„Meine Freundin, du bist schön“
Ich lese weiterhin in Volker Hagedorns Buch, das von Fakten und Materialien überquillt, wie eben „Bachs Welt“ (siehe schon hier) und die seiner Väter und Vorfahren, zugegeben: nicht immer kontinuierlich, habe mir notiert „Joshua Rifkin (Seite 123)“, weil ich ihn seit 1965 in Darmstadt kenne (aber er mich nicht), auch seine Arbeit mit (kleinbesetztem) Bach verfolgt habe (wie die von Andrew Parrott), und dann stoße ich heute wiederum auf ihn, als ich nach der Kantate suche, deren Titel oben geschrieben steht. Ich lese das Kapitel 4: DIE HOCHZEIT / Wie sich siebzig Bachs und Freunde am 29. April 1679 in Ohrdruf treffen und erstmals „Meine Freundin, du bist schön“ erklingt.
Ja, der junge Mann sah blendend aus, wurde von den Studentinnen umschwärmt, alle waren hingerissen, wenn er nur flötete: „Ich bin übrigens auch Subskribent der Haydn-Gesamtausgabe.“ Er schien keine finanziellen noch andere Probleme zu kennen und war wohl erst zwanzig. Ich habe in meinen alten Kalender geschaut, immer noch liegt die Visitenkarte von Ileana Melita und Ton de Kruyf darin, und auf der Rückseite steht…, na, wer wohl?
Ich lasse mir Zeit und überlege, warum wir kürzlich nicht, wie geplant, Ohrdruf besucht haben, man hatte uns abgeraten. Arnstadt war geplant, und dann war die Frage Ohrdruf oder Wechmar. Gut, ein andermal Ohrdruf. Im Grunde steht ja schon alles, was ich darüber brauche, bei Hagedorn: „…zwei Weltkriege und die zwei großen Stadtbrände von 1753 und 1808, deretwegen kaum eines der Gebäude noch steht, die die Bachs im April 1679 sehen konnten – bis auf Teile der Stadtmauer, einen Brunnen und den Turm der Kirche, in der die Hochzeit stattfand, und das trotz des Brandes immer noch stattliche Schloss Ehrenstein mit seinem Turm am anderen Ufer der Ohra. Nur am Straßenverlauf hat sich fast nichts geändert. In der Innenstadt käme man auch jetzt mit dem ältesten erhaltenen Plan, dem von 1747, ganz gut zurecht.“ (Seite 146 f)
Der Turm der Michaeliskirche, in der die Hochzeit stattfand.
„In diesem Turm überstand etwas die Ohrdrufer Flammenmeere (…): Es handelt sich um das ‚Trauregister Ohrdruf 1563 – 1808‘. (…) Für den April [1679] gibt es nur einen Eintrag, die zwölfte Trauung des Jahres: ‚Johann Christoph Bach, Hof-Musicus zu Arnstadt. Und J. Martha Elisabeth Eisentrautis, des K[irchners] Tochter allhier 29. Apr. (…) Es ist berauschend, nach Bergen von Sekundärliteratur eine echte Quelle erreicht zu haben. Eine kleine, nichts Bedeutendes, nicht das Autograph eines Komponisten, kein Splitter vom Kreuz, nur der Eintrag eines Kirchenbediensteten zu einer Hochzeit vor 335 Jahren, den ich wie eine Reliquie anstaune,“ schreibt Volker Hagedorn (Seite 166).
Ja, die wahren Reliquien besitzen wir nämlich schon: die Werke des anderen Johann Christoph (*1642), und eben auch jenes, das anlässlich dieser Hochzeit aufgeführt wurde. (Nicht in der Kirche, sondern nachher im Gasthof „Anker“). Und damit habe ich wieder den Schlüssel, dessen Anwendung das Interesse wachhält und weitertreibt. Kurz: die Musik!
Leitung: Joshua Rifkin. 8. August 2014 in der Bachkirche Arnstadt (nein, in der Oberkirche!). Gesang: Zsuzsi Tóth, Violine: Susanna Cortesio [Ogata] (s.a. hier und hier). Leider ist diese Aufnahme vorn und hinten abgeschnitten. Ich suche den Text, und finde ihn ebenfalls auf youtube in einer Gardiner-Aufnahme, siehe unten. Die Aussprache dieser Sängerin bleibt ohne diese Hilfe nicht ganz irritationsfrei; zudem beginnt das Stück in der oben gegebenen Aufnahme unvermittelt bei den Worten „…hält sich auch zu mir.“
Ciacona
Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Rosen weidet, und er hält sich auch zu mir. Seine Linke lieget unter meinem Haupt, und seine Rechte herzet mich.
Er erquickt mich mit Blumen und labet mich mit Äpfeln. Mein Freund ist mein, und ich bin sein, denn ich bin krank vor Liebe. Mein Freund ist mein, und ich bin sein.
Was wir hören, ist also lediglich eine verkürzte Ciacona, und diese ist auch nur ein (gewichtiger) Satz der ganzen Hochzeitskantate, die vollständig in der erwähnten Gardiner-Aufnahme vorliegt, leider aber mit einem unmöglichen Stand-Foto versehen ist, weshalb ich sie im Augenblick meide. Es gibt auch noch eine frühe Goebel-Aufnahme (mit der Rheinischen Kantorei, Maria Zedelius u.a.), die aber wiederum in technisch unerquicklicher Form auf youtube übertragen wurde. Also: ich bleibe zunächst bei der hier vorliegenden jüngsten Fassung, interessiere mich – wie übrigens auch Hagedorn – besonders für den Solo-Violinpart, der bei der Ur-Aufführung am 29. April 1679 von Ambrosius Bach (dem späteren Vater Johann Sebastians) gespielt wurde. Er hat übrigens auch die Noten ins Reine geschrieben, vermutlich um sie nachträglich zu überreichen, ergänzt durch einen launigen Einführungstext in 16 Paragraphen. Jedenfalls ist dies seine Handschrift. Der Komponist saß am Cembalo. (In den Geigen u.a. der 26jährige Johann Pachelbel.) Unten in den Noten habe ich mit rotem Kreuz den Punkt bezeichnet, wo unser Rifkin-Fragment der Ciacona beginnt, und schon auf Seite 4 vor dem grünen Kreuz wird ausgeblendet. Vielleicht passt ja die fragmentarische Form ganz gut zur Ciacona: die (gedanklich) ewige Wiederkehr des Bass-Themas entspricht der Ewigkeit der Liebe. Aber man traut seinen Ohren nicht, wenn die Braut (sie selbst hat damals gesungen!) zu den Worten kommt „denn… denn… ich bin krank vor Liebe, krank!“ Hagedorn beschreibt den Verlauf der Musik, nicht ganz frei von freiwilliger Komik: „Längst hat sich eine dunkle Glut ausgebreitet, da lehnt sich Nikolaus, der Erfurter Junggeselle, schwer ins tiefe F des Violone, Ägidius lässt aus seiner Bratsche ein H strömen, die Harmonie kippt über den G-Dur-Septakkord ins schwärzere c-Moll.“ (S.172f) Man horche besonders genau ab 6:00, er hat Recht: es ist ein Wunder von Musik!
Musik in Worten, das ist und bleibt ein Dilemma, und Hagedorn löst die Aufgabe mit Bravur:
Jetzt bluten alle Wunden, die Geige ist ratlos, sie scheint mit ihren Wendungen der Liebenden vorsichtig den Nacken zu streicheln… Ist es nicht die schönste Krankheit, die einem widerfahren kann? Und gibt es nicht wenigstens für sie ein Heilmittel? Und sind nicht alle hier, um die Heilung zu feiern? Die Sopranistin ist zurückgekehrt zu den Worten „Mein Freund ist mein“. Nun ist es kein Wunsch mehr, sondern Wahrheit, und die Violine rast mit Ambrosius (oder war es umgekehrt?) wie besessen vor Erleichterung durch die schnellsten Tonketten, die bis dahin für eine Geige geschrieben wurden. Für einen Moment kommt es Martha vor, als spiele da, mit herumfliegenden Locken, ihr Liebster selbst, ihr schwindelt. (S.173)
Ist doch Ambrosius der Zwillingsbruder ihres Bräutigams, ja ja… und glich ihm wie ein Ei dem andern. Aber – falls Sie die Violinnoten verfolgt haben – was geschieht nun nach dem Abreißen der hier vorliegenden Aufnahme, ab dort, wo das grüne Kreuz in den Noten steht? Es wird lustig. Ich gebe zunächst den Rest des Textes:
(14:24) Wo ist denn dein Freund hingegangen, o du Schönste unter den Weibern? Wo hat sich dein Freund hingewandt? Wohin? Wohin, wohin?
Mein Freund ist hinabgegangen in seinen Garten, zu den Würzgärtlein, dass er sich weide unter dem Garten und Rosen breche.
So wollen wir mit dir ihn suchen. (15:22 Orchester= „Suchen“ bis 16:22)
Ich habe meine Myrrhen samt meinen Würzen abgebrochen; ich habe meines Seims samt meinem Honig gegessen;
ich habe meines Weins samt meiner Milch getrunken.
(17:04) Esset, meine Lieben, und trinket, meine Freunde!
So sehe ich nun das für gut an, dass es fein sei, wenn man isset und trinket und gut’s Mut’s ist.
Denn das ist eine Gabe Gottes, wenn man isset und trinket und gut’s Mut’s ist.
Esset, meine Lieben, und trinket, meine Freunde, und werdet trunken!
Denn das ist eine Gabe Gottes, wenn man isset und trinket und gut’s Mut’s ist.
Das Gratias, das singen wir Herr, Gott, Vater, wir danken dir, dass du uns reichlich hast gespeist, dein Lieb und Treu an uns beweist, gib uns auch das Gedeihen darzu, unserm Leib Gesundheit und Ruh, wer das begehrt, sprech Amen darzu.
Die Live-Aufnahme unter Rifkin ist Gold wert, schon weil man auch die Geigerin (und alle anderen) in Aktion beobachten kann. Ich würde vorschlagen, bei der folgenden, reinen Tonaufnahme (ohne Live-Bilder) gleich in den letzten Abschnitt der Ciacona zu springen, um auch die andere Auffassung dieses Stücks noch mitzuerleben, aber dann vor allem den Fortgang ab dort, wo das grüne Kreuz in die Noten eingezeichnet ist. Die Violine pausiert bis 16:22. Sie schauen also besser ab dort in den Text: „Wo ist denn dein Freund hingegangen?“ (Rot gekennzeichet, wo ein parodistisches Element deutlich wird.)
HIER Johann Christoph Bach: Hochzeitskantate „Meine Freundin, du bist schön“ / John Eliot Gardiner / ABER: Kehren Sie gleich wieder hierher zurück, Sie können wechseln!
Ich würde vom ärgerlichen Kuss-Foto runterscrollen, so dass nur die Leiste des Wiedergabeverlaufs sichtbar bleibt; beginnen etwa bei 13:20, in der Ciacona (die bei 14:24 zuendegeht), kehren jedoch – weiter zuhörend – hier in den Blog zurück, lesen den Text mit oder Sie verfolgen einmal den Violone-Part: die Seite unten links ist zu dreiviertel noch mit dem „ewigen“ Bass der Ciacona gefüllt, die beim grünen Kreuz zuendegeht. Das blaue Kreuz in der letzten Zeile bezeichnet den Beginn des Orchester-Tuttis ab 15:22, das „Suchen“ im Bass.
Volker Hagedorn beschreibt diese Stelle folgendermaßen:
Jetzt kommt ein heiteres Intermezzo ohne Gesang, der Violone achtelt sich unter einzelnen Akkorden eine ziellose Linie zurecht, und natürlich verstehen alle, dass eben das die Suche ist. Schon 170 Jahre zuvor haben in Italien die Töne begonnen, den Worten zu folgen, sie zu übersetzen. Jede Bewegung nachzubilden, sei sie räumlich oder seelisch. ‚Hir‘, wird Ambrosius zu dem Intermezzo schreiben, ‚lauft der Bassus continuus continuirlich herumb und suchet: die andern Instrumenta schreiten auch bißweilen, so zu reden ein bißgen fort, bald stehen Sie wieder still und sehen sich gleichsam hir und dort ümb, biß endlich, da Sie den Liebsten im Garten gewahr werden, alle zusammen lauffen…‘
Und dann finden sie, in dieser verrückten Mischung aus Kammeroper, Volkstheater und Hohelied, den Bräutigam, der so biblisch wie sinnlich von Wein und Honig spricht und sich fast die Lippen zulecken scheint. Tatsächlich dringen aus der Küche schon Düfte in den Saal, aus denen sich der nächste Vierertakt von selbst zu formen scheint: ‚Esset, meine Lieben!‘ ruft Wendel, und Martha folgt ihm, dann spielen Ambrosius, dann Tenor und Alt, und unvorhergesehenerweise folgt auch der kleine Ludwig, der seinem Vater Jacob nun zwischen den Beinen hockt und mitkräht. Was sie gestern vom Blatt in den Wald sangen, a cappella, wird nun irdisch und prall (… S.174)
ZITATE aus: Volker Hagedorn: Bachs Welt. Die Familiengeschichte eines Genies. Rowohlt Reinbek bei Hamburg Mai 2016 ISBN 978 3 498 02817 6
Und nun? …ist es an der Zeit, die Hochzeitskantate „Tempore Nuptiarum“ als Ganzes zu hören, bzw. „Meine Freundin, du bist schön“, zumindest den Anfang bis zur Ciacona nachzuholen.
Meine Freundin, du bist schön. Wende deine Augen von mir, denn sie machen mich brünstig.
O dass ich dich, mein Bruder, draußen finde und dich küssen müsste, dass mich niemand höhnete.
Mein Freund komme in seinen Garten.
Ich komme, meine Schwester, liebe Braut, in meinen Garten.
Der Link ist oben bereits gegeben, und noch einmal HIER.
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Um es noch einmal in aller Kürze zu sagen: geheiratet hat Johann Christoph Bach (Stammbaum Nr. 12) und zwar in Ohrdruf, weil seine Braut hier zuhaus war; er ist der Zwillingsbruder von Ambrosius Bach (Stammbaum Nr. 11), der diese Kantate in Auftrag gegeben hat: und zwar bei seinem Vetter Johann Christoph Bach (Stammbaum Nr.13). Dieser saß bei der Aufführung am Cembalo, Ambrosius spielte Violine, und die Braut sang das Solo. (Die Bass-Partie ein gewisser Wendel Bach, Landwirt aus Wolfsbehringen, siehe auf der Stammbaumtafel ganz rechts, der zweite Wendel.)
Die Quelle der Faksimile-Noten findet man unter http://imslp.org/wiki/Meine_Freundin,_du_bist_sch%C3%B6n_(Bach,_Johann_Christoph) oder auch so. Man beachte den Text zur Copyright-Einschränkung.
Hier folgt noch ein Notenbeispiel zum Bass der Ciacona:
1) Johann Christoph Bach „Ciacona“ Takte der Modulation 2) Pachelbel „Kanon“ 3) Buxtehude „Passacaglia“ 4) Buxtehude „Ciacona“ 5) J.S.Bach „Passacaglia“ BWV 582
Aus dem Artikel „Ground“ von Richard Hudson in „The New Grove“ 7 (1980)
Ausklang: A propos „Wendel Bach“
Das vierte Kapitel des Hagedorn-Buches ist besonders ertragreich an erstaunlicher Musik. Immer mal gerät der kleine Ludwig in den Focus, „Luttich“ genannt, der zweijährige Enkel (*1677) von Wendel (1626-1682). 55 Jahre später wird er „eine fulminante, ja galaktische Trauermusik“ schreiben, so Hagedorn,
doppelchörig, und im zentralen Chor katapultiert er sich weit über das hinaus, was die Zeitgenossen kennen. ‚Meine Bande sind zurissen‘, lautet der Text, ‚Herr, es ist durch dich geschehn.‘ Die erlöste Seele ist nicht mehr an den Körper gefesselt. Das setzt Ludwig um in Rotationen, Staffelungen, Schnitte von so körperhafter Suggestivität, dass mitunter Effekte der Minimal Music sich einstellen. Die fürs Trügerische stehende Septakkordik zieht einem den Boden weg, saugt uns in einen kalten, dunklen, leeren Kosmos, und den füllt Ludwig später mit einem irrwitzigen Aufgebot jubelnder himmlischer Heerscharen.“ (Seite 179)
In der Tat, es ist unglaublich, und das Etikett TRAUERMUSIK führt irre. Die Musik hat einen Impetus ohnegleichen. Niemals würde man auf eine Entstehungszeit um 1710 kommen, auch nicht einen Augenblick an Johann Sebastian denken, allenfalls an einen wilden Chor wie „Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden“. Und sie ist uns nur erhalten, weil Johann Sebastian sie aufbewahrt hat. Wer diese Musik nie kennengelernt hat, – und in dieser Interpretation durch den RIAS-Kammerchor – bleibt um ein wichtige Erfahrung ärmer. (Wie ich – bis heute morgen!)
Nachklang: A propos Joshua Rifkin
Man könnte den Eindruck gewonnen haben, dass ich aus lauter Nostalgie Joshua Rifkin habe verherrlichen wollen. Mir ging es aber nur darum, an das Buch von Volker Hagedorn anzuknüpfen und eine sträfliche Bildungslücke meinerseits nachzubearbeiten: das Altbachische Archiv. Von dem ich durch Reinhard Goebel früh genug Gutes gehört hatte. Und was die Aufführungspraxis angeht, verlasse ich mich nicht auf Rifkin, sondern auf Goebel, den ich gern abschließend zitiere:
Wir wissen, dass Bach für bestimmte räumliche oder höfische Verhältnisse vierstimmige Solokantaten geschrieben hat, aber sicherlich nicht für die große Kirche. Was Joshua Rifkin, von dem ja die Idee des solistisch besetzten Chores stammt, gemacht hat, ist eine Fehlauswertung quellenkundlicher Zusammenhänge. Diese Besetzungsfragen werden mal richtig, mal falsch gedeutet. Ich muss immer lachen, wenn ich von einer „kammermusikalisch durchhörbaren“ Matthäuspassion sprechen höre. Das ist Musik, die einen auffressen soll, die Empathie erzeugt durch ihr Pathos, durch ihre Größe. Mattheson schreibt, e-Moll werde in der Kirche nicht so gern zugelassen, weil es zu leidenschaftlich sei. Dieser Eingangssatz ist in e-Moll!
Quelle http://www.concerti.de/de/689/blind-gehoert-reinhard-goebel-wem-nutzt-dieser-kaprizioese-unsinn.html bzw. hier.