Lotte in Weimar

Angekommen im 7. Kapitel…

…habe ich endlich meinen Frieden gemacht mit diesem Werk, gegen das ich immer wieder neuen Widerstand entwickelte. Als ich kapierte, dass nun Goethe selbst das Wort hat und wie täuschend ähnlich und bewundernswert souverän er getroffen ist, wusste ich, dass ich die Lektüre wohl doch nicht mehr aufgeben kann. Ich werde sogar die seltsamen Passagen über das Alter und die Jugend abschreiben, um sie mir vergleichend anzueignen oder abzuweisen, als habe ich bisher nur den Mut nicht gehabt, so groß von mir zu denken. Ist es gute Prosa? Oder soll sie dem „corrosiv angehauchten“ Altersgefühl entsprechen?

Erst heute kam ich auf die naheliegende Idee, Wikipedia zu konsultieren, nachzusehen, ob die Kapitel inhaltlich näher beschrieben seien. Hervorragend! Überhaupt alles lesenswert, gerade wo es um die Wirkung in Deutschland geht, z.B. nach den Nürnberger Prozessen, die Verwechslung der Thomas-Mann-Erfindung mit dem echten Goethe durch den britischen Botschafter. Die Richtigstellung der bekannten (und oft memorierten) Äußerung, er habe noch von keinem Verbrechen gehört, das er nicht habe begehen können.

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ZITAT (Ein Blick aufs Alter – damals)

Da ist mir die morgenfreundliche Laune getrübt und corrosiv angehaucht von ärgerlichem Sinnieren -! Wie stehts denn überall? Was ist mit dem Arm? Tut als brav weh, wenn ich ihn hintüberlege. Immer denkt man, die gute Nacht wirds bessern, aber es hat der Schlaf die alte Heilkraft nicht mehr, muß es wohl bleiben lassen. Und das Ekzem am Schenkel? Meldet sich auch zur Stelle mit gehorsamstem Guten Morgen. Weder Haut noch Gelenke wollen mehr mittun. Ach, ich sehn mich nach Tennstedt zurück ins Schwefelwasser. Früher sehnt ich mich nach Italien, jetzt in die heiße Brühe, daß sie die verhärtenden Glieder löse: so modificiert das Alter die Wünsche und bringt uns herunter. Es muß der Mensch wieder ruiniert werden. Ist aber doch ein groß, wunderbar Ding um diesen Ruin und um das Alter und eine lächelnde Erfindung der ewigen Güte, daß der Mensch sich in seinen Zuständen behagt und sie selbst ihn sich zurichten, daß er einsinnig mit ihnen und so der Ihre wie sie die Seinen. Du wirst alt, so wirst du ein Alter und siehst allenfalls mit Wohlwollen, aber geringschätzig auf die Jugend herab, das Spatzenvolk. Möchtest du wieder jung und der Spatz sein von dazumal? Schrieb den ›Werther‹, der Spatz, mit lächerlicher Fixigkeit, und das war denn was, freilich, für seine Jahre. Aber leben und alt werden danach, das ist es erst, da liegt der Spielmann begraben. All Heroismus liegt in der Ausdauer, im Willen zu leben und nicht zu sterben, das ists, und Größe ist nur beim Alter. Ein Junger kann ein Genie sein, aber nicht groß. Größe ist erst bei der Macht, dem Dauergewicht und dem Geist des Alters. Macht und Geist, das ist das Alter und ist die Größe – und die Liebe ists auch erst! Was ist Jugendliebe gegen die geistige Liebesmacht des Alters? Was für ein Spatzenfest ist das, die Liebe der Jugend, gegen die schwindlichte Schmeichelei, die holde Jugend erfährt, wenn Altersgröße sie liebend erwählt und erhebt, mit gewaltigem Geistesgefühl ihre Zartheit ziert – gegen das rosige Glück, worin lebensversichert das große Alter prangt, wenn Jugend sie liebt? Sei bedankt, ewige Güte! Alles wird immer schöner, bedeutender, mächtiger und feierlicher. Und so fortan!

Das heiße ich sich wiederherstellen. Schaffts der Schlaf nicht mehr so schafft es der Gedanke. Schellen wir also nun dem Carl, daß er den Kaffee bringt; ehe man sich erwärmt und belebt, ist sogar der Tag nicht einzuschätzen und nicht zu sagen, wies heute um den Guten steht. Vorhin war mir, als wollt ich marode machen, im Bett bleiben und alles sein lassen.

Quelle Thomas Mann: Lotte in Weimar / Fischer Frankfurt am Main 1990 (Seite 260f)

Etwas ziellos in meiner Bibliothek, – ah, was ich noch bedenken sollte: was Katja Mann und die Tochter Erika zu „Lotte in Weimar“ gesagt haben…

↑ Fischer Frankfurt am Main 1988 (1976)

↑ Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1996