (…). Ihre Proportion ist also nicht dem Prinzip des Gleichgewichts verpflichtet. Zwar zeigt das Bach-Ritornell ein ausbalanciertes Verhältnis von 8 (=4+4)+4+4 Takten. Doch ist dies kein wesenhaftes Merkmal des Fortspinnungstypus. Zum Vergleich studiere man das Ritornell der Arie »Ach, mein Sinn« (Nr.19 aus Bachs ›Johannes-Passion‹: 8 Takte Vordersatz, 5 (2+2+1= abgespaltener Takt) Takte Fortspinnung, 3 Takte Epilog; oder aus der ›Matthäus-Passion‹ »Aus Liebe will mein Heiland sterben« (Nr. 58): Hier ist das Verhältnis 4+7+2 Takte.

Quelle Clemens Kühn: Formenlehre der Musik /dtv/Bärenreiter 1987 Seite 42 u 45

Ich hebe das hervor, weil man beim Violin-Presto leicht auf die Idee kommt, nach einem Symmetrie-Prinzip zu suchen, da es sich beim Üben geradezu aufdrängt, – allerdings nur sporadisch, am Anfang und am Ende der Teile.

Am Anfang: den Takten 1-8 entspricht deren Umkehrung in den Takten 55-62 , jedoch den Takten 9-16 entspricht erst der Achttakter ab Takt 67, deshalb steht am Ende der ersten Zeile Blatt II der Hinweis +4.

Am Ende: der letzten Zeile auf Blatt I entspricht ziemlich genau die letzte Zeile auf Blatt II, aber im Zwischenbereich wird die Zuordnung schwierig. Es geht offensichtlich nicht um berechenbare, voraussehbare Symmetriebildungen.

Inhaltlich geht man nie fehl, sich von den Kantaten und Passionen inspirieren zu lassen, in unserm Fall etwa auf die folgenden Arien des Laufens, Nachfolgens, Eilens zu schauen, zumal sie auch motivisch und in der Tonart nahe liegen:

„Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten“

„Eilt, ihr angefocht’nen Seelen“

Übung: Spiele die 16tel-Linien, – aber auch mit „geigerisch“ angepassten Phrasierungen.

Es scheint mir kein Zufall, dass die Sechzehntel-Finalsätze der Bach-Solosonaten und insbesondere der hier vorliegende, von einem Geiger ganz anders charakterisiert wird als von einem Komponisten:

Die Sätze leben von der rastlosen Bewegung, vom Reichtum an verschiedensten Figuren, ihrer auf weite Strecken wellenförmigen Bewegungsart und den aus der differenzierten Faktur der Figuration und unterschiedlicher Bogensetzung resultierenden vielgestaltigen Artikulationsweisen. Sie sind gleichsam Gegenbild und Ergänzung zu ihren Vorgängersätzen in ruhigerem Zeitmaß.

Das Presto der ersten Sonate tendiert durch seine ungerade, auf dem Achtelwert als Grundeinheit beruhende Taktart (3/8) ins Tanzartige, nähert sich italienischer Giga und Corrente an.

Quelle Bernhard Moosbauer Bärenreiter Werkeinführungen S.72

Der Komponist Hans Vogt:

Es ist ein Unterschied, ob man die Varianten quasi buchhalterisch zur Kenntnis nimmt, oder ob man die musikalische Wirkung einer Steigerung wahrnimmt, die durch die Inszenierung der Varianten entsteht. Die Dramatik der Artikulation, die sich glücklicherweise in Bachs originaler Bogensetzung ablesen lässt: die doppelten Zweier-Bindungen, die Dreier-, Vierer- und Fünfer-Bindungen (ab Takt 32), die synkopische Schwerpunkte hineinzaubern (ab Takt 117) , Siebener-Bindungen (Takt 59 und 63), „reguläre“ Sechserbindungen (Takt 75 ff) wie in der Arie „Ich folge dir gleichfalls“. Die schöne Motivtafel bei Vogt lässt das schon ahnen. Es ist eigentlich eine typisch geigerische Dramatik, aber keine Tanzmeister-Agogik:

Quelle Hans Vogt: Bachs Kammermusik Reclam S.166

Um an dieser Stelle einen Schritt weiterzugehen, vergleiche man das weiterführende Sept-Akkord-Motiv im Teil I mit der Variante im Teil II, deren Einsatz ich vorläufig als „Reprise“ bezeichnen möchte (obwohl das Sept-Akkord-Motiv in Teil II ab Takt 67 bereits wörtlich wiederaufgenommen worden ist):

Es ist deutlich komplexer geworden und dabei auch längenmäßig gewachsen. Der neu „gefaltete“ g-moll-Dreiklang hat zudem mit dem erstmalig prominent wieder eingesetzten hohen b“  einen Wiederkehr-Charakter von Teil I mit den Takten 1-9f… Es ist aber mehr als eine Reprise, es ist eine Überbietung! Was sich auch in dem zeigt, was ihm kontrastmäßig vorangestellt wird und noch mehr in dem, was ihm nachfolgt.

Der „verkehrte“ (umgekehrte) Anfang von Teil II (gegenüber dem „Original“ von Teil I) wird wieder aufgegriffen mit der aufsteigenden Form des F-dur-Dreiklangs in Takt 83, dessen Beantwortung ab Takt 87 mit Weichenstellung in Richtung g-moll gegeben wird. Zugleich sei bedacht, dass der F-dur-Ansatz  mit dem aufsteigenden Es-dur-Ansatz in Teil I Takt 17 korrespondiert. (So neu war also die Umkehrung zu Beginn des Teils II gar nicht!)

Es kann nicht schaden, zwischendurch ohne alle Vorbelastung das Werk zu hören. Nocheinmal… nichtsalsdas…: Hören! Hören! Hören!

Nun könnte jemand sagen: für eine Reprise ist mir der Beginn dieses neuen Teils zu wenig „spektakulär“, – obwohl er diesen „versteckten“ Reprisenbeginn aus dem einleitenden Adagio derselben Sonate kennen müsste: anstelle des vierstimmigen Akkordes am Anfang des Taktes 14 mit dem c“ und der absteigenden melodischen Molltonleiter.

Man bedenke nur die Formenvielfalt der Präludien, die Christoph Bergner in seinen Studien zum Wohltemperierten Klavier so übersichtlich dargestellt hat; man kann es sozusagen als „Mustersammlung“ von Bachschen Formen überhaupt betrachten:

auf der nächsten Seite folgt noch 2.3. Die Spielpräludien: Cis-Dur, g-Moll, C-Dur, d-Moll, G-Dur

Ich denke bei unserm Presto am ehesten an das Präludium D-dur BWV 850 und sehe es unter 1.5. eingeordnet = „die periodisch freien Präludien“. Was natürlich nicht bedeutet, dass da periodisch sich gar nichts abspielt. Im Gegenteil, man erkennt die Reprise auf Anhieb, sie steht in der Subdominante: siehe hier, Noten Blatt II ab Takt 20. Interessanterweise bestand eine frühe Fassung dieses Präludiums (im Klavierbüchlein für Wilhelm Friedemann Bach) nur aus 20 Takten. Alfred Dürr beschreibt den möglichen Ablauf des weiteren Komponiervorgangs, und alles entwickelt sich aus den ersten – 2 mal 4 – Tönen des ersten Taktes.

Quelle Alfred Dürr: J.S.B. Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel etc 1998 / S. 124

1. Assoziation: Man scheue sich nicht zu akzeptieren, dass Bach zuweilen „stückchenweise“ komponierte, – er wusste natürlich, wie sich auf diese Weise mehr daraus machen ließ,  er hat auf diese Weise ja sogar Fugen verdoppelt (Beispiel BWV 886), und es lässt sich nicht leugnen, dass das Wesentliche erst in der neuen Hälfte, also der erst später konzipierten, zum Vorschein kam.

2. Assoziation: Da ich mir gerade die rechte Hand dieses Klavier-Praeludium als Übe-Material für die rechte und die linke Hand zurechtgelegt habe, bin ich gewohnt, es ausdauernd ohne Bass-Stimme zu spielen – und habe festgestellt: es fehlt mir (fast) nichts. Alle Modulationen sind auch ohne Bass völlig einleuchtend. Insofern kam mir Nadja Zwieners Bemerkung zu Corellis Solissimo-Violin-Präludium zupass, die Sie im Artikel hier gegen Ende finden (rot markierter Satz).

(Fortsetzung folgt)

Muss es sein?

Die Aus(f)lösung der ganz großen Themen

Die Gegenfrage „Geht’s nicht eine Nummer kleiner?“ kann einen schachmatt setzen, und ich stelle sie mir gern ungefragt, verweise zum Ausgleich darauf, dass ich doch oft genug auch ziemlich detailversessen bin. Aber es bleibt ein kaum zu beschwichtigender Argwohn, dass es Reste des 19. Jahrhundert sind, die darauf zielen, mich auf die ganz großen Themen zu fixieren (Besitzergreifung, Kolonialisierung), vielleicht sogar eine latent faschistische Ideologie. Musterbeispiele: Faust II, Jahrtausendkünstler Michelangelo (500 Seiten), Auf der Suche nach den Kulturen Altamerikas (500 Seiten), „Drumming in Bhaktapur“ Nepal (700 Seiten) und diese CD „Senza Basso – Auf dem Weg zu Bach“ (Total Time 65’57),  ein Kunstwerk sui generis.

Fast wie in den 50er Jahren, als ich allmählich aufwachte. Die ersten großen Entwürfe, denen ich aufsaß oder die ich missverstand, Nietzsche mit seinen Fragmenten vielmehr Aphorismen, deren Generalformel „Der Wille zur Macht“ hieß (finalisiert vom Nazi Alfred Bäumler). Wie vorher schon der undurchsichtige Begriff von der „Welt als Wille und Vorstellung“ seines „Erziehers“ Schopenhauer. Dann etwa Oswald Spengler mit seinem „Untergang des Abendlandes“, den ich mir einige Jahre später durch die Toynbee-Lektüre „Gang der Weltgeschichte“ nobilitierte, endlich noch Jared Diamond und der „Kollaps“ aller Kulturen.

Aber nun zu guter letzt, sensationell aktuell: Warum hat mich Sarah Connor so irritiert, mit ihrem Singsang, – oder war es vielmehr ihr Lobredner Giovanni di Lorenzo, der Chef der ZEIT, der im Rahmen von „3nach9“ jede journalistische Skepsis vermissen ließ? Vielleicht für einen guten Zweck und eine oft verkannte Krankheit (Depression), dürfte ein öffentlich-demonstratives Weinen trotzdem als geschmacklos aufgefasst werden? Man tauche nur ein in diese Atmosphäre der Zustimmung, ich reagiere nur kritisch, weil mehrfach insinuiert wird, es handle sich um Kunst, und diese Auffassung habe die Sängerin mit vielen Künstlern gemein: „sie öffnen ihre Herzen, das ist unsere Währung“, sagt ein Gast. Ist dabei nicht allzu viel Heuchelei im Spiel? Interessant, dass die Protagonistin selbst eine Verbindung zum Schauspielen herstellt. Seltsam auch, dass der Moderator listig fragt, ob sie denn nicht mehr dazu neigt, „die Sau rauszulassen“ (wie früher) – und sie weiß sofort, was er meint, verweist aber auf ihre 4 Kinder. Kein Wunder, dass sie Apnoë-Tauchen liebt, jetzt auch noch gemeinsam mit Orkas vor Norwegens Küste. Möglicherweise hört man von solchen Hobbys sonst nur noch in der Düsseldorfer Schickeria.  – Hier ist der Link zur Talkshow, der Einstieg wäre bei 1:34:58 (bis Ende bei etwa 1:40:00).

(Für weitere Studien siehe hier, insbesondere im Video, das über eine lange Strecke redundantes Trauergemurmel bietet, bis sich endlich eine Gestik materialisiert und mit taktilen Phantasien zu spielen beginnt, ab 2:40)

Soweit diese Aufbauschung schauspieltechnisch erzeugter Gefühle, – lesbar als gewagtes Experiment eines vergangenen, galanten Zeitalters, – als auch viel geweint wurde -, und ahnungslos wiedererweckt als neue, archaische Intensität. Man ist so abgestumpft, dass man nur in der grotesken Übertreibung wahrnimmt, was ungefähr gemeint ist. Es heißt dann oft: „authentisch“.

Allerdings ist es gar nicht so überraschend, dass kluge Menschen besonders bei musikalischen Themen gedanklich (geschmacklich) einbrechen. Man sollte darauf nicht herablassend reagieren, – aber man darf wohl auch Rezipienten warnen, die vielleicht nur unsicher sind und jeden Strohhalm ergreifen, wenn er von respektablen Menschen gereicht wird. Es bleibt eine Missachtung der Musik, die sich öffentlich manifestiert, – es sollte Aufklärung oder zumindest Widerspruch geben. Frühere Versuche in diesem Blog etwa sind nicht unnütz, auch nicht hämisch zu verstehen: hier („Wie Laien über Musik reden“).

Grundsätzlich: es geht um die schon im 18. Jahrhundert gestellte (und widerlegte) Behauptung, man könne andere nicht rühren, ohne selbst gerührt zu sein! Man glaubt, sie sei neu, und es gehe immer wieder darum, die anderen Menschen, die einem zuhören, auf diese Weise zu fesseln, spontan, rückhaltlos, durch einen Akt der  Selbstentfesselung, Selbstentblößung. In weitem Sinne populistisch. Und wer das nicht mitmacht, gilt schnell als ein verblendeter, verkopfter, frigider Theoretiker, der sich und andere vom prallen Leben abzuspalten sucht. Zugegeben, gerade ein solcher hat mich vor 55 Jahren fasziniert, als ich ansonsten von hochromantischer Musik begeistert war, aber ebenso von Ambivalenzen aller Art; in bin ihm bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik persönlich begegnet, Carl Dahlhaus:

Quelle Carl Dahlhaus: Musikästhetik / Musikverlag Hans Gerig Köln 1967

Ist das nicht wie ein Stich ins Herz, wenn man als Musiker/in oder als unbescholtener Privatmensch gesagt bekommt, dass Intensität (des Ausdrucks) nicht selten mit Primitivität erkauft werden muss? (a.a.O. Seite 32). Immerhin hat mich der Unterschied zwischen der empirischen Privatperson und dem „lyrischen Ich“ auch damals schon interessiert (a.a.O. 36). Siehe auch hier. Man erkennt an den Lesespuren: ich habe alldas nur registriert, nicht kritisiert. (Begründete Kritik an dem Wissenschaftler Dahlhaus kenne ich durchaus – seit 2005). Obwohl ich auch Alte Musik ernst genommen habe, als sei sie zeitgenössisch – wie Sarah Connor. Heute nehme ich „alles“ ernst. Und reagiere deshalb auf sie genau so wie auf ein Statement aus der Alten Musik, aber aus ganz anderen Gründen und hier nicht kritisch, sondern amüsiert:

Gunar Letzbor

Was ist denn das für ein Naturbild? Wo soll denn wohl „der Pop“ stecken? Wo dagegen die „kulturellen Ideen“? Denkt man hier draußen vielleicht daran, den Ball ganz flach zu halten? Oder lieber an die Kunst des Bogenschießens? An die „Feinde der Kultur“, die hinter den Sträuchern lauern? An die Stille und die Leere des Himmels im Zen? An die Kunst des klaren Denkens? Genau. Jederzeit anwendbar, auch wenn es nur um Musik geht…

Gestern Abend Krüdersheide

Offener Himmel über dem Schlösschen

Erinnerung

Jugendliche realisieren weithin das Ideal der Coolness, sie zeigen nicht, wenn sie getroffen sind. Wir leben andererseits in einer Zeit, die es mehr und mehr angebracht findet, die „Echtheit“ von Gefühlen durch Tränen zu unterstreichen. Wie das möglich ist, diese willentlich hervorzurufen, weiß ich nicht; es genügt offenbar sich vorzustellen, dass man sehr bemitleidenswert wirkt, – schon kommen die Tränen aus Selbstmitleid.   Man schaltet auf Außenperspektive und reagiert wie bei der Betrachtung eines Films, wo oft sogar unmissverständliche Signale gegeben werden, wenn es angebracht ist zu weinen. Oft genügt es, einen anderen, mit dem man sich identifiziert hat, weinen zu sehen. Das ist eigentlich auch ein Paradox, man nennt es allerdings „Empathie“ (und versetzt sich ins Innere des Anderen, also in dessen Innen- und Introperspektive).

Angenommen: Ich sehe, dass Sarah Connor mit den Tränen kämpft, und beginne selbst mit den Tränen zu kämpfen. Dann sehe ich Anzeichen, dass sie Wert darauf legt, dass wir es bemerken; sie bittet vielleicht ausdrücklich darum, dass man ihr die Tränen verzeihen möge, es sei ihr peinlich. Sie kann nicht mehr sprechen. Oder tut so. Als ob. Und nun wird mir diese Hervorhebung immer peinlicher, man nennt es fremdschämen usw.  – ein circulus vitiosus. Beethoven riskiert, dass seine grüblerische Frage „Muss es sein?“ am Anfang des Streichquartetts op.135 umkippt ins Komische, wenn vielmals und immer wieder die Antwort kommt: „Es muss sein, es muss sein!“ – Ich muss leider auch an meine Mutter denken, die immer so leichthin vom „Reinmenschlichen“ sprach, auf das es allein ankomme…

Fiktion und Gefühle

Auch bei Dahlhaus (oben a.a.O. Seite 38) war von einem Paradox der Ausdruckskunst die Rede. Ist dasselbe gemeint wie bei Diderot? Ein paar Seiten weiter stoße ich auf Kant, von dem Dahlhaus sagt, seine Ästhetik sei nicht primär als Kunsttheorie zu begreifen. „Die Schönheit der Natur, nicht die der Kunst, ist das Phänomen, von dem die Kritik der Urteilskraft ausgeht; und die Übertragung der am Naturschönen entwickelten Kategorien auf Werke der Kunst gelingt nicht ohne Schwierigkeiten. [Achtung, jetzt geht es um mich!] ‚Begriffsloses‘ Hören einer Fuge krankt an Mängeln, die durch das Geschmacksurteil, das Stück Musik sei schön, nur ungenügend ausgeglichen werden.“ (Dahlhaus Seite 54 f – oben nicht wiedergegeben . Extra-Artikel?)

P.S. Dieser Artikel entstand am 15. Oktober, ich hatte ihn zurückgezogen und jetzt restituiert, weil er in mancher Hinsicht doch „passt“.

Um alles in einer größeren Zusammenhang zu stellen: siehe dort, wo es im Warburg-Artikel auftaucht, Erster Zugang, dort Erhard Schüttpelz in Episode 1, Film ab 12:14 über Pathosformel, über Leidenschaften, aber technisch: „Si vis me flere, dolendum est primum ipsi tibi“, siehe Dahlhaus Ästhetik S.36 hier. Der lateinische Satz stammt von Horaz „Ars poetica“ V.102.

(Ich hatte diesen Artikel vom 16. Oktober zwischenzeitlich in den Papierkorb befördert  – weil ich Skrupel bekam – und habe ihn jetzt wieder hervorgeholt, wegen Philipp Emanuel Bach, nicht wegen Sarah Connor…)