Zur folgenden Aufnahme: die richtige Schreibweise des Ensembles ist „Cantus Cölln„.
Die Einzeltitel sind weiter unten in „Disc 1“ und „Disc 2“ aufgelistet. Dort sind inzwischen auch die Anfangszeiten eingetragen, damit die Titel exakt auffindbar sind. Die folgende Liste stammt aus dem Wikipedia-Artikel „Altbachisches Archiv“ (s.o.). Hinzugefügt ist jeweils die Position auf den Quell-CDs.
Unser Leben ist ein Schatten. Choralmotette für sechsstimmigen Chor und dreistimmigen Fernchor Disc 2 – 4
Sei nun wieder zufrieden. Motette für achtstimmigen Doppelchor Disc 2 – 12
Nicht näher bezeichnete Komponisten
Nun ist alles überwunden. Aria für vier Stimmen, Adam Drese (1620–1701) zugeschrieben Disc 1 – 4
Ich lasse dich nicht. Motette für zwei vierstimmige Chöre mit B.C. Disc 2 – 14
Weint nicht um meinen Tod. Aria für vier Stimmen Disc 1 – 9
Disc: 1
1. Die Furcht des Herren, cantata (previous attrib. to Johann Christoph Bach)
2. Motet ‚Lieber Herr Gott‘, for 8 voices ab 9:06
3. Wie bist du denn, O Gott, vocal concerto !!! ab 12:17
4. Nun ist alles überwunden, aria for SATB & continuo ab 24:06
5. Es erhub sich ein Streit, vocal concerto ab 27:38
6. Ich weiss, dass mein Erlöser lebt, motet for 5 voices ab 36:13
7. Auf, lasst uns den Herren loben, for alto, strings & continuo ab 37:59
8. Motet ‚Unsers Herzens Freude‘, for 8 voices 42:14
9. Weint nicht um meinen Tod, aria for SATB & continuo !!! ab 49:40
10. Meine Freundin, du bist schön, vocal concerto, for 4 voices & instruments ab 53:35
Disc: 2
1. Motet ‚Herr, nun lässest du deinen Diener‘, for 8 voices ab 1:20:11
2. Herr, wende Dich und sei mir gnädig, vocal concerto ab 1:33:07
3. Motet ‚Der Gerechte, ob er gleich zu zeitlich stirbt‘, for 5 voices ab 1:37:37
4. Unser Leben ist ein Schatten, motet
5. Ach, wie sehnlich wart ich der Zeit, aria, for soprano, strings & continuo ! ab 1:44:21
6. Herr, wenn ich nur Dich habe, motet, for 5 voices ab 1:49:25
7. Siehe, wie fein und lieblich ist es, vocal conc., for 2 tenors, bass & instr. ab 1:52:40
8. Mit Weinen hebt sich an, aria, for four voices & continuo ab 1:59:53
9. Ach, daß ich Wassers genug hätte, vocal concerto ab 2:05:05
10. Motet in eight voices ‚Nun hab ich überwunden‘ ab 2:12:21
11. Es ist nun aus, aria for 4 voices & continuo ab 2:16:00
12. Sei nun wieder zufrieden meine Seele, motet (poss. by Jonas de Fletin) ab 2:20:20
13. Das Blut Jesu Christe, motet for 5 voices ab 2:23:47
14. Ich lasse dich nicht, motet for double chorus (after Johann Christoph Bach), BWV Anh. 159 (BC C9) ab 2:27:05 (Ende 2:30:54)
Soviel zur Gesamtaufnahme mit Cantus Cölln, Leitung Konrad Junghänel. Siehe auch die Übersicht mit Komponistennamen und Einzelzeiten bei Discogs HIER. (Auch die Interpretenliste, unter „Viola“ findet man z.B. den Namen Volker Hagedorn.)
Die Aufnahmen „Alt-Bachisches Archiv / Cantatas by Members of the Bach Family“ (1986) mit Reinhard Goebel sind bei Spotify zu hören:
Interpreten: Maria Zedelius, Ulla Groenewold, David Cordier, Paul Elliott, Michael Schopper, Musica Antiqua Köln, Rheinische Kantorei, Hermann Max, Andreas Staier
Daraus auch die erste der folgenden Youtube-Wiedergaben:
„Siehe, wie fein und lieblich“ (Georg Christoph Bach )
Siehe dazu: Volker Hagedorn „Bachs Welt“ Seite 239 f
Des weiteren: „Unser Leben ist ein Schatten“ (Johann Bach) Seite 251 f
„Herr, wenn ich nur dich habe“ (Johann Michael Bach) Seite 254 f
LAMENTO „Wie bist du denn, o Gott, in Zorn auf mich“ (Joh. Christoph Bach) Seite 260 ff
Die Suche nach diesen jetzt einzeln abrufbaren Werken ergab sich bei der Lektüre des Buches „Bachs Welt“ von Volker Hagedorn. Speziell im Laufe der Kapitel 5 und 6, die ich ehrlich gesagt, ohne Musik nicht durchgestanden hätte. Jetzt weiß ich auch, warum ich als Jugendlicher bei Mosers Musikgeschichte fast verzweifel bin: bei aller Liebe, sie hatte keinen Klang…
Meine Unterstreichungen enden kurz vor Bach, – vielleicht, weil ab hier echte Klangvorstellungen jede Theorie überlagerten. Auf der Geige mit dem a-moll-Konzert und am Klavier immerhin mit Anna Magdalenas Notenbüchlein.
Andererseits war mir desselben Verfassers Bach-Buch (1935!) im Bücherschrank meines Vaters zugänglich. Ob ich gemerkt habe, welche Art von Sprachlust sich da spreizte? Gefährlich, weil er zudem allwissend schien. Ich kannte durchaus den N.S.D.A.P.- Stammbaum unserer Familie, fand ihn nützlich und vermerkte, dass da auch ein Mühlenbesitzer am Anfang stand. Und im Jahre 1935 (5 Jahre „vor mir“) war zufällig auch das Altbachische Archiv im Notendruck herausgegeben worden. Eine klingende Umsetzung könnte Moser, der Zugang zu den Quellen hatte, hier und da schon erlebt haben.
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3 Monate später:
Ich habe sie verschlungen. Und lange Zeit hat mir niemand verraten, dass es ein Fake war. Ein gut gemachter und gemeinter.
Um aber diesen Blogeintrag, der zweifellos auch von öffentlichem Nutzen ist, noch einmal mit meinem privaten Leseverhalten zu verbinden, informiere ich hier ebenfalls gern über die Zusatzlektüre, die gestern dank Amazon-Hilfe zu geringen Kosten bei mir eingetroffen ist (14,23 € für über 600 Seiten Lesestoff, darüberhinaus eine neue Amazon-Mail, die mich über „Das arabische Alphabet für Kinder“ und weitere Lehrbücher zur arabischen Sprache informiert. Das ist sehr aufmerksam, vermutlich liest die Geschäftsleitung Amazon diesen Blog und bestätigt ungefragt den oben erwähnten öffentlichen Nutzen!)
Ich will verraten, welches Kapitel ich mir als erstes vornehme: 5 The Mechanics of Faith, Wohl wissend, dass viele Menschen, die gutwillig einige Musiken dieses Blogbeitrags anklicken und Bachs Brandenburgische Konzerte lieben, seit Jahrzehnten keine Kirche mehr von innen gesehen haben. Ich aber bin der Meinung, dass neben der Tatsache der Gewaltenteilung und der Trennung von Kirche und Staat auch die Unterscheidung von Musik und Glauben heute eine Notwendigkeit ist, was aber zur Zeit Bachs ganz anders gesehen wurde. Das bedeutet für uns, dass wir durchaus auf diese Sichtweise mit Empathie, ja Sympathie eingehen, ohne aber die große Philosophie jener Zeit verraten zu müssen, die erst in KANT ihren BACH gefunden hat.
Ich lese weiterhin in Volker Hagedorns Buch, das von Fakten und Materialien überquillt, wie eben „Bachs Welt“ (siehe schon hier) und die seiner Väter und Vorfahren, zugegeben: nicht immer kontinuierlich, habe mir notiert „Joshua Rifkin (Seite 123)“, weil ich ihn seit 1965 in Darmstadt kenne (aber er mich nicht), auch seine Arbeit mit (kleinbesetztem) Bach verfolgt habe (wie die von Andrew Parrott), und dann stoße ich heute wiederum auf ihn, als ich nach der Kantate suche, deren Titel oben geschrieben steht. Ich lese das Kapitel 4: DIE HOCHZEIT / Wie sich siebzig Bachs und Freunde am 29. April 1679 in Ohrdruf treffen und erstmals „Meine Freundin, du bist schön“ erklingt.
Ja, der junge Mann sah blendend aus, wurde von den Studentinnen umschwärmt, alle waren hingerissen, wenn er nur flötete: „Ich bin übrigens auch Subskribent der Haydn-Gesamtausgabe.“ Er schien keine finanziellen noch andere Probleme zu kennen und war wohl erst zwanzig. Ich habe in meinen alten Kalender geschaut, immer noch liegt die Visitenkarte von Ileana Melita und Ton de Kruyf darin, und auf der Rückseite steht…, na, wer wohl?
Ich lasse mir Zeit und überlege, warum wir kürzlich nicht, wie geplant, Ohrdruf besucht haben, man hatte uns abgeraten. Arnstadt war geplant, und dann war die Frage Ohrdruf oder Wechmar. Gut, ein andermal Ohrdruf. Im Grunde steht ja schon alles, was ich darüber brauche, bei Hagedorn: „…zwei Weltkriege und die zwei großen Stadtbrände von 1753 und 1808, deretwegen kaum eines der Gebäude noch steht, die die Bachs im April 1679 sehen konnten – bis auf Teile der Stadtmauer, einen Brunnen und den Turm der Kirche, in der die Hochzeit stattfand, und das trotz des Brandes immer noch stattliche Schloss Ehrenstein mit seinem Turm am anderen Ufer der Ohra. Nur am Straßenverlauf hat sich fast nichts geändert. In der Innenstadt käme man auch jetzt mit dem ältesten erhaltenen Plan, dem von 1747, ganz gut zurecht.“ (Seite 146 f)
Der Turm der Michaeliskirche, in der die Hochzeit stattfand.
„In diesem Turm überstand etwas die Ohrdrufer Flammenmeere (…): Es handelt sich um das ‚Trauregister Ohrdruf 1563 – 1808‘. (…) Für den April [1679] gibt es nur einen Eintrag, die zwölfte Trauung des Jahres: ‚Johann Christoph Bach, Hof-Musicus zu Arnstadt. Und J. Martha Elisabeth Eisentrautis, des K[irchners] Tochter allhier 29. Apr. (…) Es ist berauschend, nach Bergen von Sekundärliteratur eine echte Quelle erreicht zu haben. Eine kleine, nichts Bedeutendes, nicht das Autograph eines Komponisten, kein Splitter vom Kreuz, nur der Eintrag eines Kirchenbediensteten zu einer Hochzeit vor 335 Jahren, den ich wie eine Reliquie anstaune,“ schreibt Volker Hagedorn (Seite 166).
Ja, die wahren Reliquien besitzen wir nämlich schon: die Werke des anderen Johann Christoph (*1642), und eben auch jenes, das anlässlich dieser Hochzeit aufgeführt wurde. (Nicht in der Kirche, sondern nachher im Gasthof „Anker“). Und damit habe ich wieder den Schlüssel, dessen Anwendung das Interesse wachhält und weitertreibt. Kurz: die Musik!
Leitung: Joshua Rifkin. 8. August 2014 in der Bachkirche Arnstadt (nein, in der Oberkirche!). Gesang: Zsuzsi Tóth, Violine: Susanna Cortesio [Ogata] (s.a. hier und hier). Leider ist diese Aufnahme vorn und hinten abgeschnitten. Ich suche den Text, und finde ihn ebenfalls auf youtube in einer Gardiner-Aufnahme, siehe unten. Die Aussprache dieser Sängerin bleibt ohne diese Hilfe nicht ganz irritationsfrei; zudem beginnt das Stück in der oben gegebenen Aufnahme unvermittelt bei den Worten „…hält sich auch zu mir.“
Ciacona
Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Rosen weidet, und er hält sich auch zu mir. Seine Linke lieget unter meinem Haupt, und seine Rechte herzet mich.
Er erquickt mich mit Blumen und labet mich mit Äpfeln. Mein Freund ist mein, und ich bin sein, denn ich bin krank vor Liebe. Mein Freund ist mein, und ich bin sein.
Was wir hören, ist also lediglich eine verkürzte Ciacona, und diese ist auch nur ein (gewichtiger) Satz der ganzen Hochzeitskantate, die vollständig in der erwähnten Gardiner-Aufnahme vorliegt, leider aber mit einem unmöglichen Stand-Foto versehen ist, weshalb ich sie im Augenblick meide. Es gibt auch noch eine frühe Goebel-Aufnahme (mit der Rheinischen Kantorei, Maria Zedelius u.a.), die aber wiederum in technisch unerquicklicher Form auf youtube übertragen wurde. Also: ich bleibe zunächst bei der hier vorliegenden jüngsten Fassung, interessiere mich – wie übrigens auch Hagedorn – besonders für den Solo-Violinpart, der bei der Ur-Aufführung am 29. April 1679 von Ambrosius Bach (dem späteren Vater Johann Sebastians) gespielt wurde. Er hat übrigens auch die Noten ins Reine geschrieben, vermutlich um sie nachträglich zu überreichen, ergänzt durch einen launigen Einführungstext in 16 Paragraphen. Jedenfalls ist dies seine Handschrift. Der Komponist saß am Cembalo. (In den Geigen u.a. der 26jährige Johann Pachelbel.) Unten in den Noten habe ich mit rotem Kreuz den Punkt bezeichnet, wo unser Rifkin-Fragment der Ciacona beginnt, und schon auf Seite 4 vor dem grünen Kreuz wird ausgeblendet. Vielleicht passt ja die fragmentarische Form ganz gut zur Ciacona: die (gedanklich) ewige Wiederkehr des Bass-Themas entspricht der Ewigkeit der Liebe. Aber man traut seinen Ohren nicht, wenn die Braut (sie selbst hat damals gesungen!) zu den Worten kommt „denn… denn… ich bin krank vor Liebe, krank!“ Hagedorn beschreibt den Verlauf der Musik, nicht ganz frei von freiwilliger Komik: „Längst hat sich eine dunkle Glut ausgebreitet, da lehnt sich Nikolaus, der Erfurter Junggeselle, schwer ins tiefe F des Violone, Ägidius lässt aus seiner Bratsche ein H strömen, die Harmonie kippt über den G-Dur-Septakkord ins schwärzere c-Moll.“ (S.172f) Man horche besonders genau ab 6:00, er hat Recht: es ist ein Wunder von Musik!
Titelblatt
Musik in Worten, das ist und bleibt ein Dilemma, und Hagedorn löst die Aufgabe mit Bravur:
Jetzt bluten alle Wunden, die Geige ist ratlos, sie scheint mit ihren Wendungen der Liebenden vorsichtig den Nacken zu streicheln… Ist es nicht die schönste Krankheit, die einem widerfahren kann? Und gibt es nicht wenigstens für sie ein Heilmittel? Und sind nicht alle hier, um die Heilung zu feiern? Die Sopranistin ist zurückgekehrt zu den Worten „Mein Freund ist mein“. Nun ist es kein Wunsch mehr, sondern Wahrheit, und die Violine rast mit Ambrosius (oder war es umgekehrt?) wie besessen vor Erleichterung durch die schnellsten Tonketten, die bis dahin für eine Geige geschrieben wurden. Für einen Moment kommt es Martha vor, als spiele da, mit herumfliegenden Locken, ihr Liebster selbst, ihr schwindelt. (S.173)
Ist doch Ambrosius der Zwillingsbruder ihres Bräutigams, ja ja… und glich ihm wie ein Ei dem andern. Aber – falls Sie die Violinnoten verfolgt haben – was geschieht nun nach dem Abreißen der hier vorliegenden Aufnahme, ab dort, wo das grüne Kreuz in den Noten steht? Es wird lustig. Ich gebe zunächst den Rest des Textes:
(14:24) Wo ist denn dein Freund hingegangen, o du Schönste unter den Weibern? Wo hat sich dein Freund hingewandt? Wohin? Wohin, wohin?
Mein Freund ist hinabgegangen in seinen Garten, zu den Würzgärtlein, dass er sich weide unter dem Garten und Rosen breche. So wollen wir mit dir ihn suchen. (15:22 Orchester= „Suchen“ bis 16:22)
Ich habe meine Myrrhen samt meinen Würzen abgebrochen; ich habe meines Seims samt meinem Honig gegessen;
ich habe meines Weins samt meiner Milch getrunken.
(17:04) Esset, meine Lieben, und trinket, meine Freunde!
So sehe ich nun das für gut an, dass es fein sei, wenn man isset und trinket und gut’s Mut’s ist.
Denn das ist eine Gabe Gottes, wenn man isset und trinket und gut’s Mut’s ist.
Esset, meine Lieben, und trinket, meine Freunde, und werdet trunken!
Denn das ist eine Gabe Gottes, wenn man isset und trinket und gut’s Mut’s ist.
Das Gratias, das singen wir Herr, Gott, Vater, wir danken dir, dass du uns reichlich hast gespeist, dein Lieb und Treu an uns beweist, gib uns auch das Gedeihen darzu, unserm Leib Gesundheit und Ruh, wer das begehrt, sprech Amen darzu.
Die Live-Aufnahme unter Rifkin ist Gold wert, schon weil man auch die Geigerin (und alle anderen) in Aktion beobachten kann. Ich würde vorschlagen, bei der folgenden, reinen Tonaufnahme (ohne Live-Bilder) gleich in den letzten Abschnitt der Ciacona zu springen, um auch die andere Auffassung dieses Stücks noch mitzuerleben, aber dann vor allem den Fortgang ab dort, wo das grüne Kreuz in die Noten eingezeichnet ist. Die Violine pausiert bis 16:22. Sie schauen also besser ab dort in den Text: „Wo ist denn dein Freund hingegangen?“ (Rot gekennzeichet, wo ein parodistisches Element deutlich wird.)
HIERJohann Christoph Bach: Hochzeitskantate „Meine Freundin, du bist schön“ / John Eliot Gardiner / ABER: Kehren Sie gleich wieder hierher zurück, Sie können wechseln!
Ich würde vom ärgerlichen Kuss-Foto runterscrollen, so dass nur die Leiste des Wiedergabeverlaufs sichtbar bleibt; beginnen etwa bei 13:20, in der Ciacona (die bei 14:24 zuendegeht), kehren jedoch – weiter zuhörend – hier in den Blog zurück, lesen den Text mit oder Sie verfolgen einmal den Violone-Part: die Seite unten links ist zu dreiviertel noch mit dem „ewigen“ Bass der Ciacona gefüllt, die beim grünen Kreuz zuendegeht. Das blaue Kreuz in der letzten Zeile bezeichnet den Beginn des Orchester-Tuttis ab 15:22, das „Suchen“ im Bass.
Volker Hagedorn beschreibt diese Stelle folgendermaßen:
Jetzt kommt ein heiteres Intermezzo ohne Gesang, der Violone achtelt sich unter einzelnen Akkorden eine ziellose Linie zurecht, und natürlich verstehen alle, dass eben das die Suche ist. Schon 170 Jahre zuvor haben in Italien die Töne begonnen, den Worten zu folgen, sie zu übersetzen. Jede Bewegung nachzubilden, sei sie räumlich oder seelisch. ‚Hir‘, wird Ambrosius zu dem Intermezzo schreiben, ‚lauft der Bassus continuus continuirlich herumb und suchet: die andern Instrumenta schreiten auch bißweilen, so zu reden ein bißgen fort, bald stehen Sie wieder still und sehen sich gleichsam hir und dort ümb, biß endlich, da Sie den Liebsten im Garten gewahr werden, alle zusammen lauffen…‘
Und dann finden sie, in dieser verrückten Mischung aus Kammeroper, Volkstheater und Hohelied, den Bräutigam, der so biblisch wie sinnlich von Wein und Honig spricht und sich fast die Lippen zulecken scheint. Tatsächlich dringen aus der Küche schon Düfte in den Saal, aus denen sich der nächste Vierertakt von selbst zu formen scheint: ‚Esset, meine Lieben!‘ ruft Wendel, und Martha folgt ihm, dann spielen Ambrosius, dann Tenor und Alt, und unvorhergesehenerweise folgt auch der kleine Ludwig, der seinem Vater Jacob nun zwischen den Beinen hockt und mitkräht. Was sie gestern vom Blatt in den Wald sangen, a cappella, wird nun irdisch und prall (… S.174)
ZITATE aus: Volker Hagedorn: Bachs Welt. Die Familiengeschichte eines Genies. Rowohlt Reinbek bei Hamburg Mai 2016 ISBN 978 3 498 02817 6
Und nun? …ist es an der Zeit, die Hochzeitskantate „Tempore Nuptiarum“ als Ganzes zu hören, bzw. „Meine Freundin, du bist schön“, zumindest den Anfang bis zur Ciacona nachzuholen.
Meine Freundin, du bist schön. Wende deine Augen von mir, denn sie machen mich brünstig.
O dass ich dich, mein Bruder, draußen finde und dich küssen müsste, dass mich niemand höhnete.
Mein Freund komme in seinen Garten.
Ich komme, meine Schwester, liebe Braut, in meinen Garten.
Der Link ist oben bereits gegeben, und noch einmal HIER.
***
Um es noch einmal in aller Kürze zu sagen: geheiratet hat Johann Christoph Bach (Stammbaum Nr. 12) und zwar in Ohrdruf, weil seine Braut hier zuhaus war; er ist der Zwillingsbruder von Ambrosius Bach (Stammbaum Nr. 11), der diese Kantate in Auftrag gegeben hat: und zwar bei seinem Vetter Johann Christoph Bach (Stammbaum Nr.13). Dieser saß bei der Aufführung am Cembalo, Ambrosius spielte Violine, und die Braut sang das Solo. (Die Bass-Partie ein gewisser Wendel Bach, Landwirt aus Wolfsbehringen, siehe auf der Stammbaumtafel ganz rechts, der zweite Wendel.)
Hier folgt noch ein Notenbeispiel zum Bass der Ciacona:
1) Johann Christoph Bach „Ciacona“ Takte der Modulation 2) Pachelbel „Kanon“ 3) Buxtehude „Passacaglia“ 4) Buxtehude „Ciacona“ 5) J.S.Bach „Passacaglia“ BWV 582
Aus dem Artikel „Ground“ von Richard Hudson in „The New Grove“ 7 (1980)
Ausklang: A propos „Wendel Bach“
Das vierte Kapitel des Hagedorn-Buches ist besonders ertragreich an erstaunlicher Musik. Immer mal gerät der kleine Ludwig in den Focus, „Luttich“ genannt, der zweijährige Enkel (*1677) von Wendel (1626-1682). 55 Jahre später wird er „eine fulminante, ja galaktische Trauermusik“ schreiben, so Hagedorn,
doppelchörig, und im zentralen Chor katapultiert er sich weit über das hinaus, was die Zeitgenossen kennen. ‚Meine Bande sind zurissen‘, lautet der Text, ‚Herr, es ist durch dich geschehn.‘ Die erlöste Seele ist nicht mehr an den Körper gefesselt. Das setzt Ludwig um in Rotationen, Staffelungen, Schnitte von so körperhafter Suggestivität, dass mitunter Effekte der Minimal Music sich einstellen. Die fürs Trügerische stehende Septakkordik zieht einem den Boden weg, saugt uns in einen kalten, dunklen, leeren Kosmos, und den füllt Ludwig später mit einem irrwitzigen Aufgebot jubelnder himmlischer Heerscharen.“ (Seite 179)
In der Tat, es ist unglaublich, und das Etikett TRAUERMUSIK führt irre. Die Musik hat einen Impetus ohnegleichen. Niemals würde man auf eine Entstehungszeit um 1710 kommen, auch nicht einen Augenblick an Johann Sebastian denken, allenfalls an einen wilden Chor wie „Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden“. Und sie ist uns nur erhalten, weil Johann Sebastian sie aufbewahrt hat. Wer diese Musik nie kennengelernt hat, – und in dieser Interpretation durch den RIAS-Kammerchor – bleibt um ein wichtige Erfahrung ärmer. (Wie ich – bis heute morgen!)
Nachklang: A propos Joshua Rifkin
Man könnte den Eindruck gewonnen haben, dass ich aus lauter Nostalgie Joshua Rifkin habe verherrlichen wollen. Mir ging es aber nur darum, an das Buch von Volker Hagedorn anzuknüpfen und eine sträfliche Bildungslücke meinerseits nachzubearbeiten: das Altbachische Archiv. Von dem ich durch Reinhard Goebel früh genug Gutes gehört hatte. Und was die Aufführungspraxis angeht, verlasse ich mich nicht auf Rifkin, sondern auf Goebel, den ich gern abschließend zitiere:
Wir wissen, dass Bach für bestimmte räumliche oder höfische Verhältnisse vierstimmige Solokantaten geschrieben hat, aber sicherlich nicht für die große Kirche. Was Joshua Rifkin, von dem ja die Idee des solistisch besetzten Chores stammt, gemacht hat, ist eine Fehlauswertung quellenkundlicher Zusammenhänge. Diese Besetzungsfragen werden mal richtig, mal falsch gedeutet. Ich muss immer lachen, wenn ich von einer „kammermusikalisch durchhörbaren“ Matthäuspassion sprechen höre. Das ist Musik, die einen auffressen soll, die Empathie erzeugt durch ihr Pathos, durch ihre Größe. Mattheson schreibt, e-Moll werde in der Kirche nicht so gern zugelassen, weil es zu leidenschaftlich sei. Dieser Eingangssatz ist in e-Moll!
Quelle http://www.concerti.de/de/689/blind-gehoert-reinhard-goebel-wem-nutzt-dieser-kaprizioese-unsinn.html bzw. hier.
Ausweitung einer Kurzanalyse von Dahlhaus (1971): 17 + 13 + 20 + 22
Quelle Carl Dahlhaus: Richard Wagners Musikdramen / Friedrich Verlag Velber 1971
Was finde ich an dieser Analyse problematisch? Ich versuche die Takte im Notentext auszuzählen – und verstehe nicht genau, was der Autor meint: zählt er die nicht gesungenen, die Pausentakte des Gesangs mit? Oder manche doppelt? Er beschreibt im Detail 4 Perioden, geht aber von 7 Perioden insgesamt aus. Ich will alle 7 eingrenzen. (Natürlich bin ich etwas sauer, dass der Analytiker – der durchaus Recht zu haben scheint, da alle Musikhinweise identifizierbar sind – mir diese Arbeit nicht von vornherein abgenommen hat, im Jahre 1971/72, oder auch ich selbst damals, mir selbst als Leser, aufs ganze Leben gesehen, – ich hätte ja nur wie heute 1 Stündchen über den Noten brüten müssen… aber … warum nicht auch jetzt gleich? Es ist nie zu spät.)
Zunächst folge ich hier dem Wagnerschen Wortlaut, gebe ihm eine leicht gegliederte Form und eine Kennzeichnung der musikalischen Perioden, jeweils am Ende des betreffenden Textabschnitts. (Achtung: hier können bereits Fehler passiert sein, also – in Kürze gut zuhören und prüfen!)
Und jetzt öffnen Sie bitte – ein paar Zeilen weiter unten – die entsprechende Musik, die wir schon früher einmal verlinkt und studiert hatten. Und nun eben abermals. Eine unvergleichliche Aufnahme, allerdings sollten Sie gerade so wie Parsifal jeglicher Versuchung widerstehen und nicht vom Anfang her starten, sondern – den obigen Text mitlesend, die Musik zugleich mitdenkend – genau bei 24:28 (enden bei 30:35) im folgenden youtube-Video (aber kehren Sie auch gleich nach dem Anklicken hierher zurück!):
Kundry 1992 Waltraud Meier, Poul Elming (Barenboim, Kupfer) HIER
Man muss sich freimachen von der Vorstellung, dass eine „Periode“ im Sinne von Dahlhaus eine klar überschaubare Melodieperiode ist, die – gemessen am traditionellen Sinne – in der unendlichen Melodie Wagners ohnehin kaum dingfest zu machen wäre. Die Periode ist hier eine zusammengehörige Ansammlung melodischer Bewegungen. Egal ob Singstimme oder Orchester: alles zusammen ergibt die Periode.
Gehen wir also auf die Suche nach den vier von Dahlhaus ausgezählten Perioden von 17 + 13 + 20 + 22 Takten.
Periode 1 von 24:28 bis 24:58 – die letzte Silbe „ei-nen“ steht am Anfang des 17. Taktes. Die Geigen halten den Ton der Sängerin, und auf der 1 des nächsten Taktes tritt der Akkord hinzu, was als Beginn der neuen Periode zu denken ist, also –
Periode 2 von 25:00 bis 25:23 – die zweite Silbe von „ge-schmäht“ steht in der Mitte des 13. Taktes, und auf der 1 des nächsten Taktes hört man den tiefen Basston des Akkordes, was als Beginn der neuen Periode zu denken ist, also –
Periode 3 von 25:24 bis 25:59 – das Wort „quält“ steht am Anfang des 20. Taktes, und die Triole der Pauke zielt auf die 1 des nächsten Taktes, der als Beginn der neuen Periode zu denken ist, also –
Periode 4 von 26:04 bis 28:03 – eine inhaltlich bedingt zerrissene Periode, sie geht auch über das letzte Wort „Blick“ weit hinaus, bis ein neuer Motiv-Komplex beginnt, nach der im 22. Takt „übriggebliebenen“ ersten Geige, auf der 1 des Taktes, in dessen Beginn das Tutti zur Geigenmelodie tritt und der Gesang mit dem Wort „Nun“ (such‘ ich ihn) wieder einsetzt (= Periode 5).
Damit hätten wir die von Dahlhaus bezeichneten 4 Perioden hoffentlich exakt erfasst.
Der Rahmen der ganzen Rede Kundrys, die Eckpunkte – Beginn von Periode 1 und Ende von Periode 7, vor Beginn der Gegenrede Parsifals – das heißt die Orchesteraufschwünge bei 24:28 und bei 30:35 -, sie folgen in beiden Fällen einer Kadenz, die statt nach g-moll trugschlüssig in den großen Septakkord auf Es mündet: die Takte sind praktisch identisch!
Diesen „Aufschwung“ würde ich normalerweise mit der barocken Figur der Tirata in Verbindung bringen, eine Tirade oder Attacke als Geste leidenschaftlichen Auffahrens. Wenn man aber die letzten Takte vor dem Beginn der Rede Kundrys betrachtet – zu den letzten Worten Parsifals: „Verderberin! Weiche von mir!“ -, bemerkt man, dass unmittelbar mit dem Wort „mir“ im Orchester das absteigende Kundry-Motiv erklingt. Und eben dessen genaue Umkehrung ist der dann folgende „Aufschwung“, die Attacke. Diese aufsteigende Form des Kundry-Motivs durchzieht die Periode 1, es ist in Takt 1, Takt 2, Takt 4, Takt 9, 11, 13, 14, 15 zu hören. Während die originale „abstürzende“ Form des Kundry-Motivs sich direkt danach als Beginn der Periode 2 anschließt. Von dieser „Verklammerung“ der Perioden spricht Dahlhaus auf der abgebildeten Buchseite 151 in den letzten Zeilen und auf der nächsten Seite oben.
Mit dem Notenbeispiel auf Seite 152 (s.o.) belegt Dahlhaus weitere motivische Zusammenhänge. In Periode 1 erklingt mit den Worten „Bist du Erlöser, was bannt dich, Böser“ das TRISTAN-Motiv als Sehnsuchtsmotiv (chromatisch aufsteigend); es wird in Periode 2 mit den Worten „Heiland’s ach! so (spät)“ in ein Leidensmotiv verwandelt (chromatisch absteigend): die zwei Notenzeilen demonstrieren also die Inversion der beiden chromatischen Bewegungen.
Zum letzten Absatz der Dahlhaus-Seite 152 müsste noch ein Hinweis gegeben werden:
Das Motiv der dritten Periode, eine hybride Motivmischung, erfüllt formal die Funktion, zu vermitteln zwischen dem Leidens- und Sehnsuchtsmotiv einerseits und dem Abendmahlsthema als Hauptmotiv der vierten Periode andererseits.
Das Abendmahlsthema ist das, was man kennt wie kein anderes, nämlich jenes, mit dem das ganze Werk im Vorspiel beginnt:
Und da auf der nächsten Dahlhausseite, die noch in Kopie folgen soll, auch das Zaubermotiv eine Rolle spielt, gebe ich noch eine Probe aus der Motivtafel, die dem Textbuch von Edmund E.F. Kühn (1914) beigefügt ist, darin auch das „Zauberei-Motiv“:
Hier folgt nun also die dritte Seite (im Buch Seite 153), die Dahlhaus der großen Kundry-Rede widmet. Und ich hoffe, mit diesen Ergänzungen ist alles klar geworden, was der Autor in sehr komprimierter Weise ausgedrückt hat. Die Bewunderung, die man Dahlhaus gewiss zollen muss, gehört natürlich zu allererst der Partitur von Richard Wagner, die im Klangbeispiel so überwältigend dramatisch ins Leben tritt, dass man kaum glauben mag, wieviel technische Details der Kenner darin entdecken kann.
Zusatz zum „Gral-Motiv“ (Nr. 2 der Tabelle)
Wikimedia HMuenz
Siehe den Wikipedia-Artikel zum Dresdner Amen HIER.
Zusatz zu Wagners Begriff der „dichterisch-musikalischen Periode“
Die Einheit, die der Wortdichter so durch den Gleichklang der Mitlaute [Stabreim] herstellt, krönt der Tondichter dadurch, daß er die musikalisch tönenden Vokale durch die Tonart (horizontale Harmonie) einigt. Die Tonart einer Melodie führt die in ihr enthaltenen verschiedenen Töne dem Gefühle in einem verwandtschaftlichen Bande vor. Bei Beibehaltung einer Stimmung hat der Musiker keine Veranlassung, aus der Tonart herauszutreten. Erst bei Übergang in eine andere Stimmung wechselt auch die Tonart (Modulation); kehrt nach mannigfaltigen Modulationen die Dichtung wieder in ihre erste Stimmung zurück, so bildet sich damit ein gefühlsmäßig wahrnehmbarer Abschnitt, den Wagner eine „dichterisch-musikalische Periode“ nennt. Im vollkommenen Kunstwerke entwickeln sich viele solcher Perioden zu einer reichen Gesamtkundgebung, wobei durch die Verwandtschaft der Tonarten große Linien hergestellt werden.** Harmonie ist in der Melodie bereits enthalten. Eigentlich ist sie aber nur etwas Gedachtes. Sinnlich wahrnehmbar wird sie erst in der Polyphonie. Diese betätigt sich im Orchester, welches seit Beethovens Sprachvermögen gewonnen hat. Es spricht das durch die Begriffssprache nicht Ausdrückbare aus; es wird Verkünder des Unaussprechlichen (…).
**Anmerkung Lorenz in eigener Sache
Quelle Richard Wagner / Ausgewählte Schriften und Briefe / 1. Band Eingeleitet und mit biographischen und kritischen Erläuterungen versehen von Dr. Alfred Lorenz. Bernhard Hahnefeld Verlag Berlin 1938 (Seite 352)
Im MGG-Artikel Lorenz (neu Personenteil Bd.11) ist eine einschlägige Arbeit von C.Dahlhaus angegeben: „Wagners Begriff der dichterisch-musikalischen Periode“, in: Beitr. zur Gesch. der Musikanschauung im 19. Jh., hrsg. von W. Salmen, Rgsbg. 1965 (= Studien zur Mg. des 19. Jh. 1), 179-187 /
Was mich damals davor hat zurückschrecken lassen, den Schriften von Alfred Lorenz (1868-1939) noch weiter nachzugehen, ist leicht zu belegen. Hier sind Kostproben aus Vor- und Nachwort der zweibändigen Wagner-Ausgabe:
Die jüngere Generation heute weiß offenbar von diesem Hintergrund zu abstrahieren, um die wissenschaftlichen Ergebnisse fruchtbar zu machen. (Die Theorien zur großen Form bei Wagner waren aber durchaus bekannt. Und mir ist erinnerlich, dass sie damals auch schon von Dahlhaus und Rudolf Stephan kritisch behandelt worden sind.) Werner Breig ist in dem oben angegebenen MGG-Artikel dezidiert darauf eingegangen.
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Und jetzt kann ich endlich den Weg zu Wagners Original-Schrift angeben, – man lese ab Kapitel 22 und findet alles, was wir wissen wollten in verständlichster Form: HIER. (Oper und Drama, Projekt Gutenberg, SPIEGEL).
Man kann auch gleich dorthin springen, wo Wagner auf den Stabreim kommt, und dass dies alles zu unserm Thema gehört, wird man spätestens an folgender Stelle gewahr:
Ist hiermit die dichterisch-musikalische Periode bezeichnet worden, wie sie sich nach einer Haupttonart bestimmt, so können wir vorläufig das Kunstwerk als das für den Ausdruck vollendetste bezeichnen, in welchem viele solche Perioden nach höchster Fülle sich so darstellen, daß sie, zur Verwirklichung einer höchsten dichterischen Absicht, eine aus der andern sich bedingen und zu einer reichen Gesamtkundgebung sich entwickeln, in welcher das Wesen des Menschen nach einer entscheidenden Hauptrichtung hin, d. h. nach einer Richtung hin, die das menschliche Wesen vollkommen in sich zu fassen imstande ist (wie eine Haupttonart alle übrigen Tonarten in sich zu fassen vermag), auf das sicherste und begreiflichste dem Gefühle dargestellt wird.
Wir müssen uns also auch noch mit den Tonarten und vor allem – wovon er gar nicht spricht – mit dem revolutionärem Tonsatz beschäftigen. Als willkommener Helfer soll uns Claus-Steffen Mahnkopf begleiten, insbesondere das Kapitel: Wagners Kompositionstechnik.
Nach dem Vereinfachungsversuch HIER kommt mir dieses Buch gerade recht. Gibt es tatsächlich neue Ansätze, oder wenigstens Hinweise auf einzelne Methoden, die ich rekapitulieren sollte. Zum Beispiel nach Heinrich Schenker, dessen Arbeit über Beethovens Neunte ich einst studiert habe, ansonsten – in seinem Sinne – „Strukturelles Hören“ von Felix Salzer. Oder nach Dieter de la Motte, der seine „musikalische analyse“ (1968) mit kritischen Ergänzungen von Carl Dahlhaus herausbrachte. Oder – betreffend Neue Musik – über Adornos Getreuen Korrepetitor (1963) hinauszukommen. Oder – was Mozart angeht – Rudolf Kelterborns „Zum Beispiel Mozart“ (1981). Und vieles mehr, was in Monographien zu finden ist, alles bedarf der Auffrischung… Auf Anhieb packte mich zum Beispiel die Arbeit von Hans Niklas Kuhn über Bartóks Klavierstücke, zumal es mir so schien, als sei seit Jahrzehnten über Bartóks Verarbeitung der Volksmusik-Skalen nichts Triftiges mehr erschienen seit Ernö Lendvais „Einführung in die Formen- und Harmonienwelt Bartóks“ (in: B.B. Weg und Werk, Bärenreiter 1972). Extrem spannend auch gleich zu Anfang die Essays über Figurenlehre und Toposforschung, zumal in meinem derzeit präferierten BACH-Zusammenhang.
Laaber Verlag 2014 ISBN 978-3-89007-831-1
Die Themen
Die Autoren
(Fortsetzung folgt)
Nachtrag 17.12.2020
Inzwischen würde ich wenigstens eine analytische Arbeit hinzufügen, ohne abschätzen zu können, welche Bedeutung sie hat, wenn man wirklich die gesamte Sekundärliteratur zu Bartóks Kompositionstechnik kennt:
Laura Krämer: Parallele Stimmführung bei Bartók / Struktur und Funktion einer Satzweise / Dissertation Heidelberg 2013
Ich kann nur sagen, dass ich danach die Werke, um die es mir ging, mit anderen Ohren gehört habe. Dabei ging es mir vor allem um die „Ungarischen Bilder“ (1931) und um das „Concerto for Orchestra“ (1943). Mehr über die Autorin (und Link zu genau dieser Arbeit) hier.
Zu den bekanntesten Arbeiten meines musikethnologischen Lehrers, Prof. Dr. Marius Schneider, gehört das Buch Singende Steine. Ich habe es damals gelesen, fand die Idee faszinierend, entwickelte ohnehin eine Schwäche für Kreuzgänge als Ort der Ruhe und des Nachdenkens, z.B. in Brixen (Südtirol) oder ganz in der Nähe, im Bonner Münster. Allerdings kamen mir schon bei der ersten Lektüre der „Singenden Steine“ Zweifel: wo genau liegt der Beweis, dass mit den Steinen dieser spezielle gregorianische Gesang gemeint ist? Ich habe den Verdacht, dass schon der Titel Assoziationen an unterirdische Höhlen oder Gewölbe am Rande des Ozeans freisetzt, die sich mit einer Vorstellung von Urmusik verbünden, vielleicht auch mit den Sirenen des Odysseus, und nicht mehr zum Schweigen zu bringen sind. Oder die alte Sehnsucht: Das Flüchtigste, die Musik, eingesenkt in die dauerhafteste Materie. Ein Sieg über die Vergänglichkeit. Ich wollte der Sache schon vor Jahrzehnten nachgehen, aber das Schneider-Buch ist damals verloren gegangen. Vielleicht habe ich es verliehen und es gehört zu denen, die niemals wiederkehren… Und nun – den Titel im Sinn und die Unendlichkeit vor Augen.
Und dann ins Greifbare HIER. Das gesamte geographische Umfeld. Dann noch konkreter HIER, das Kloster.
Der Autor Hans-Georg Nicklaus hat den Hintergrund der „Singenden Steine“ folgendermaßen beschrieben:
Das Hauptanliegen der Forschungen Schneiders war der Nachweis, daß und wie die Welt nach der Maßgabe menschlicher Vorstellungen (in Mythen, Religionen, Lehren, Abbildungen, Diagrammen etc.) als akustische Schöpfung dargestellt wurde und vielleicht werden mußte. Das Buch “Singende Steine” wurde in den 50er Jahren im Bärenreiter-Verlag veröffentlicht und ist leider nicht mehr zu erhalten. Es enthält Studien über drei katalanische Kreuzgänge romanischen Stils. Schneider hat die Kapitäle der Säulengänge im Inneren dieser Klöster untersucht, genauer gesagt: er hat die Tiersymbole an den Kapitälen dieser Kreuzgänge auf ihre musikalische Bedeutung hin analysiert. Er nahm abgekürzte Sanskritwörter aus dem Indischen, aus der indischen Musiktradition, zu Hilfe, von denen er wußte, daß sie ganz bestimmte Töne repräsentieren und eine Tonleiter darstellen. Die Silben sa, ri, ga, ma, pa, dha, ni stehen für die Töne c, d, e, f, g, a, h und sind gleichzeitig Abkürzungen für Tiernamen bzw. Anfangssilben von Tiernamen. Schneider brauchte also nur die Tiersymbole, die er an den Kapitälen sah (den Löwen, den Pfau etc.), in die Silben rückzuübersetzen, um Töne zu erhalten. Das Ergebnis war verblüffend: Schneider erhielt so nicht nur signifikante Ton-Skalen, er erhielt im Falle von St. Cugat sogar einen Choral: die Tiersymbole, wie sie an den Säulen dieses Klosters zu sehen sind, das heißt in ihrer durch den Kreuzgang festgelegten Reihenfolge und Anzahl, ergaben genau die Töne eines gregorianischen Chorals auf den heiligen Cucuphatus, also den Namensgeber von St. Cugat. – Dies vorab zur Charakteristik von Schneiders Forschungen.
Die Mitteilung, dass das Buch nicht mehr zu erhalten ist, stimmt nicht ganz: ich habe es eben bei amazon antiquarisch bestellt. Und es gibt sogar noch einige Exemplare mehr. (Heimeran Verlag München 1978).
Nun zu meinen alten Zweifeln, kurzgefasst: Was hat denn St. Cugat mit Indien zu tun? Gibt es beweisbare Verbindungen? Danach werde ich in dem Buch suchen. Und wenn die Vermutung einer direkten Verbindung und schließlich die Benennung der „steinernen“ Töne einer Choralmelodie auf irgendwelchen gedanklichen Kompromissen beruht – sagen wir, ein Ton passt nicht, ein anderer fehlt und man muss etwas hinzudenken, was sich nicht zwingend anbietet -, dann bleibe ich nicht nur bei meinen Zweifeln: ich lehne die Theorie als bloße Glaubenssache ab. Ganz gleich, wie sehr mich der Kreuzgang oder der Blick in die Unendlichkeit der Landschaft zur Frömmigkeit mahnt.
Ein zweites Buch liegt bereit, das von diesem angeregt wurde, Stichwort Moissac, auch einen Roman mit dem Titel „Singende Steine“ soll es geben. Aber wenn dieser erste Schritt nicht funktioniert, erlischt auch mein weiterer Recherche-Impetus.
Sela, Psalmenende
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Ich greife vor und zitiere aus dem „Moissac“-Buch, – da steht: „Schneider ging bei der Entschlüsselung von der Annahme aus…“ Von der Annahme! Und später: „In der Spätantike kamen diese Erkenntnisse über die Griechen in das Abendland.“ Sie kamen… Wo steht das geschrieben? „Lässt sich das auch beweisen?“
Bloße Spekulation oder nicht?
Quelle Rainer Straub: Die singenden Steine von Moissac. Entschlüsselung der geheimnisvollen Programme in einem der schönsten Kreuzgänge Europas. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2009. (Entliehen von Christian Schneider, Düsseldorf.)
Nachtrag 27. Juli 2016
Das Buch ist eingetroffen:
Zugleich möchte ich nachtragen, dass der oben zitierte Autor Hans-Georg Nicklaus durchaus ernstzunehmen ist. Aus seinem Buch „Die Maschine des Himmels. Zur Kosmologie und Ästhetik des Klangs“ (Wilhelm Fink Verlag München 1994). Ich zitiere die erste Seite des Werkes um seinen Ansatz anzudeuten und zugleich seine Distanz zu esoterischen Phantasien zu dokumentieren (siehe hier in der Anmerkung zu J.-E.Berendt).
Erwähnenswert auch das neue Buch (das mir nicht zur Verfügung steht) „Weltsprache Musik“ 2015, betreffend Rousseau. Information und Rezension HIER.
Zu J.-E. Berendt erinnere ich an meine Polemik 1989 HIER.
Zur Verbindung Indien/Griechenland (Aristoteles) nicht vergessen: hier.
Singende Steine
Ich bin also auf der Suche nach Hinweisen, die uns ermächtigen, Skulpturen in der Weise zu deuten, wie es bei Marius Schneider nachlesbar ist. Ein entscheidender Punkt scheint die Verbindung nach Indien zu sein, die offenbar in der von ihm verwendeten Literatur zu finden ist. Wobei mich die offensichtliche Schwäche eines längeren Zitates verblüfft, das relativ frühe (1258) Beziehungen zwischen Westeuropa und Indien belegen soll, letztlich jedoch nur die dürftige Aussage über geplante Lieferungen chinesischer Keramik nach Griechenland und griechischen Brokats nach Indien enthält.
Die anderen Quellenangaben ermutigen nicht eben zu größeren Erwartungen. Leo Schrades Titel „Die Darstellung der Töne an den Kapitellen der Abteikirche zu Cluny“ steht mir (noch) nicht zur Verfügung. Jedoch findet man im Internet eine tüchtige Arbeit in seiner Nachfolge, wobei ich nicht sicher bin, ob der Autor Frater Gregor tatsächlich von Leo Schrade (oder Marius Schneider) Kenntnis hatte: „Vom Ethos der Tonarten. Betrachtungen ausgewählter Beispiele der Toni-Darstellungen an den Kapitellen von Cluny.“ (Angeregt durch einen Besuch in Cluny 1986). Auffindbar HIER.
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Präzisere Angaben zu frühen indisch-griechischen (oder gar indisch-europäischen) Wechselwirkungen findet man bei Lutz Geldsetzer:
Die antike mittelmeerische Welt hat indische Philosophie durch ihre Vertreter, die sie „Gymnosophisten“ („nackte Philosophen“) nannte, vermutlich recht genau gekannt. Unübersehbar verwandt ist das Denken eines Parmenides, Platons oder eines Sophisten wie Gorgias („es gibt überhaupt Nichts!“) mit gewissen Philosophemen indischen Denkens. Und vermutlich verdankt sich solche Verwandtschaft regem Verkehr hin und her, der besonders seit den Alexanderzügen bis nach Indien gut entwickelt gewesen sein muß. So finden sich bei vielen spätantiken Schriftstellern Erwähnungen der Gymnosophisten, teils fabelhafter Natur, und manche Patristiker schätzen sie als „vorchristliche Heilige“.
Die islamischen Eroberungen scheinen dann eine undurchdringliche Barriere zwischen dem Abendland und Indien errichtet zu haben. Mittelalterliche Philosophie weist, soweit bisher bekannt ist, keinen Kontakt mit indischer Philosophie auf. Umso mehr steht sie in lebendigem Austausch mit der Philosophie im islamischen Kulturraum.
Die Renaissance nimmt wieder, wie von allem Alten als den Wurzeln der christlichen Kultur, auch vom indischen Denken „antiquarisch“ Notiz, wie man bei Gemisthios Plethon und GiovanniPico della Mirandola ersieht (vgl. dazu J. D. M. Derrett, Art. „Gymnosophisten“ in: Der Kleine Pauly, Lexikon der Antike, Band 2, München 1979, Sp. 892/3). Indische Philosophie interessiert und erscheint als eine „uralte Weisheit“ im Spiegel antiker Berichte, die gesammelt und philologisch aufbereitet werden.
Quelle Internet DIE KLASSISCHE INDISCHE PHILOSOPHIE Vorlesungen an der HHU Düsseldorf SS 1982, WS 1993/94, WS 1998/99 von Lutz Geldsetzer § 3. Geschichte der abendländischen Befassung mit der indischen Philosophie. Auffindbar HIER.
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Die ältesten indischen Beschreibungen des Tonsystems:
Natya Shastra: Wikipedia HIER/ dem Bharata zugeschr. (zw. 500 vor und 500 n.Chr.)
Sangita Ratnakara: Wikipedia Hier / geht auf Sharngadeva zurück (1210-1247)
Warum nicht ernst machen mit der virtuellen Real-Präsenz. Oder wie bezeichne ich die Situation rasant genug? Ich hörte zwar, es ist inzwischen leichter, Karten für Bayreuth zu bekommen als in früheren Jahren, Gelegenheit für eine reale Mega-Präsenz also. Warum sollte ich mir nicht diesen Traum erfüllen? Nein, früher war es einer, jetzt gibt es andere Träume. Aber warum nicht nach Essen in die Lichtburg fahren und den Parsifal quasi live im Saal miterleben, – leicht zeitversetzt. Warum denn das? Warum mit Publikum, das mich stört, und mit langen Pausen, die ich nicht selbstbestimmt fülle. Falls es wieder heiß ist, würde ich zwischendurch duschen wollen. Und wenn ich es noch liver (zumindest kaum zeitversetzt) am Arbeitstisch miterleben kann, mit dem Klavierauszug vor mir, den ich bis dahin am Instrument gründlich repetiert haben könnte… Außerdem könnte ich immer wieder in Screenshots festhalten, was ich sehe. Ich hätte bis dahin auch Dahlhaus wiedergelesen, und allerhand, was ich aus meiner Wagner-Zeit noch greifbar habe, incl. dieses damals verschlungene Buch von Curt von Westernhagen, bis ihn Rudolf Stephan in Darmstadt – als noch Carl Dahlhaus mit uns im Café-Zelt (mit Cognac angereicherten) Kaffee trank – im persönlichen Gespräch einen „Troglodyten“ nannte. Wir fragten: Was ist das? („Ein Höhlenbewohner“). 1933 hatte er schon „Richard Wagners Kampf gegen seelischen Fremdherrschaft“ beschrieben. Nach dem Krieg noch sinnvollerweise als Troglodyt aktiv. Doch Dahlhaus (Friedrich Verlag Velber 1971) bleibt:
Ja, so recht: das Christentum philosophisch, und – Klingsors arabische Welt? Ein dialektisches Gegenüber, gewiss, etwa eines, das aufgehoben wird?
Hier ist der Termin:
https://www.br-klassik.de/concert/ausstrahlung-775304.html oder man klickt:HIER!!!
Und in diesem Moment kommt (9:58 Uhr) folgender Hinweis:
Unter dem Titel »Zeitgeist« fördert die Audi AG, die zum Volkswagen-Konzern gehört, laut eigenen Angaben »den Dialog mit kreativen Köpfen aus verschiedenen Disziplinen und schafft Raum für kreative Experimente«. Neuestes Ergebnis dieser zeitgeistigen Marketingaktivität, in der nicht mehr simple Werbefilmchen gedreht, sondern »progressive Kunstfilme geschaffen« werden, ist ein etwa zehnminütiges Video, das von Richard Wagners Parsifal »inspiriert« wurde und so ziemlich jedes Klischee, das zwischen dem Firmensitz Ingolstadt und dem grünen Hügel in Bayreuth auf der Autobahn herumlag, aufgenommen hat.
Koinzidenzen, wie ich sie liebe: nachzulesen HIER .
Einen Vorteil immerhin hat das fiasköse [Audi-]Projekt für den Grünen Hügel: Schlimmer als der Black Mountain-Film kann die Parsifal-Neuinszenierung nicht mehr werden.
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Heute (22.07.2016) im Solinger Tageblatt (Foto dpa), hier kann man den Artikel nicht lesen, aber man sieht, was in der Titelzeile aus dem Interview mit Regisseur Uwe Eric Laufenberg als brisant hervorgehoben wird: die Sicherheitslage. (Frage im Text: Haben Sie Sorge, dass es sich auf die Inhalte auswirkt, wenn man anfängt, Theaterhäuser einzuzäunen?)
Mich interessierte vor allem ein Satz des Regisseurs:
Ich bin großer Wagner-Fan und beschäftigte mich, seitdem ich in die Oper gehe – also sagen wir, seit ich 15 war – mit diesen Stücken.
Er hat nicht den Ehrgeiz, alles noch einmal zu hinterfragen, was auf der (Hinter-)Hand liegt, – weder Christentum noch Islam. Das ist heute eine aufgeklärte Haltung in einer alles hinterfragenden Welt. Auch dafür könnte man ein Wort mit post- finden.
Ich gehe also vieles am Klavier durch, wie damals (als es noch die Noten meines Vaters waren). Ich lasse mir Zeit, jetzt lerne ich es eben anders als vor 50 Jahren, nicht weil die Hände, sondern das Gehirn dazugelernt hat, und jetzt begreifen sie es besser. Und mein Vater vor 100 Jahren, was hatte er noch vor sich?
„Du siehst, mein Sohn, zum Raum ward hier die Zeit.“
um 1922
Wagner an Klindworth am 14. Februar 1874 (Parsifal 1882 „Erleichterte Bearbeitung“) :
Kein Mensch spielt doch solch einen Klavierauszug, so wie Sie es sich gedacht haben. […] Also: lieber gleich nur Andeutung, während jetzt der gewöhnliche Klavierspieler doch nur durchkommt, wenn er über die Hälfte der Noten ausläßt.
Quelle siehe unter Klindworth-Wikipedia-Link.
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Vorstellung, man könne das Parsifal-Drama ideologisch retten, wenn man es (gegen Wagner) so auffasst, wie der RING aufzufassen ist (nach Dahlhaus):
Er setzte den Göttermythos musikalisch in Szene; aber er zeigte, durchaus im Geiste Ludwig Feuerbachs, eine Götterwelt, die gerichtet ist, auch wenn sie es noch nicht weiß. Wotan ist ein hilfloser Gott, ein Gott, dessen Zeit vorüber ist. Der Mythos wurde also von Wagner weniger konstruiert als destruiert, oder genauer: er wurde restauriert, um destruiert zu werden. Wenn er die Götter zitiert, so nicht, um sie zu verherrlichen, sondern um sie, wie er es in dem Entwurf von 1848 ausdrückte, der Selbstvernichtung in der Freiheit des menschlichen Bewußtseins preiszugeben. Die toten Götter kehren wieder, um noch einmal zu sterben.
Quelle Carl Dahlhaus: Richard Wagners Musikdramen / Friedrich Verlag Velber 1971 (Seite 111)
Vorweg zur Orientierung: youtube-Gesamtaufnahme Bayreuth 2012 Keine bewegten Bilder, nur Standfotos. HIERZweiter Akt 1:43:40 Dritter Akt 2:52:37
Quelle Richard Wagners Musikdramen / Edmund E.F.Kühn / Globus Verlag GmbH Berlin W66 / 1914
Am Tag danach
Vielleicht ein (vor-) letztes Fazit: Der dritte Aufzug des Parsifal war (und ist) mir schwer erträglich. Und das liegt womöglich weniger am Regisseur als am Komponisten. Mir scheint, dass die Musik, je stärker und positiver sie sich inszeniert, desto weniger überzeugend gelingt. Kein Vergleich zur Götterdämmerung, ganz zu schweigen vom Tristan. Beim Parsifal-Schluss denke ich an die Zukunftsvisionen der Zeugen Jehovas, Titelbilder von „Erwachet!“ oder „Der Wachtturm“, ohne sie diskriminieren zu wollen. Ich erinnere mich an den Film „Das Gewand“: Hollywood – ich muss googeln, es war wohl 1957 etwa, jedenfalls nach „Quo vadis“. Nein, es war 1953 (siehe hier).
Aber ich muss ehrlicherweise betonen: schwach finde ich die Musik, wenn einmal Klingsors Macht gebrochen ist. Und Kundry nur noch ein Schatten ihrer selbst…
Und nun die gute Botschaft
Man kann all dies jederzeit neu überprüfen – der Link „Parsifal“ bleibt aktiv bis Ende dieses Jahres!
Meine Entdeckung bei diesem Anlass: das Wagner-Buch von Claus-Steffen Mahnkopf – ungeachtet der Tatsache, dass ich es schon seit Jahren besitze. Erst jetzt weiß ich es zu schätzen. Doch darüber später mehr.
Nachtrag: Kritik
Ich erlaube mir nicht, das, was ich am Bildschirm gesehen habe, kompetent zu beurteilen. Viel zu selten gehe ich in die Oper, und gerade im Fall Bayreuth habe ich keine Vergleiche, kenne nicht einmal die „klassischen“ Videoaufnahmen ausreichend. Ich verlinke hier also auch eine bemerkenswert kritische Rezension, ohne sie zu kommentieren. Nur im Fall Klaus Florian Vogt würde ich ein großes Fragezeichen setzen. Auch der reinste Tor dürfte stimmlich und gestalterisch nicht so schwächlich wirken. FAZ heute, 27. Juli 2016.
Kritiker(innen) im Nachgespräch: HIER. „Ich fand diesen Abend grauenvoll!“ (Christine Lemke-Matwey)
Endlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen (oder was hat man auf den Ohren?): Ich muss dieses Buch vor dem Computer lesen, um mit gleichbleibendem Interesse dabeizubleiben, – das läuft nur über die Musik, nicht über die endlose Schilderung zahlloser Schlachten, Gräuel und Gemetzel. Ab sofort versehe ich jeden Bach mit seiner Ordnungszahl, und jedes genannte Musikstück versehe ich mit einem youtube-Hinweis. Ich vermute, dass der Autor keine Musik beschreibt, die nicht als Aufnahme vorliegt (absurd wäre, wenn er sich nur an Notenleser wendete).
Also, der erste Schritt ist der, die im Buch genannten Bache mit den Zahlen der im Anhang des Buches gegebenen Ahnentafel zu versehen. Ich befinde mich am Ende des Kapitels zwei, Suhl interessiert mich von vornherein weniger, vielleicht deshalb, weil ich den Städtenamen nur von Hinweisschildern auf der Autobahn kenne und von einem unsäglichen Schlager („ja die Ober-suhler Blasmusik“). Als ob Hagedorn es geahnt habe, beginnt er sein Kapitel mit der Frühgeschichte des Planeten Erde. Das scheint so grotesk, dass ich länger dabei verharren musste, nicht ohne zu lächeln. Aber ja doch! Es ist richtig, unseren Jahrtausend-Bach in diesen großen Kontext zu stellen, und nochmals: JA. Unseren Bach Nr. 24.
ZITAT
Die Kontinentalplatten haben sich ineinander verkeilt, gequetscht, aufgestaucht zu Fünftausendern im äquatornahen Thüringen. 360 Millionen Jahre ist das her. Neunzig Millionen Jahre später senkt sich das Gelände. Vulkane brodeln, ein tropisches Meer dringt herein, in das Magma quillt, Metalle werden ausgefällt, Eisen, Kupfer, Silber, Mangan, Gold, in weiteren Millionen Jahren von Ablagerungen bedeckt. Wieder hebt sich die Erdkruste, noch 65 Millionen Jahre bis heute, der Thüringer Wald wird erkennbar, aber noch lange kein Mensch, während die Saurier längst verrottet sind. Was Europa wird, ist vom Äquator nach Norden gewandert. Die Zeit rast, nur noch viertausend Jahre bis heute (…).
Meine Güte, wann wird er auf Bach kommen, wie der Pastor in der volksnahen Predigt endlich auf Gott? Sein Ziel aber ist Suhl! Waffen aus dem Eisen der Bergwerke dieser Stadt! Und dann der ganze 30jährige Krieg und die Pest. Und vor allem Bach 4 und Bach 5, und mit dem letzteren werden wir bald bei den Zwillingen 11 und 12 sein, von denen der erstere Johann Sebastian Bachs Vater werden sollte. Doch gemach!
Ich warte noch auf die andere Linie, aus der Bach 13 hervorgehen soll, der genau 300 Jahre vor meiner Generation geboren wurde (1642) und fast am selben Tag wie ich: Johann Christoph, dessen Lamento ich nie ohne Erschütterung hören werde. Als sei es gestern geschrieben worden: wer es nicht kennt, muss es hören und jetzt jede Lektüre unterbrechen. (Für später: Das Lamento wird bei Hagedorn auf den Seiten 125 bis 127 behandelt.)
ZITAT
Johann steht auf. „Ich zeig dir was.“ [Nr. 4 wird seinem Bruder Nr. 5 eine selbstgeschriebene Partitur zeigen]
Mit einigen Notenblättern kehrt er zurück, frisch liniert und beschrieben. Christoph liest. Sechs Stimmen. „Unser Leben“. Zweimal werden die Worte zu Anfang gesungen, in großen Akkorden. Zuerst c-Moll, mit kleiner Bewegung der Mittelstimmen zu G-Dur erleichtert, von dort in einem großen Schritt zu Es-Dur, ein Schritt, der von alten italienischen Quellen dieser Musik kündet und von einem ganzen Leben.
Spätestens hier ist man begierig, die Musik zu hören, nicht wahr? Es geht über diesen Link. Fortsetzung des Zitates zur gleichzeitigen Lektüre:
Unser Leben, sagt Johann in diesen ersten Takten, ist groß, schwer, reich. Aber es ist auch so leicht, dass es verweht. Aus dem B-Dur lösen sich eilige Noten. „Unser Leben ist ein Schatten.“ Der Schatten verflüchtigt sich nach oben in Sechzehnteln des Soprans, dann des Alts, dann beginnen die Schatten, in Terzen geführt wie Flatterbänder, sogar miteinander zu spielen.
Christoph kennt die Worte, sie stehen im Buch Hiob. „Und was du zu erst zu wenig gehabt hast“, übersetzt Luther, „wird hernach fast zunemen. Denn frage die vorigen Geschlechte / vnd nim dir fur zu forschen ire Veter. Denn wir sind von gestern her vnd wissen nichts / Unser Leben ist ein Schatten auff Erden. Sie werden dichs leren vnd dir sagen / vnd ire rede aus irem hertzen erfur bringen.“ Das alles hört er lesend mit in dem Satz, den Johann in Töne gebracht hat. Aber die folgenden Worte kennt er nicht.
Ich weiß wohl, daß unser Leben
oft nur als ein Nebel ist,
denn wir hier zu jeder Frist
mit dem Tode seind umgeben,
drum ob’s heute nicht geschicht
meinen Jesum laß ich nicht!
Drei Stimmen singen das, die zuvor nicht da waren, „Chorus latens“ hat Johann darüber geschrieben, „versteckt“, Alto, Tenore, Basso. Die andern sechs lösen sie lauter ab, sie wiederholen: „zu jeder Frist“. Und so tun sie es wieder mit der sechsten Zeile. Es sind die Lebenden, die von den Toten lernen, vom kleinen Chor aus dem jenseits, ohne den Glanz des Soprans, des Knabenalters, ein Chor der Väter, der den Söhnen das vorspricht, was sie dann in Zuversicht wenden.
Quelle Volker Hagedorn: Bachs Welt Die Familiengeschichte eines Genies / Rowohlt 2016 / S.95f
Hinzuzufügen wäre vielleicht, dass die zitierten Lutherworte nicht gesungen, sondern von Christoph mitgedacht werden. Bei dem Liedvers handelt es sich um die 4. Strophe des Chorals von Johann Flittner („Ach, was soll ich Sünder machen“), auf den Hagedorn zu Ende des Kapitels näher eingeht.
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Ein anderes Werk von dem oben genannten Christoph Bach (13), das Hagedorn im gleichen Kapitel ab Seite 132 behandelt, ist hier zu hören:
Von Johann Christoph Bachs (13) Bruder Johann Michael Bach (14) stammt die Komposition mit dem ostinato-ähnlichen „Halt was du hast“ zu dem Choral „Jesu meine Freude“. Er habe damit „die Höhe seiner Kunst erreicht“, schreibt Hagedorn Seite 135 und referiert ausführlich über die Rolle des Chorals im allgemeinen und insbesondere in diesem Werk:
Nun setzt Johann Michael [14] fort, was bei Johann Bach [4] begonnen hat und bei Johann Sebastian [24] die letzte Höhe erleben wird. Er steigert die Kraft des Chorals, indem er ihn zerlegt. Die Choralmelodie, von anderer Musik unterbrochen, beweist gerade dadurch ihre Bindungskraft, dass die Hörer sie weiterdenken und wieder aufnehmen können, zugleich wirkt sie wie etwas immer Vorhand[en]es, Ewiges, das wie durch Fenster zu erblicken ist. Michael stellt den Zeilen von „Jesu meine Freude“ die von „Halt, was du hast“ gegenüber. Während im Choral auf Ehren und Schätze verzichtet wird, glänzen dort die „Krone“ und das „herrliche Reich“, von dem die Offenbarung des Johannes spricht: „Ich komme bald, halt, was du hast, dass niemand deine Krone nehme!“ Die Krone steht für das Gottvertrauen.
Man könnte argwöhnen, dass es bloße Bildungsbeflissenheit sei, wenn jemand von Bach oder Goethe im wörtlichsten Sinne bewegt wird und ausgetüftelte Autostrecken zurücklegt, in bestimmten Städten endlos hin und her läuft, Berge hinauf, in Landschaften schaut und versucht, all dies zu lesen, wie ein vor 200 oder 300 Jahren geschriebenes Buch: wie hat er das gesehen, wie ist er vorangekommen, zu Fuß, zu Pferd oder mit der Postkutsche? Hat er stark übertrieben, als er schrieb, er sei in in 4 Stunden von Weimar bis (Groß-)Kochberg gelaufen. Wieviel Km sind das??? (Es sind 28! durch Vollersroda, Saalborn, Schwarza, Neckaroda.) Im Fall Goethe – ganz krass – will man aber vielleicht einfach wissen: Hat er nun mit Frau von Stein geschlafen oder nicht? In diesem goldenen Haus oder Käfig, – wenn der Hausherr unterwegs war oder mit seiner stillschweigenden Duldung? Nein, es ist keine Bildungsbeflissenheit: es sind bestimmte Zeilen von Goethe, der „Faust“ in der Tonaufnahme unter Gründgens (1957?) – wir kannten vieles auswendig, freiwillig lernend, auch Gedichte, „Urworte.Orphisch.“ Darunter tat ichs nicht. Oder: Sagt es niemand nur dem (oder den?) Weisen, weil die Menge gleicht verhöhnet, das Lebend’ge will ich preisen, das nach Flammentod sich sehnet. Oder alles, was Schubert vertont hat. Ich denke dein! Von Bach gehen mir durchaus nicht täglich die Kontrapunkte der Kunst der Fuge durch den Kopf, aber jederzeit die unglaublichsten Melodien, z.B. „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ oder der Mittelteil des ersten Satzes der Klavier-Partita in c-moll, – wer außer Bach konnte eine so anmutige und schmerzliche Girlande in die Luft zeichnen? Man höre hier, ich meine ab 1:00, aber bitte nicht ohne den pathetischen Anfang…
Und In diesem Saal des Gasthauses Goldene Henne könnte sich die Familie Bach um 1705 getroffen haben… Oder gegenüber in der Goldenen Sonne…
Und so soll er damals, als junger Mann, ausgesehen haben? (Nein! ich meine natürlich unten!) – Der Beschreibung nach könnte er z.B. lässig im Orgelspiel innegehalten und sich zurückgelehnt haben. Vielleicht einer göttlichen Eingebung nachlauschend? Aber ich vermute, zugleich soll betont werden soll, – wieviel Kinder er gezeugt hat. Schweigen wir von Jungfer Barbara. Es ist Markttag. Wir dürfen schwätzen.
In Arnstadt gekauft: das soeben erschienene Buch eines Autors, den ich aufgrund seiner Musik-Artikel in der ZEIT schon lange schätze: Volker Hagedorn. „Bachs Welt / Die Familiengeschichte eines Genies“ Rowohlt Reinbek bei Hamburg Mai 2016. ISBN 978 3 498 02817 8 Preis: rund 25 Euro.
Es geht um die Bachs vor Bach bzw. bis in J.S. Bachs frühe Zeit bei seinem Bruder in Ohrdruf, dazu ein „Krimi-Kapitel“ über die Wiederauffindung des Altbachischen Archivs. Ein künftig für jeden Bach-Verehrer unentbehrliches Buch, fabelhaft kenntnis- und materialreich. Trotzdem oder gerade deswegen muss ich hinzufügen: es ist 400 Seiten lang, und man kann es unmöglich in schnellem Tempo lesen. Immer wieder muss man unterbrechen, zurückblättern, Abschnitte und ganze Kapitel zum zweiten Mal lesen. Der Stil – ich schreibe das schweren Herzens – ist eher gelehrt als journalistisch, obwohl es ja von einem Journalisten stammt, der auch noch ein gefragter Musiker ist. Es liest sich etwas schwierig, ist aber keineswegs schwerfällig geschrieben. Vielleicht müsste man es als Lob fassen: der Mann weiß (zu) viel, er verfügt über eine unendliche Stoffmenge, und man könnte nicht sagen, dass irgendetwas daran überflüssig ist. Mein erster Impuls war: dieses Buch möchte ich diesem oder jenem interessierten Freund schenken, – aber ich würde ihm gleichzeitig einschärfen: es ist eine Zumutung! Du musst es wirklich lesen wollen. Und möglichst in Eisenach, Arnstadt, Wechmar und Ohrdruf gewesen sein.
Das Buch ist unglaublich sorgfältig geschrieben und lektoriert, trotzdem habe ich innerhalb der ersten Viertelstunde einen Druckfehler korrigiert und gebe es weiter, damit der Fluss nicht durch Zweifel unterbrochen wird: auf Seite 19 Zeile 11 soll es nicht Jahrgang 1655 sondern 1555 heißen. Eine andere Stockung als Beispiel: Auf Seite 31 taucht das Wort Waid auf: da ist die Rede davon, dass die männlichen Reisenden am Stadttor von Gotha „in ein Fass urinieren müssen, ein Wegzoll, der von den Färbern der Stadt zur Fermentierung des Waid gebraucht wird“… Ich kenne das Wort Waid nur vom Waidwerk und mag auf Reisen nicht im Smartphone googeln. Aber auf Seite 47 erfahre ich, wie es am 29. Mai 1613 in Thüringen stundenlang hagelte, dass die Geschosse die Größe von Waidballen erreichten und wohl auch die Dächer in Wechmar durchschlugen. Jetzt ist es soweit, also bitte Wikipedia unter Waid. Nein, Färberwaid ist das richtige Wort. Und dort unter „Verwendung“: „Aus diesem Mus wurden faustgroße Bällchen geformt, die sogenannten Waidballen.“ Aha, nicht etwa Taubenei- oder Golfball- oder Kinderkopfgröße: faustdick kam es! Gut, dass wir mal darüber gesprochen haben. – Aber bei dieser wohlwollenden Mäkelei soll es nicht bleiben. Ich muss als Beispiel eine hochinformative Seite zitieren, die verdeutlicht, dass kein Wort überflüssig ist, wenn man einen komplizierten Sachverhalt prägnant und in aller Kürze darstellen will. Vielleicht wird man nur in eine etwas übertriebene Erwartungshaltung gelockt, wenn das Buch gleich mit einem Überfall von Wegelagerern auf den Stammvater Veit Bach und seine Söhne begonnen hat. So kann es unmöglich über 400 Seiten weitergehen, bei solch einem Stammbaum, – den man vor dem rückwärtigen Buchdeckel studieren kann. Man lese doch als erstes das Kapitel Nachbemerkung Seite 397 ff.
Wenn man das obige Foto anklickt, erkennt man auf dem zweiten Dach ein Storchennest. Es befindet sich in Wirklichkeit auf dem weiter entfernten Schornstein der „Alten Mälzerei“.
Der unter dem folgenden Link erreichbare Zeitungsnotiz über einen Storch mit dem Namen Sebastian stammt offenbar vom Mai 2011: hier.
Überfall!
Das Wort Überfall bezieht sich auf den Anfang des Buches von Volker Hagedorn „Bachs Welt“: da erfindet der Autor tatsächlich einen Überfall auf den ins Heimatdorf zurückkehrenden Veit Bach mit seinen Söhnen. Die Szene hätte damals in einer extrem unsicheren Welt durchaus stattfinden können; ich stelle sie mir gern in dieser friedlichen Landschaft vor. Überhaupt lese ich alles noch einmal und bereue, was bisher an Mäkelei durchschien. Absurd und kleinkariert finde ich die Kritik, die sich ein Rezensent der Zeitung DIE WELT erlaubt, referiert bei Perlentaucher:
Martin Ebel gefällt, wie der Musikjournalist Volker Hagedorn den Alltag der Musikerfamilie Bach nacherzählt. Dass der Autor mitunter fremde Quellen einmontiert, um Lücken zu füllen und es ein wenig lebendiger werden zu lassen, kann Ebel ihm verzeihen, zumal der Autor den Leser ja nicht im Zweifel lässt über sein Vorgehen. Nicht immer interessiert Ebel, was Hagedorn auf seinen Recherchereisen so alles erlebt hat, aber das Musikleben in Arnstadt, Erfurt, oder Eisenach und die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, die Pest-Zeit auch, all das kann der Autor ihm farbig und alltagsnah kredenzen, sodass der Rezensent meint, dabei zu sein. Das tröstet ihn darüber hinweg, dass es für Experten nichts Neues in Sachen Bach nachzulesen gibt. Interessierte Laien kommen in jedem Fall auf ihre Kosten, versichert er.
Was für ein Experte hat denn hier den Experten gespielt??? „Nichts Neues in Sachen Bach“ für Experten, die sich die Wirklichkeit der Bach-Welt vergegenwärtigen wollen? Ist es denn nichts, wenn man „meint, dabei zu sein“??? Und welcher Experte weiß denn, in welcher Form die Realität damals von Musik durchdrungen war (Seite 23!) und wie sie sich in so einzigartiger Form kondensieren konnte? Schon nach den ersten beiden Kapiteln weiß man mehr, fühlt man mehr, als nach zwei Semestern Musikgeschichte, indem man nämlich das Kräftegemenge spürt, das damals in Thüringen und weit darüber hinaus wirkte. Oder wenn es um Italien geht:
Das alles sind nicht Taten einsamer Genies, sondern dicht vernetzter Geister, die auch Traktate schreiben, unzählige Briefe, über Grenzen und Konfessionen hinweg kommunizieren. Dass einer der größten Erneuerer Claudio Monteverdi ist, Kapellmeister am Markusdom im [sic] Venedig, stört die lutherischen Komponisten nicht. Sie begreifen Musik als gemeinsames Projekt gerade zu der Zeit, da in Deutschland die Heere ziehen und die Barbarei sich ausbreitet. (a.a.O. Seite 60)
Wie wunderbar und ideologisch mutig in einem Sachbuch, das Experten jede Menge an unbekannten oder nur zu wenig beleuchteten Fakten bietet!
Diese Sicht der Dinge ist zweifellos subjektiv, man muss sich auch die enorme Hitze der Tage dazudenken, das ermattende Herumwandern. Aber ich vermute, die Musik, die Auftritte der Musikgruppen auf den Bühnen und Plätzen, all das wird ohnehin von anderen fabelhaft dokumentiert. Ich empfehle zur Probe eine schöne Reportage aus dem Jahr 2006, als die Bretagne im Mittelpunkt stand: Hier.
(Text noch provisorisch. Oder improvisatorisch. Geht vielleicht weiter, wenn wir wieder proben.)
Ich kenne die Assoziationen, die der Titel dieses Beitrags hervorlockt, und nehme sie in Kauf. In dem Moment, da man einräumt, dass dieser bedeutende Komponist, von dem man Größtes erwartet, nichts besonders Bedeutendes sagen will, hat man die richtige (entspannte) Höreinstellung gewonnen. Gehört dazu nicht auch, dass auf ein Opus von solcher Ausdehnung als op. 128 ein leichtfertiges Liedchen folgt? („Der Kuss“).
Wenn ich allerdings dergleichen schreibe oder lese, wird mir ganz unbehaglich. Denn nichts ist einfach, und neu ist nun auch wieder nichts – oder vielmehr ALLES – nach fast 200 Jahren. Ich kann mich nicht einfach darin einrichten. Oder nicht mehr. Wie verhielt es sich eigentlich mit den Mehrheitsverhältnissen, auf die man in der Wiener Kultur nach 1820 rechnen konnte? Hat das Schuppanzigh-Quartett in den damals vergangenen 20 Jahren nicht für angemessenes Publikum gesorgt? Ist vielleicht bloßes Prestige eher messbar? Waren es dieselben Leute, die nun Rossini und Paganini zujubelten? Gab es eine gemeinsame Schnittmenge? Für 1804 galt vielleicht folgendes:
Es ist denkbar, dass Schuppanzighs Konzertpläne für den Winter 1804/05 Beethoven dazu [zu neuen Quartetten] anregten, denn durch öffentliche Konzerte war er erstmals für die Verbreitung seiner Kammermusik nicht mehr ausschließlich auf den Wiener Adel angewiesen. Der neuartige, geradezu sinfonische Stil seiner nächsten Quartette lässt erkennen, dass er an die akustischen Verhältnisse größerer Konzertsäle dachte.
Quelle Gerd Indorf in : Ludwig van Beethoven / Die Streichquartette (Hrsg. Matthias Moosdorf) Bärenreiter 2007 Seite 66.
„Verbreitung von Kammermusik“. Muss es nicht in jener Zeit, als sie entstand (und ihre Strukturen passgenau der geistigen Situation der Zeit entsprachen), den größtmöglichen Bedarf gegeben haben? Oder: stimmt vielmehr, dass es zu keiner Zeit eine solche Verbreitung von anspruchsvoller Kammermusik wie heute gegeben, rein zahlenmäßig, während sie zugleich nicht mehr passt ? Ist nur Prestige hinzugekommen oder auch Verständnis? „Einfachheit“ hat damals wie heute letztlich nichts mit dem Verlangen des Publikums zu tun, sondern damit, dass andere Stillagen, Sichtweisen, psychische Verhältnisse, gefühlte Relationen zwischen dem Einzelnen und der Masse in den Vordergrund gerückt sind. Also – Unterforderung als Anreiz!?
Gerade für uns heute scheint klassische Musik besonders schwierig, wenn sie sich einfacher gibt. Wenn sie uns entgegenkommt. Sie soll uns doch adeln, über unser Alltagsniveau (und das der anderen) hinausheben. Der Respekt vor Beethovens „Großer Fuge“ ist immens, aber es ist eine Sache des Ehrgeizes zu zeigen, dass man ihr gewachsen ist. Man will ihr nicht ausweichen. „Wie ein roter Faden zieht sich die Betrachtung der Großen Fuge op. 133 durch die Kapitel dieses Buches“, so liest man auf Seite 154. Daher am Ende die Zugabe der DVD „Ein musikalischer Bilderrausch“. Warum aber sollte man sich nicht – sagen wir – grundsätzlich für die Balance der Quartette op. 59 entscheiden?! Und dort stehenbleiben wollen? Wieso soll ich heute mit Hilfe des Visuellen begreifen, dass sich in einem höchst komplexen und schwierigen Werk „alle Facetten des Alltäglichen finden (…) genauso wie Banales und Erhabenes“? Während ich im Leben eine strenge Auswahl treffe.
Der Rausch der Bilder als Brücke der Erfahrung ist ein künstlerischer Versuch einer zeitgemäßen Annäherung an dieses Werk – offen im Ergebnis wie das Leben selbst.
So klingt in diesem Büchlein die Stimme des Leipziger Streichquartetts. Und gerade durch diesen visuellen Ansatz, in diesem Räderwerk der Bilder und Filmsequenzen, zeigt sich diese Stimme nach fast 10 Jahren als besonders zeitbedingt. Und im Fall des Opus 127 finde ich ganz andere Schwierigkeiten und suche nach ganz anderen Deutungen, rein verbalen vielleicht. Vielleicht bedarf es nur einiger Stichworte, um uns bei falschem Kurs den Wind aus den Segeln zu nehmen, den Rausch der intellektuellen Erwartungen zu mäßigen. In diesem Sinne die folgenden Konsultationen.
Quellen
Joseph Kerman: The Beethoven Quartets / Seite 229 – 238 / Greenwood Press, Westport Connecticut 1966 (Reprint 1982)
Martin Cooper: Beethoven The Last Decade 1817-1827 / Seite 349 – 358) Oxford University Press / Oxford New York 1970 (Reprint 1985)
Basil Lam: Beethoven String Quartets BBC Music Guides Ariel Music London 1975 Seite 75 – 83
(Hrsg. Riethmüller, Dahlhaus, Ringer) Beethoven Interpretationen seiner Werke Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1996 Band 2 Seite 278 – 291 Streichquartett Es-Dur op. 127 (William Kinderman)
Gülke, Indorf, Korfmacher, Moosdorf, Platen: Ludwig van Beethoven Die Streichquartette / Seite 91 – 96 / Bärenreiter Kassel 2007
Gerd Indorf: Beethovens Streichquartette / Rombach Verlag Freiburg i.Br. / Berlin / Wien 2. Aufl. 2007
Ich hatte bereits an anderer Stelle aus dem CD-Text ( „Auryn’s Beethoven“ TACET T 126) von Thomas Seedorf zitiert:
In keinem seiner vorangegangenen Quartette hat Beethoven jedoch dem langsamen Satz ein solches Gewicht und eine solche Ausdehnung gegeben wie in den Variationen in op. 127; nie zuvor hatte Beethoven im Kopfsatz eines Streichquartetts auf äußere Dramatisierung des musikalischen Geschehens zugunsten einer alle Stimmen des Ensembles erfassenden Kantabilisierung verzichtet; kein anderes Scherzo war bislang aus so minimalistisch miteinander verstrickten Kleinstelementen erwachsen, kein Schlusssatz schließlich hatte je eine solche innere Ruhe bei äußerer Bewegtheit.
Man mag alle formalen Details und biographische Hinweise aus Indorfs zuverlässiger Monographie entnehmen, inhaltlich Weiterführendes hat mir am meisten das Buch von Joseph Kerman gegeben, indem es Fragen beantwortet, die sich mehr beim Spielen des Quartetts stellen als beim Studium der Partitur. Gerade eine gewisse Ratlosigkeit des Musikers angesichts des ersten und des letzten Satzes führt hier zu einem positiven Ergebnis. Was hilft eine Kantabilisierung der Musik, wenn ich nicht mit Begeisterung in den Gesang einstimme? Wird nicht alles überboten und ausgestochen durch den langsamen Satz? Und schon sieht man den ersten und letzten als lange Verlegenheiten, wohl wissend, dass das nicht richtig ist.
Ich könnte aber auch bei dem technisch vertracktesten Satz den Hebel ansetzen, bei dem dritten: Scherzando vivace, zumal ich schon länger auf den Rhythmus fixiert war (siehe nochmals hier). Und schon fühle ich mich bei Kerman in besten Händen, wenn er das Ganze überblickt:
Song, not drama, grounds the tender first movement of this quartet, and song, however superbly und strongly molded, inspired the theme and variations of the Adagio.
Somewhere the later movements had to find a place for another quality – for something tougher, more intellectual, and more disruptive. As Beethoven planned the total sequence of feeling, the Finale was to return to the relaxed simplicity of the opening, leaving only the Scherzo to introduce the essential note of contrast. [Dem Oberbegriff Contrast hat Kerman das ganze Kapitel 8 gewidmet, davor stand Voice, danach kommt Fugue.]
Indeed the Scherzando vivace is one of Beethoven’s most explosive pieces, bursting with energy and malice, crackling with dry intelligence. To make the dance movement the center of tension in a cyclic work was in any case unusual, though something of the sort had been accomplished in the earlier Eb Quartet, Op.74.
Internal high contrast, I think one can say without forcing the case, is the clue to the quality of this movement in itself, as well as to its admirably calculated role within the quartet as a whole. (S.230)
Dies und die nächsten Zeilen, die ich später hinzusetzen werde, reichen, um mich für ein paar Stunden Arbeit zu motivieren, – inclusive sorgfältiges Üben des Scherzando-Satzes…
And then the Finale: one of Beethoven’s sweetest and simplest-sounding, as well as one oft the most perfectly conceived and executed. The folklike tone is so magical and true, so lively and calm, that one feels solemn to talk about subtleties of construction, long-term harmonic relationships, goals and contrast – all that. But folk accents can sound banal just as easily as enchanting. What sets and assures the tone is the way the musical elements are put together. (S.234)
It is the clownish A♮ that emerges as the final irreducible essence. (S.238)