Archiv der Kategorie: Indien

Annapurna Devi

Die große Künstlerin und Lehrerin ist am 13. Oktober gestorben 

Zu Lebzeiten ist sie früh verstummt. Erst aus dem Nachruf erfährt man, dass sie vielleicht ihrem Ehemann (bis 1981) Ravi Shankar den Vortritt gelassen hat. So jedenfalls schimmert es bei George Ruckert durch, der ein vertrauenswürdiger Gewährsmann ist. Hier die Quelle (The New York Times 24.10.2018).

 ISBN 81-215-0872-X (1998)

Darin über Ali Akbar Khan Seite 240 („eventually married“?):

 …spent learning from the same guru.

In Ravi Shankars Selbstbiographie „Meine Musik, mein Leben“ (Nymphenburger Verlagshandlung 1969) las ich 1974 von den Anfängen:

Und jetzt in Wikipedia hier folgendes:

Annapurna Devi became a very accomplished surbahar (bass sitar) player of the Maihar gharana (school) within a few years of starting to take music lessons from her father Alauddin Khan. She started guiding many of her father’s disciples, including Nikhil Banerjee and Bahadur Khan, in classical music as well as in the techniques and intricacies of instrumental performances. In 1941, age 14, she married one of her father’s talented students, Ravi Shankar. She converted to Hinduism upon marriage. 

In the 1950s, Ravi Shankar and Annapurna Devi performed duets in Delhi and Calcutta, principally at the college of her brother, Ali Akbar Khan. But later, Shankar she decided not to reduce and finally stop performing in public. Her student Vinay Ram says that she was uncomfortable accepting payment for concerts, as it was her belief that it was akin to selling Saraswati (the Godess of learning).

Ich werde sie nie vergessen, obwohl ich sie von allen großen indischen Künstlerinnen oder Künstlern am wenigsten kannte. Was von ihrer Musik erhalten ist, ist von dürftiger technischer Qualität, lässt aber ahnen, was sie für die Welt hätte sein können.

Nachtrag 2.11.2018 (Facebook-Hinweis von Manfred Bartmann. Danke!)

Die Web-Zeitung Scroll.in (Wikipedia hier) zitiert am 14. Oktober 2018 aus einer Biographie der verstorbenen Künstlerin: An unheard melody ANNAPURNA DEVI An authorised biography by Swapan Kumar Bondyopadhyai. 

Über das komplexe Verhältnis zu Ravi Shankar (mit interessanten Bildern) HIER !

Wie ich einen Raga lerne

Und zwar gerne…

  1. Ich präge mir seine Töne ein (die Skala). Wenn es sich um einen Raga der südindischen Musik handelt, versuche ich seinen Standort im Melakarta-System zu ermitteln, also anhand der alten systematischen Übersicht aller möglichen Skalen. Ich schaue immer noch in das Buch meines Lehrers Josef Kuckertz oder in das große Buch von Ludwig Pesch. Oder ins Internet, im Fall des Ragas Pantuvarali bin ich hochmotiviert und werde mithilfe dieser eiligen Methode über Wikipedia seltsamerweise sofort umgeleitet zu Kamavardani, nämlich hierher.
  2. Die Stellung im Melakarta-System (nach Kuckertz): Nr. 51

 

Josef Kuckertz: Form und Melodiebildung der Karnatischen Musik Südindiens / im Umkreis der vorderorientalischen und der nordindischen Kunstmusik (Wiesbaden 1970)

Zur Sicherheit schaue ich auch bei Ludwig Pesch nach und erfahre, dass der Raga zu den populären gehört, die Namen Kamavardan und Pantuvarali ihn gleichermaßen bezeichnen; darüberhinaus der Hinweis auf Purvi That, also die ihm entsprechende Skala in der nordindischen Musik.

Ludwig Pesch: The Oxford Illustrated Companion to SOUTH INDIAN CLASSICAL MUSIC (Oxford New York 1999)

3. Jetzt kürze ich ab und komme bereits zum schönsten Teil des Lernvorgangs: was macht denn eine solche Skala zu Musik? Es sind die melodischen Tonverbindungen und Ornamente, die aus bloßen Tönen energetische Prozesse hervorlockt (man könnte auch umgekehrt sagen: diese waren zuerst da, und erst die Abstraktion einzelner Töne hat die Darstellung der kahlen Skalen ermöglicht). Jetzt heißt es: hören, hören, hören.

4. Habe ich etwas davon – sagen wir mal: als Klavierspieler, als Mitglied eines Musikensembles oder eines Chores – , wenn ich dergleichen hören lerne? Ich muss es nicht nachmachen können, aber wahrnehmen, nicht nur obenhin, sondern im kleinsten Detail. Fast so, als wolle ich es notieren. (Bei Kuckertz war das genaueste Notieren die Hauptaufgabe in den Seminare. Dafür wurde das Tonband sogar auf halbe Geschwindigkeit eingestellt!) Die Chance ist groß, dass ich diese Details lieben lerne. Man muss es sehr oft wiederholen, die Wiederholung, das Eintauchen in die Details ist die Grundlage der Musik. Ich sage nicht: es ist gut fürs Gehirn. Es macht musikalischer, auch bei einer Mozart-Sonate, behaupte ich, obwohl man nichts davon mental direkt übertragen kann. Und das ist der wichtigste Grund.

Ein grundlegendes Buch über den Menschen und seine Musikalität hat einen recht einfachen Titel:

Rückblick

Soll ich es für einen Zufall halten, dass ich auf diesem Wege immer wieder auch auf meine ersten Begegnungen mit indischer Musik zurückverwiesen werde? Natürlich nicht. Der nordindische Sitarmeister Imrat Khan machte mich 1974 mit dem südindischen Thema „Vatapi ganapatim“ bekannt, ich schrieb den Text für seine Schallplatte, die damals bei der deutschen Harmonia Mundi herauskam. Und verfolgte die Quellen dieser Musik dank WDR weiter, produzierte sie mit bedeutenden südindischen Künstlern „im Original“ und machte Radiosendungen, in denen die verschiedenen Versionen verglichen wurden.

Ausschnitt aus meinem Kommentar zur Harmonia-Mundi-LP mit Imrat Khan (1974):

Und nun die freudige Überraschung des heutigen Tages, nicht voraussehbar gestern, als ich diesen Artikel begann (übrigens angeregt durch einen facebook-Eintrag des Musikethnologen Manfred Bartmann):

Ausschnitt aus der Vatapi-Transkription von Josef Kuckertz, enthalten im Beispielband seines oben angegebenen Buches über „Form und Melodiebildung der Karnatischen Musik Südindiens“ ( 1970):

Ragamalika am Ennore Creek

Recherche zur südindischen Musik

Blick über die Ennore Bucht bei Chennai (Foto: CC-by-sa PlaneMad/Wikimedia)

„Ragamalika“ wird die Verbindung verschiedener Ragas genannt, eine „Raga-Girlande“, und sie stellt eine Ausnahme in der indischen Konzertpraxis dar, in der prinzipiell die Einheit eines Ragas für die Länge einer einzelnen Interpretation gewahrt wird, ob sie nun 3 Minuten, 30 Minuten oder länger dauert: der Tonvorrat, die Skala und die typische Ausgestaltung der Melodielinien bleibt – bei aller Freiheit der Improvisation – unverändert, 1 falscher Ton würde das Tongebäude zum Einsturz bringen. Im Vortrag der Ragamalika gehört es zur besonderen Aufgabe, mehrere Raga-Charakteristiken nahtlos ineinander übergehen zu lassen. Im Fall der vorliegenden Aufnahme hört der Kenner nacheinander folgende Ragas:

Anandabhairavi, Begada, Hamir Kalyani, Devagandhari, Salaga Bhairavi  und Sindhu Bhairavi.

Mir sind nur wenige dieser Ragas gut bekannt, Sindhu Bhairavi etwa, oder Kalyani, aber – anders als in Nordindien – sind in Südindien, in der sogenannten karnatischen Kunstmusik, buchstäblich unzählige in Gebrauch. Ich schlage daher in dem großartigen Werk von Ludwig Pesch nach: The Oxford illustrated Companion SOUTH INDIAN CLASSICAL MUSIC Oxford University Press 1999. Dort werde ich glücklicherweise in allen Fällen fündig, und mit den Skalen versehen kann ich mich in der konkreten Musik auf die Suche begeben und die Reichweite der einzelnen Ragas bestimmen. Aber man darf sich nicht täuschen: ohne das Hintergrundwissen dieses Buches und viel Praxis kann man mit dieser Tafel allein wenig anfangen.

 Ludwig Pesch a.a.O. Seite 195

Ich sehe in Reihe 2 „Anandabhairavi“, in Reihe 4 „Begada“ – und hoffe, dass mir der Übergang nicht entgehen wird, da allein die Terzen schon einen Unterschied wie zwischen Moll und Dur ausmachen werden. Ich werde es melden…

Es ist interessant, das Mienenspiel und die Gesten des Sängers zu beobachten, egal ob man es aus der Sicht eines „Kulturfremden“ als unangemessen oder affektiert empfindet (was ganz im Auge des Betrachters liegen mag): es hat nicht mit Affekten zu tun, die aus einer (kaum beurteilbaren) Textdeutung abzuleiten sind, sondern mit dem unmittelbaren Verlauf der Melodielinie. Das ist wunderbar. Wir aber dürfen vielleicht anfangen, uns eher „technisch“ anzunähern, indem wir die Töne und Skalen identifizieren. Das Andere kommt im Laufe der wachsenden Erfahrung von selbst.

Und tatsächlich: man erkennt Grundton, Quinte und Nebentöne, im übrigen ein leicht berührtes E, und endlich ein Es, gerade dort  – bei 1:09 – sagt der Sänger „Anandabhairavi“! Ich warte auf die hohe Oktave und eine Rückkehr, um sicher zu sein… er führt die Töne unauffällig ein und hat bei 2:10 bereits das hohe D erreicht. Ab 2:57 jedoch glänzt die Oktave mehrfach, bei 4:51 sagt er „Begada“, nachdem er gerade den Ton E mit Sorgfalt etabliert hat. Als nächstes wird uns „Hamir Kalyani“ begegnen. Ich finde auf einer anderen Tafel bei Pesch zwei Varianten davon (ich kenne Kalyan aus Nordindien, der Raga ist auch als Yaman bekannt, die lydische Kirchentonart), Achtung: Fis wechselt mit F je nach Richtung der Melodielinie. Der Sänger kündigt den Raga an bei 8:17.

Ludwig Pesch a.a.O. Seite 197

Hamir Kalyan geht bis 10:46 – Ansage „Devagandhari“, ist auf der obigen Pesch-Tafel zu finden als 7. Reihe (4. von unten). Merkwürdiges Stocken bei 12:36 (er scheint zu überlegen), neuer Ansatz bei 12:51, 13:18 Ansage „Salaga Bhairavi“ (siehe im folgenden Ausschnitt letzte Reihe) – Abschluss bei 19:10, und hier beginnt laut Schriftzug „Poromboke“. Aber wo begann „Sindhu Bhairavi“? (Siehe im übernächsten Ausschnitt, 2. Reihe, zu beachten die fünf Tonvarianten am Ende der Reihe. Die Variante mit DES bei absteigender Melodielinie ist wesentlich!)

 Ludwig Pesch a.a.O. Seite 188

 Ludwig Pesch a.a.O. Seite 198

Mit dem Titel POROMBOKE sind wir beim zweiten, dem eigentlichen großen Thema. Jetzt wird der Text und die inhaltliche Information entscheidend. Und man könnte es sogar unwichtig finden, ob er musikalisch auf klassische Art behandelt wird oder – mit Pop-Elementen ausgestattet – einer entsprechend orientierten Hörerschicht vermittelt werden soll. Keine Entschuldigungen! Keine Vorbehalte! Hinein!!!

Poromboke is an old Tamil word meaning shared-use community resources like waterbodies, seashore and grazing lands that are not assessed for tax purposes. Today, it has become a bad word used to describe worthless people or places. Chennai Poromboke Paadal is part of a campaign to reclaim the word and restore its worth.

Kurangan is a Tamil pop-rock band
Kaber Vasuki [singer / songwriter]
Tenma [bass / music producer]
Krish [drums]
Sahib Singh [guitars]

Das Video wurde am 29.09.2016 veröffentlicht, samt folgendem Kommentar + Aufruf:
Chennai’s lifeline is in danger. The Kosasthalaiyar River and Ennore Creek are dying a slow death. If the river or creek have blockages, the city will continue to get flooded and the situation will get worse every year. Sign the petition and ask the Tamil Nadu Chief Minister to come up with a plan to save Chennai by saving the Ennore creek.

 

Der Text des Liedes „Poromboke“ von Kaber Vasuki (Zahl mit * = Wiederholung)

Poromboke is not for you, nor for me It is for the community, it is for the earth (* 4) – Poromboke is in your care, it is in mine (*2) It is our common responsibility towards nature, towards the earth – Poromboke is in your care, it is in mine It is our common responsibility towards nature, towards the earth The flood has come and gone, what have we learnt from that? (*2) – To construct buildings inside waterbodies, what wisdom is that? – The flood has come and gone, what have we learnt from that? – To construct buildings inside waterbodies, what wisdom is that? – On the path that rainwater takes to the sea What need have we of concrete buildings? (*2) – It was not the rivers that chose to flow through cities (*2) Rather, it was around rivers that the cities chose to grow – It was not the rivers that chose to flow through cities Rather, it was around rivers that the cities chose to grow And lakes that rainwater awaited Poromboke – they were reverently labeled (*2) After Ennore got its power plant (*2) – Acres of ash, but river scant – After Ennore got its power plant, Acres of ash, but river scant – The sea and the river, he has kept apart (*2) – The white sky, he blackened The sea and the river, he has kept apart – The white sky, he blacked (*2) Once he gets done with Ennore, he will come for your place too (*3) – If you stop, challenge or dare to resist, ‘MAKE IN INDIA’ he will lie and insist (*3) – Growth, jobs, opportunities; these are just flimsy excuses (*2) – For one who sold the waterbodies, the lake is mere poromoboke – Growth, jobs, opportunities; these are just flimsy excuses – For one who sold the waterbodies, the lake is mere poromoboke (*2) – You and I, then; what are we to him? (*2) We are poromboke too (*2) I certainly am poromboke! (*2) How about you? – Are you poromboke too? I certainly am poromboke! – How about you? Are you poromboke too? I certainly am poromboke!

Wikipedia über TM Krishna HIER

ZITAT aus dem Wikipedia-Artikel

The Chennai Poromboke Paadal music video was released on January 14, 2017 on YouTube. An initiative by T.M.Krishna and environmental activist Nityanand Jayaraman – the Tamil song was written by Kaber Vasuki and composed by R.K. Shriramkumar, and the video was directed by Rathindran Prasad. The video featured Krishna performing in and around the Ennore creek and highlighted the environmental damage done to the creek by the power plant [Kraftwerk JR] in that region. The music video trended on YouTube India for a week after its release becoming the first Carnatic song to trend on YouTube. The song’s title contained the word „Poromboke“ which formerly meant land of the commons but has become a popular swear word. The music video also garnered attention for combining Tamil slang dialect with carnatic music.

Sofia Ashraf und ein anderes Beispiel für das engagierte (umwelt-)politische „Lied“ in Südindien (Achtung: es geht um eine Aktion gegen Unilever im Jahre 2015):

Im Nachspann bei 2:42 zu beachten: „Supported by T.M. Krishna“ !

Warum der offenbar einverständliche Protest?

Information über Kodaikanal hier. Über Quecksilbervergiftung in Kodaikanal hier.

Ja, ich bekenne es, ungern bestelle ich mir ein Buch bei dem weltweit bekannten Versand, aber es ging mir darum, schnellstmöglich an die Literatur zu kommen, die mir das oben erwähnte Werk über South Indian Classical Music von Ludwig Pesch auf eine Weise ergänzt, die mir bisher verschlossen war. Seit ich 1967 die karnatische Musik Südindiens durch Josef Kuckertz im Kölner Seminar kennenlernte, – ohne seine peniblen Transkriptionsübungen hätte ich die Schönheit einer Krti von Muttusvami Dikdhitar vielleicht nie bemerkt – , seit damals jedoch gab es in erster Linie nur dieses Interessengebiet in Südindien für mich. Hier jedoch erwartet mich offenbar das entscheidende Bindeglied zur „Realität“:

 Worum gehts? 

ZITAT Pressetext

T.M. Krishna, one of the foremost Karnatik vocalists today, begins his panoramic exploration of that tradition with a fundamental question: what is music? Taking nothing for granted and addressing diverse readers from Karnatik music’s rich spectrum and beyond it, Krishna provides a path-breaking overview of south Indian classical music. He advances provocative ideas about various aspects of its practice. Central to his thinking is the concept of ‚art music‘, the ability to achieve abstraction, as the foundational character of Karnatik music. In his explorations, he sights the visible connections and unappreciated intersections between this music form and others – Hindustani music, Bharatanatyam, fusion music and cine music – treading new, often contentious, ground.

(Fortsetzung folgt)

Raga Darbari Kanada

Wie lebendig ist die Vergangenheit?

Der Zufall hat mich darauf gebracht, kein rundes Jubiläum o.dgl. , – was habe ich damals ein Wesens drum gemacht! Der 17. Juni 1970! Jetzt aber suchte ich nach Live-Aufnahmen von Faiz Ali Faiz, da stieß ich bei youtube auf die alten Aufnahmen der nicht mit ihm verwandten „Ali Brothers“ (Salamat & Nazakat Ali Khan) und hörte die Aufnahme, die ich kenne wie keine andere. Ja, und sogar die Farbe stimmt in etwa.

Ali Brothers Darbari CD World Network 1993Ali Brothers Darbari Booklet 1  . . . Ali Brothers Darbari Booklet 2  . . .Ali Brothers Darbari Booklet 3  . . . Ali Brothers Darbari Booklet 4Text: Jan Reichow (1993)

Und dann die Überraschung: derselbe Raga, dieselben Themen (?), dieselben Interpreten im Jahre 1954 (Salamat *1934), aber 1 Stunde länger… Stoff genug für eine vergleichende Dissertation.

Wie lebendig die Vergangenheit ist? – – – Als wenn es gestern gewesen wäre.

Denkwürdiges Plakat

Nachtmusik im WDR 1971

Nachtmusik im WDR

Die erste Saison der erfolgreichen Konzert- und Sendereihe, erfunden von Dr. Alfred Krings, realisiert gegen allerhand Widerstände. Allein schon die Tatsache, dass am Wochenende gearbeitet werden musste. (Krings arbeitete immer am Wochenende. Aber nun auch die Technik und festangestellte Mitarbeiter des Hauses.) Für mich von größter Bedeutung: die beiden RAGA-Termine, die mein Indien-Lehrer Josef Kuckertz moderierte; ich war noch freier Mitarbeiter des WDR („fester freier“), hatte im Frühjahr bei Prof. Josef Kuckertz promoviert, der auch schon Aufnahmereisen in Indien für den WDR gemacht hatte (mit Toningenieur Siegfried Burghardt; dieser saß daher auch in den indischen Konzerten immer am Mischpult). Für die Probe mit Chitti Babu gab es eine Live-Schaltung ins damals sehr populäre Mittagsmagazin, Hanns Otto Engstfeld als Reporter). Es war ein „Knaller“ im Kleinen Sendesaal. Chitti Babu war vorher auch in Donaueschingen, nur dieser Auftritt blieb in Erinnerung, auch die bei Harmonia Mundi produzierte LP wurde der Öffentlichkeit nicht recht vermittelt, nur im WDR blieb der Künstler über Jahrzehnte unvergessen.

Die nächste Raga-Nachtmusik am 23. Oktober 1971 präsentierte Musik aus Nordindien: Nikhil Banerjee, den vielleicht bedeutendsten Sitar-Spieler in einem hervorragenden Konzert. Nur der damals in Stuttgart wirkende Produzent Gopinath Nag hatte die Energie, dem WDR in den 90er Jahren einige der denkwürdigsten Ton-Dokumente für die Veröffentlichung „abzuringen“.

Nikhil Banerjee 1971

Mystisches Hören?

Nichts für Zweifler

HÖREN Farmer Zitat

Quelle Musikgeschichte in Bildern Band III: Musik des Mittelalters und der Renaissance / Lieferung 2 / Henry George Farmer: ISLAM VEB Deutscher Verlag für Musik Leipzig / ohne Jahr (JR Juni 1967 nach der Orient-Tournee + Wechsel der Studienrichtung). Zitat aus Einleitung Seite 8.

Ich habe in frühen WDR-Sendungen häufig daraus zitiert (z.B. ab „Wir Europäer“), um anzudeuten, dass orientalische Musik eines besonderen Hörens bedarf. Eine gute Ermahnung zweifellos, aber zugleich eine, die zu einer völlig falschen Hörerwartung führen kann (indem sie den Verstand auszuschalten sucht). Das wusste ich auch damals schon, aber ich dachte, es kann nicht schaden darauf hinzuweisen, dass man fremder Musik keinesfalls mit einem Spontan-Urteil begegnen sollte. Im Grunde habe ich vor allem an Geduld, Gewöhnung und Wiederholung (Übung) geglaubt. Mit anderen Worten: an kulturelle Prägung. Nicht mystische Einweihung oder Erleuchtung. Und erst recht keine Trunkenheit. Aber was nur soll denn das sein (im gedruckten Zitat): Musik per se ???

Was fällt Ihnen zu dem Thema ein – innerhalb unserer Kultur? Vielleicht das berühmte Miserere von Gregorio Allegri.

Eine Zwischenfrage also: macht Sie das folgende Video (samt Audio-Anteil) frömmer … oder musikalischer? Oder beides? Oder beides nicht?

Stichworte:

Suggestion des Raumes und des Lichtes (Vorstoß in höchste Höhen, räumliche Entsprechungen, Koordinaten), mittleres Predigerparlando, Wiederholungen, Erfahrungen des Christentums, Hoch und Tief, Irdische und Himmlische Musik, Ek-stase, Bachs „Musik für die Himmelsburg“… Mozarts, Mendelssohns frühe Begegnung mit dem Miserere von Allegri, Entzauberung = Entschlüsselung der Harmoniefortschreitungen. Mysterium der Geheimhaltung.

Kürzlich erhielt ich eine Mail von Peter Pannke , in der sich der Indien- und Sufi-Kenner kritisch zu einem Blogartikel äußerte und zur Erläuterung ein Gespräch beifügte, das Hinweise zum Musikhören enthält. Zu meiner Überraschung begegnete ich hier auch dem Mystiker wieder, den ich aus  Henry George Farmer’s oben wiedergegebenem Islam-Text kannte: Al-Hujwiri.

ZITAT

Wie weit ist es den außerhalb der Sufi-Tradition Lebenden und mit ihren Inhalten nur wenig oder gar nicht Vertrauten überhaupt möglich, diese Musik und Gesänge „richtig“ hören?

PANNKE: Es geht immer um kulturelle Muster, Hörgewohnheiten und Hörerziehung. Je mehr man durch ständiges Hören mit einer Musik vertraut wird, desto mehr kann man entschlüsseln. Ich habe häufig indische oder pakistanische Musiker zu Gast und gehe mit denen auch in die Philharmonie oder zu Pop-Konzerten und bin jedesmal überrascht, was sie dabei wahrnehmen oder wie sie das entschlüsseln. Es gibt eine Ebene von Hören, die kulturell und lernbedingt ist. Aber gleichzeitig besteht noch eine andere Ebene. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass es innerhalb jeder Kultur Menschen gibt, die einen spontanen Zugang haben zu dieser Musik und sie entschlüsseln können, also die kalligrafische Bewegung der Töne in einem dreidimensionalen Raum wahrnehmen. Anderen gelingt das nicht. Sie hören nur eine Monotonie. Dieser Unterschied ist nicht kulturell bedingt, sondern hängt vom Einzelnen ab.

Als Europäer sollte man in Erwägung ziehen, dass es Formen der Vermittlung von Traditionen, von Wissen, von Erkenntnis gibt, die anders sind, als die ihm vertrauten und die eben durch das Hören funktionieren. Wenn mir in Europa jemand eine Geschichte erzählt, stelle ich dabei einen qualitativen Unterschied fest zu dem Empfinden, wenn mir in Pakistan ein Musiker eine Geschichte erzählt, die er wirklich glaubt und die er auch so erzählt, als ob er sie selbst erlebt hätte und in der er lebt und die deshalb eine andere Form von Energie vermittelt. Man spürt das existenzielle Interesse. Die Kommunikation ist in der pakistanischen Kultur, wo Literatur immer als etwas Klingendes betrachtet wird, viel mehr auditiv als in unserer. So ist es zum Beispiel bei uns kaum mehr üblich, Gedichte zu lernen und zu rezitieren. Aber indem wir diese Fähigkeit nicht mehr entwickeln, verlieren wir auch einen gewissen kulturellen Zugang. In Pakistan sind die Texte von Shah Latif ein lebendiges Gut, das die Menschen jederzeit abrufbar haben.

Würden Sie sagen, dass das Hören in der östlichen Kultur generell einen höheren Stellenwert besitzt als in der westlichen?

PANNKE: Es war für mich eine sehr interessante Erfahrung, mich mit dem Phänomen des Hörens und der Einsicht, wie man durch Hören zu Erkenntnis kommt, innerhalb der islamischen Kultur auseinanderzusetzen. Ich machte dabei eine ganz ungewöhnliche Entdeckung. Ali al-Hujwiri, der Stadtheilige von Lahore, dem ein gigantischer Schrein gewidmet ist, den jährlich Millionen Besucher aufsuchen, schrieb ein Buch mit dem Titel „Kashf-al-Mahjub“. Dieses Buch wird in der Literatur häufig zitiert, weil Hujwiri darin viele Details erläutert wie etwa die Bedeutung der Flicken auf dem Derwischgewand und Ähnliches. Unter anderem wird Hujwiri mit der Aussage zitiert, dass es keine Etymologie für das Wort Sufismus gibt. Schlägt man nämlich irgendein Buch über den Sufismus auf, kommt man bereits nach wenigen Seiten an eine Stelle, wo es heißt, Suf bedeute Wolle, das verweise auf das Gewand der Asketen und daher stamme der Begriff Sufismus. Diese Erklärung existierte bereits im 12. Jahrhundert und Hujwiri kritisiert diesen etymologischen Ansatz. Seiner Darstellung zufolge liegt der Ursprung des Begriffs vielmehr auf klanglichem Gebiet. Entscheidend ist also die Klangzusammenstellung des Wortes Suf und nicht seine Bedeutung.

Diese Aussage weckte mein Interesse und so ließ ich mir das Buch über Fernleihe kommen. Es gibt in Deutschland nur ein einziges Exemplar, eine Übersetzung von Nickelsen, die 1923 erschien. Als ich das Buch in Händen hatte, stellte ich fest, dass es vor mir noch niemand gelesen hatte. Die Seiten waren nicht einmal aufgeschnitten. Ich stellte aber auch fest, dass es eines der faszinierendsten Bücher ist, die ich je gelesen habe. Die ursprüngliche Fassung ist in Persisch geschrieben, in einer sehr verschlüsselten Sprache mit vielen Bedeutungsebenen. Offensichtlich geht es um die Vermittlung eines Codes innerhalb eines Ordens. Im Schlusskapitel setzt Hujwiri sich mit dem Erlebnis des Hörens auseinander. Er erörtert das gemeinsame Hören von Tönen als spirituelles Erlebnis der Sufi-Zusammenkunft. Aus dem Indischen kenne ich die ungeheuer komplexe Philosophie über die Entstehung von Gedanken und Sprache durch Hören. Aber ich wusste nicht, dass es eine Entsprechung im islamischen Bereich gibt. Genau wie die Inder klassifiziert Hujwiri das Hören als höchste Sinneserfahrung. Sein Buch ist für mich ein zentraler Text der Menschheitsgeschichte, der eigentlich in jedem philosophischen Seminar gelesen werden sollte. Aber leider kennt ihn niemand.

Quelle privat, ©Peter Pannke

*  * *

Als ich dieses Interview las, schien es mir zunächst wie eine Bestätigung meiner schlichten These von der kulturellen Prägung des Hörens. Um so mehr interessierte es mich, als es dann in eine andere, subjektiv orientierte Richtung weiterging:

 Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass es innerhalb jeder Kultur Menschen gibt, die einen spontanen Zugang haben zu dieser Musik und sie entschlüsseln können, also die kalligrafische Bewegung der Töne in einem dreidimensionalen Raum wahrnehmen. Anderen gelingt das nicht. Sie hören nur eine Monotonie. Dieser Unterschied ist nicht kulturell bedingt, sondern hängt vom Einzelnen ab.

Um welche Musik es sich handelt, wird nicht weiter spezifiziert. Die interkulturellen Begegnungen finden in der Philharmonie statt, oder (!) es sind Popkonzerte. Handelt es sich „in der Philharmonie“ um differenzierte Werke der klassischen westlichen Geschichte? Ein Sinfonie-Konzert zum Beispiel? Auf der einen Seite indische (oder pakistanische) Musiker, die keine Erfahrung mit dem Hören westlicher Klassik haben, auf der anderen Seite – ein typisches Werk dieser Tradition, nehme ich an – sagen wir: die vierte Sinfonie von Brahms, und schon möchte ich schwören: es gibt keinen spontanen Zugang, keine „Entschlüsselung“ durch den fremden Rezipienten. Unmöglich. Könnte es sich nicht um eine allzu euphemistisch projizierte Deutung von Seiten des „Versuchsleiters“ handeln? Zumal schon etwas wolkig von einer kalligrafische[n] Bewegung der Töne in einem dreidimensionalen Raum statt von einem komplexen Musikwerk die Rede ist. Man verzeihe mir, wenn ich gerade von einem erfahrenen Wanderer zwischen den Welten detailliertere Beschreibungen seiner Erfahrungen und Beobachtungen erhoffe.

Im Fall eines Popkonzertes könnte man die Äußerungen, sofern sie sprachlich eindeutig sind, wahrscheinlich positiver einordnen: da gibt es vom Gestischen über den Rhythmus bis zu formal auffälligen Momenten der Musik (Refrains) zahlreiche überkulturell identifizierbare und deutbare Eigenheiten. Zumal die harmonischen Eigenarten der Popmusik – verglichen mit Klassik – zumeist klischeehafter in Erscheinung treten und selten bedeutungstragend sind.

Über das Hören jedoch, das Hudjwiri in seinem Buch offenbar zum Thema macht, kann ich mir kein Urteil erlauben. Ich würde zumindest unterscheiden wollen, ob es sich um Einzeltöne als akustische Erscheinung (von außen) handelt oder ob man sie selbst hervorbringt, vielleicht sogar mit eigenen Körperbewegungen verbindet. Wiederum anders läge der Fall, wenn (s.o.) „das gemeinsame Hören von Tönen als spirituelles Erlebnis der Sufi-Zusammenkunft“ gemeint ist. Daran ist vermutlich fast alles in langen Jahren eingeübt und aufeinander abgestimmt!

Das Hören im westlichen Konzertsaal, in einer gleichgestimmten (?) Gemeinschaft, ist ja ebenfalls eine mit den gesellschaftlichen Konventionen eingeübte Erfahrung, aber wiederum eine andere als etwa das einsame (?) Musikhören mit Kopfhörern, zuhaus in einem stillen Zimmer, nicht unbedingt „völlig losgelöst“, aber vielleicht im verschärften Elitebewusstsein, – wie auch der Eremit. Und all dies ist vorgeprägt durch Erziehung, fremde Einwirkung, durch erworbene oder durch teilweise bzw. weitgehend selbstgesteuerte, ja: erarbeitete Rahmenbedingungen.

So auch die ebenfalls westliche Hörweise, die im nachfolgenden Zeitungsartikel (heute, 6. November) zum Ausdruck kommt. Sie hat mit einer restriktiven Popmusik-Sozialisierung zu tun – die klassischen Erfahrungen fehlen, trotz der studienbedingten Fähigkeit, sie zu etikettieren, – was ich schon aus Fairnessgründen unkommentiert lassen möchte. Hat also wiederum mit einem Gemeinschaftsgefühl zu tun, mit dem jugendlichen Bewusstsein, einer Neuen Welt anzugehören und die klassische Welt mit einem sterilen Akademismus gleichzusetzen, also: auszuschließen. Verständlich die nicht weiter reflektierte Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen, „in der tobenden Menge eines Rockkonzerts“ abzugehen. Es geht überall ums Leben.

Rheinische Post Klassik bzw Gegw a

Spirituelle Bedenken?

Musik und Weltanschauung

Vor ein paar Tagen hat mich aufs Neue karnatische Musik aus Südindien bezaubert. Und es war für mich immer selbstverständlich, dass die berühmtesten „klassischen“ Werke dieser Kunst auf drei Dichter-Komponisten zurückgehen, die auch als „Heilige“ bezeichnet werden. Was nicht bedeutet, dass ich sie als solche verehre. Wenn ihre heute noch lebendige Musik mich nicht faszinierte, würde ich die überlieferten Texte und Gebete kaum beachten. Wissen Sie, wovon die Rede ist? Einen ersten Eindruck gibt der Wikipedia-Artikel hier , eine ausführliche Darstellung findet man hier.

Selbstverständlich respektiere ich die Bedeutung des weltanschaulichen Hintergrundes der indischen Musik; für mein eigenes Leben würde ich ihm aber keine besondere Stellung einräumen. Die Musik selbst ist es, die mich interessiert, alles andere bedürfte einer sorgfältigen Prüfung, die eher philosophischer Natur wäre. Wer von mir zu allererst Hingabe verlangt, Unterwerfung oder auch nur GLAUBEN, hat keine Chance auf Beachtung. Das schließt aber – wie gesagt – nicht aus, dass die Musik, die dabei zu hören ist, mich fesselt. Die Leidenschaft eines Sängers wie Nusrat Fateh Ali Khan hat tiefen Eindruck auf mich gemacht, ohne dass je ich den Wunsch gehabt hätte, in seine Refrains einzustimmen. Die Suggestion der Wiederholung stört mich, das missionarisch Betäubende.

Trotzdem interessiert mich die Wirkung, die von den Musikern persönlich und ihrer Selbst-Inszenierung ausgeht. Sie mag beabsichtigt sein, Teil der Aufführung – oder nicht.

Wenn ich Johann Sebastian Bach in einer Kirche höre, ergreift mich auch dieser Zusammenhang, aber ich leide nicht als reuiger Sünder und fürchte mich nicht vor der Hölle, wenn der Text davon spricht. Es wundert mich nur, warum der so ferne Bach mir so nahe kommt. Es hat auch nicht mit dem System da draußen zu tun. Trotzdem will ich alles wissen, was ihn bewegte, was er gelesen hat und was er erlebte.

Und wenn ich nun ein wunderbares, großes Konzert mit karnatischer Musik höre, studiere ich natürlich auch die Rahmenbedingungen, unter denen es stattfindet, soweit ich sie erkennen und beurteilen kann. Ich habe selbst viele Stunden verbracht im Festzelt, nahe beim Tempel von Tiruvayaru, wo er gewirkt hat.

Das war kein so glänzender Ort wie der, wo das folgende Konzert stattgefunden hat.

Klicken Sie auf das Bild – oder falls es ein externes Fenster sein soll – Hier.

Das Konzert beginnt nach dem Einschalten des Bordunklanges und dem Einstimmen der Instrumente etwa bei 4:00. Man hat vorher die Künstler ihren Platz einnehmen sehen, sie wurden von einem offiziellen Redner vorgestellt, man hatte das hinter ihnen und seitlich von ihnen versammelte Publikum gesehen und zuletzt unverwandt in Richtung einer Art Altarwand geschaut, auf die hin auch das Podium gerichtet ist. Die Künstler schauen auch in diese Richtung, ebenso das gesamte Publikum in ihrem Rücken. Ich werde mich auch noch der ausschließlichen Betrachtung dieses Publikums widmen, unter den Jugendlichen zur Rechten erkenne ich ausschließlich weißgewandete junge  Männer. Im Zentrum der Altarwand sieht man eine mächtige Gestalt im orangefarbenen Kleid thronen, die rechte Hand zum Gruß oder Segen erhoben. Die Haarpracht würde ich in einer anderen Umgebung als Afrolook kennzeichnen, hier könnte ich nicht einmal entscheiden, ob es ein  Herr oder eine Dame ist, ob er oder sie lebt oder nur überlebensgroß  von einem Bildhauer geschaffen ist. Zu meiner großen Überraschung sieht man im letzten Abschnitt des Videos bei einem Kameraschwenk (59:29) plötzlich die gleiche oder eine ähnliche Person auf einem breiten Sofa sitzen, das an blumengeschmückten Seilen hängt und vor- und zurückschwingt. Und diese Person lebt, jedenfalls hebt sie die rechte Hand, zeigt einzelne Finger, drei Finger, vier Finger, später noch einmal die gespreizten Finger. Vielleicht heilige Zeichen an die Menschen im Saal.

Wo befinden wir uns? Unter dem Youtube-Video ist es näher bezeichnet: Classical Instrumental Music Programme on Guru Poornima – 2017 at Prashanthi Nilayam, Puttaparthi. Und der Mann, der es eingestellt hat, könnte derselbe sein, der anfangs die Einführungsrede gehalten hat: Saikrishna Ravikanti. Wenn man seinen Namen bei google eingibt, findet man viele Videos dieser Art, und überall schaut auch das mächtige Haupt des orangegewandeten Herrn hervor.

Ich konzentriere mich zunächst auf Guru Poornima und erfahre auf einer Yoga-Webseite, dass es sich um einen spirituellen Feiertag handelt. Prashanti Nilayam führt zu einem bestimmten Ashram; der Wikipedia-Artikel besagt, dass es der Ashram eines berühmten Gurus ist, vielleicht vergleichbar mit Bhagwan oder Mahesh Mahesh Maharishi Yogi, die im Westen vor vielen Jahren allzu bekannt geworden sind: Sathya Sai Baba. Man erfährt viel über ihn im Wikipedia-Artikel hier, man ahnt all das Unerfreuliche, das sich hinter einer solchen Organisation, solchen Machtstrukturen verbirgt. Zweifellos ist er derselbe, der in unserm Video 2017 als Bild oder als lebende Person (in der Schaukel) zu sehen ist, laut Wikipedia aber schon 2011 verstorben ist. Vielleicht wurde bei 59:29 im Video oder im Konzert selbst ein Film eingespielt, das ihn zu Lebzeiten am selben Ort zeigt?

Das folgende Beispiel zeigt eine ganz andere Form karnatischer Musik und karnatischer Violine vom 4. Sept. 2017, aber wiederum unter derselben Schirmherrschaft, abrufbar HIER.

Guru in Prasanthi Nilayam Ansicht

Dieser Blog-Beitrag dient nicht der weltanschaulichen Werbung, sondern der Aufklärung. Die Ausdrucksformen der indischen Frömmigkeit unterscheiden sich nicht prinzipiell von solchen, die man an den betriebsamen christlichen Wallfahrtsorten etwa in Lourdes, Fatima oder Altötting erlebt. Aber sobald ich eine Musik höre wie die zu Beginn des Artikels, so versinken alle Bedenken. Die Grundbedingung wurde erfüllt: es war möglich, alle störenden Momente wirklich auszuschalten. Die Dummheit, die überall lauert, darf ein kluges Ereignis nicht überlagern. Was auch immer vom Hintergrund zu halten ist: Eine so schöne Aufnahme karnatischer Musik in dieser Länge und Klarheit wird man so leicht nicht wieder finden.

Message zur indischen Geige

Charumathi Raghuraman

Ardanarishwaram d Ardanarishwaram e

Die Botschaft erreichte mich aus den Niederlanden:

Hi Jan,

Here’s – as promised – my mail. Via messenger I sent you a short message yesterday about a brilliant violinist I’d like to recommend, but perhaps you already know her: Charumathi Raghuraman (born in 1987). Here’s a short bio of her from 2008 (republished on the web in 2012):

http://srutimag.blogspot.nl/2012/09/generation-next_10.html

She’s a foremost disciple of legendary violin player T.N. Krishnan.

If I’m not mistaken, Jan, you play the violin yourself and with your great knowledge of raga music I wanted to share some information. I think Charumathis’s playing represents the best of what carnatic violin playing has to offer – indeed, she’s one of my great favourites. At the end of my latest edition of my Concertzender-programme ‚Wereldmineralen‘, this one

Pieter de Rooij HIER

(via the link you can listen to the programme). I included this very beautiful performance https://www.youtube.com/watch?v=DPBbO7qd1C4

I’d love to hear your opinion on her playing, in particular this performance. The video shows Charumathi Raghuraman on violin, her husband Anantha R. Krishnan on Mridangam and Anuradha Genrich on tanpura.

It’s a well recorded live performance at the Sargfabrik in Vienna, earlier this year. The wonderful composition „Ardhanarishwaram“ is from Muthuswami Dikshithar, it’s played in raga kumudakriya; the tala is rUpakam.
More of her playing in good quality can be found on her YouTubechannel. She accompanies many great carnatic artists, such as for instance Ranjani and Gayatri.
I’ve been an admirer of Charumathi’s playing since approximately 2010/2011, and I’m curious about your thoughts of her.

All the Best / Hartelijke Groeten,

Pieter de Rooij

***

Wie froh ich war über diesen Hinweis und die Anregung, mich endlich wieder intensiver der indischen Musik zuzuwenden, der südindischen wohlgemerkt, mit der im Kuckertz-Seminar 1967 alles anfing, als wir eine Krti im Raga Mayamalavagaula zu transkribieren hatten. Dazu gehörten endlose Wiederholungen kleiner Abschnitte, so oft, bis man jede Nuance einigermaßen klar erfasst hatte. Im Glücksfall konnte es folgendermaßen aussehen, aber so sah es nur bei Kuckertz selbst aus; die Niederschrift war am Ende zugleich der erste Schritt zur Analyse. Zeile für Zeile beobachtete man das sich allmähliche Aufwölben der Varianten und empfand am Ende beim Wiederhören all dieser Figuren auf dem Saiteninstrument Vina unweigerlich Vergnügen.

Mayamalavagaula Kuckertz Transkription

Quelle Josef Kuckertz: Form und Melodiebildung der karnatischen Musik Südindiens / Otto Harassowitz Wiesbaden 1970

Was tue ich also als erstes, wenn ich diese Musik höre? Es ist leicht, dem visuellen Zauber des Films zu entgehen, da die Interpreten ziemlich ins Dunkel getaucht sind, so dass man sich vollkommen auf die abstrakten Tonfolgen konzentrieren kann. Zunächst auf die Töne des Ragas KUMUDAKRIYA, um den es – wie ich lese – hier gehen wird. Also:  HIER. Zuerst den Grundton sicher erfassen, nicht irritieren lassen, dass die Geige auf der großen Terz beginnt; wenn wir den Grundton mit C gleichsetzen, handelt es sich also um den Ton E, angeschliffen vom Ton Des aus; über dem E wird ein Fis berührt, dann folgt der Abstieg über E – Des – C. Damit sind wir bei 0:17. Vom mehrfach wiederholten Ton C aus geht es abwärts, – aber auf welche Töne? Ich nenne sie As – Fis – E, – ob ich das As später als Gis hören will, lass ich einstweilen offen. Es geht über dieselben Töne wieder aufwärts zum C, wir sind bei 0:33.

Charumathi nach 0 33

Neuansatz auf tiefem E, aufwärts zum C, über As auf Des springend, vom C kurz zurückgleitend auf As. 0:47.

Charumathi bis 0 47

Von As über C und Des zum E (gehalten), Fis – Gis – Fis – E  – Fis – Gis – Fis – E – Des – C . 0:58.

Charumathi bis 0 58.

Von As über C und E nach Fis – Gis – Fis – etc. – E – Des … bis C (und absinkend zum As). 1:21.

Charumathi bis 1 21

Von As schnell zu C – und zurück – As- Des – C – As Sprung rauf zum Fis etc.      C. 1:42

Charumathi bis 1 42

Alapana geht in dieser Form bis 6:21; dann beginnt Kriti (+ Mrdangam-Trommel).

Pallavi 6:24 bis 7:50 / Anupallavi (?) bis 9:20 /  Carana (?) bis 10:24 / Ende 12:04

(Fortsetzung folgt)

Einige Zwischeninformationen: wer ist der Komponist dieses Werkes (das bei 6:24 beginnt)? Muthuswami Dikshitar – siehe dazu Wikipedia HIER

Wie wird seine Komposition, die mit den Stichworten  ardhanarishwaram (Textbeginn)  dikshitar (Komponist + Dichter) kumudakriya (Raga) zu finden ist, im Original gesungen? Siehe unten die Aufteilung (und die Wiederholungen) des Textes, der unter dem Video angegeben ist.

Pallavi

0:05 ardha nārīśvaraṃ / ārādhayāmi satataṃ //  0:15 / 0:25 / 0:35 /

0:45 atri bhṛgu vasiṣṭhādi muni bṛnda vanditaṃ śrī

0:50 ardha nārīśvaraṃ / ārādhayāmi satataṃ

1:00 atri bhṛgu vasiṣṭhādi muni bṛnda vanditaṃ śrī

1:05 ardha nārīśvara u———– 1:13 — 1:23

Anupallavi

1:24 ardha yāma alaṃkāra / viśēṣa prabhāvaṃ // 1:34 / 1:44 / 1:54 /

2:04 ardha nārīśvarī priya-karaṃ abhaya karaṃ śivam

2:09 ardha nārīśvaraṃ —-

2:16 ardha nārīśvarī priya-karaṃ abhaya karaṃ śivam

2:21 ardha nārīśvaraṃ / ārādhayāmi satataṃ

2:31 atri bhṛgu vasiṣṭhādi muni bṛnda vanditaṃ śrī

2:36 ardha nārīśvaraṃ —-                    2:55

Charanam

2:56 nāgēndra maṇi bhūṣitaṃ nandi turagārōhitaṃ // 3:06 /

3:16 śrī guru guha pūjitaṃ kumuda kriyā rāga nutam // 3:26 /

3:36 āgamādi sannutaṃ ananta vēda ghōṣitaṃ // 3:41 /

3:45 amarēśādi sēvitaṃ ārakta varṇa śōbhitam

3:51 ardha nārīśvaraṃ —–

3:58 āgamādi sannutaṃ ananta vēda ghōṣitaṃ

4:03 amarēśādi sēvitaṃ ārakta varṇa śōbhitam

4:08 ardha nārīśvaraṃ / ārādhayāmi satataṃ

4:18 atri bhṛgu vasiṣṭhādi muni bṛnda vanditaṃ śrī

4:23 ardha nārīśvaraṃ —–

4:31 ya———————- 4:44 (Mrdangam) Tanpura //

Nicht so wichtig, wie man vielleicht denkt, ist es, diese Verse zu verstehen (eine Übersetzung soll andeutungsweise folgen), sondern sie als „Melodieträger“ zu verfolgen und die Gliederung zu verstehen; veränderte Silbenfolgen einem veränderten Linienverlauf zuzuordnen. Die vielmalige Wiederholung wird das Melodieverständnis wachsen lassen. Was den Text angeht: die Interpretation all dieser Gesänge auf Vina oder Violine wird ja allgemein akzeptiert. Und man muss nicht davon ausgehen, dass das Publikum dabei den Text im Stillen mitdenkt. Es ist reine Musik…

Wer Noten lesen kann, sollte unbedingt die Töne der Skala im Auf- und Abstieg zu singen versuchen, was nicht ganz leicht ist. Als Grundton (Sa) nimmt man in westlicher Notation immer den Ton C. Wobei die absolute Grundtonhöhe der indischen Interpretation unterschiedlich sein kann: Zum Beispiel steht die Version mit der Geigerin Charumathi Raghuraman auf dem Grundton F, die Version der zuletzt gehörten Sängerin auf G, aber nur wenn wir sie beide auf dem Grundton C notieren, sind die verschiedenen Versionen leicht miteinander vergleichbar.

Kumadakriya Skala

Dies ist die Skala, die üblicherweise für den Raga Kumudakriya angegeben wird, – meist mit indischen Tonnamen oder anhand einer abgebildeten Klaviertastatur, die mit den entsprechenden Buchstaben versehen ist. Man sieht, dass der Abstieg sich in einem Ton vom Aufstieg unterscheidet, was sehr häufig bei Ragas der Fall ist (sonst auch mit Tonvarianten).

Das Diksitar-„Thema“, das gesungen wird, klingt als sei es die Demonstration der Skala mit Vertauschung von Auf- und Abstieg. Trotz der wenigen Töne, braucht man einige Zeit, um sich der Identifizierung zu vergewissern. Ich habe zudem Fis und As etwas willkürlich ausgewechselt (es handelt sich einfach um denselben Ton). Mit dem Blick auf dieses „Thema“, ob korrekt notiert oder nicht, kann man leicht feststellen, wie im weiteren Verlauf statt wörtlicher Wiederholungen melodische Verwandlungen erfolgen. (Nicht zu vergessen: ich schreibe hier keine wissenschaftliche Arbeit, für die ich enorm viel mehr Aufwand treiben müsste, sondern ??? – ICH ÜBE NUR, wenn auch mit ein wenig Vorwissen und einer gewissen Erfahrung. Nur deshalb erlaube ich mir, auch anderen Leuten meine Übungen vorzuschlagen…)

Kumadakriya Skala & Thema

Übrigens können Sie jetzt auch leicht von 1 bis 12 mitzählen und haben dann unterschwellig eine Vorstellung von der – durch die Mrdangam-Trommel markierten -TALA-Periode, in diesem Fall RUPAKA. Und wenn Sie das Gefühl haben, etwas gelernt zu haben, so versuchen Sie doch (zurück zum Anfang!) den gleichen musikalischen Vorgang bei der Geigerin Charumathi Raghuraman mitzuvollziehen. Ich beende hiermit diesen Artikel, bin aber in Wahrheit noch lange nicht fertig!

DANK AN PIETER DE ROOIJ !

Die Teilung Indiens

Vor 70 Jahren (nicht vergessen!)

Screenshot Wiki Teilung Indiens Teilansicht

Vollständiger Wikipedia-Artikel über die Teilung Indiens HIER

Flüchtlingsbewegungen

Partition_of_India-en.svg

Quelle: Wikipedia Partage de l’Inde.svg: historicair 17:15, 19 November 2006 (UTC)

DER FILM (26:25)

ZITAT:

On August 15, 1947, the Partition of the Indian subcontinent created two nation states – India and Pakistan.

In this two-part special, 101 East traces the events and conflicting politics that led to the greatest migration of people in human history, and unleashed a wave of communal violence that claimed more than a million lives.

The Partition sparked three wars, the birth of Bangladesh, and transformed Kashmir into the world’s most militarised zone.

As tensions between India and Pakistan persist, 101 East explores the Partition’s troubled legacy and the unresolved geopolitics between the two nuclear powers.

Screenshots aus dem Film:

Screenshot 2017-08-13 20.29.29 Radio a Screenshot 2017-08-13 20.29.56 Radio b Screenshot 2017-08-13 20.31.46 c Screenshot 2017-08-13 20.31.54 d

Dank an Manfred Bartmann!

Rekapitulation des gut und konzise geschriebenen Buches von Dietmar Rothermund: „Indische Geschichte in Grundzügen“ (Wissenschaftl. Buchgesellschaft Darmstadt 1989). Ich notiere die einst von mir unterstrichenen Zeilen zur historischen Situation:

Indien hat eine lange Himalayagrenze mit China, die den meisten Indern als natürliche Grenze und unüberwindliche Barriere erschien. Die Menschen, die im Gebirge leben, sehen diese Grenze anders, oder besser gesagt, sie sehen sie nicht, wenn sie auf Handelsstraßen und Weidepfaden die Berge durchqueren oder gar nomadisch in einer Jahreszeit hier, in der anderen dort verweilen. Erst die Briten hatten sich systematisch um die Erkundung und Markierung dieser Grenze bemüht, doch auch für sie blieben noch viele weiße Flecken auf der Landkarte, auf der sie oft recht willkürlich die Linien zogen, ohne sie im Gebirge selbst durch Grenzsteine nachziehen zu können. (S.124)

Im Mai 1964 starb Nehru, nachdem er erleben mußte, daß seine Außenpolitik, die zum Ziel hatte, Indien im Rahmen einer globalen Friedenspolitik zu sichern, gescheitert war. (S.127)

Nach der industriellen Revolution in England kam es den Briten nur darauf an, ein möglichst hohes Steueraufkommen in Indien zu erzielen, eigene Industrieprodukte, vor allem Textilien dort abzusetzen und aus Indien Rohstoffe und Agrarprodukte zu exportieren. Um den jährlichen Tribut, die sogenannten Home Charges, und dazu den wachsenden Schuldendienst zu zahien, mußte Indien immer einen Exportüberschuß erzielen. (S.146)

Trotz des Preisverfalls in der Weltagrarkrise exportierte Indien den billigsten Weizen, während in Indien selbst wiederholt Hungersnöte herrschten. (…) Die industrielle Entwicklung Indiens wurde durch die Kolonialmacht nicht nur nicht begünstigt, sondern absichtlich verhindert. Alle Industrieprodukte bis zur letzten Eisenbahnschiene und zum Brückengeländer wurden aus England eingeführt. (S.147)

Eine eigenständige Industrie, die nicht für den Export, sondern für den einheimischen Markt produzierte, entwickelte sich in Indien geradezu gegen den Willen der Briten und ohne wesentliche Beteiligung britischen Kapitals – die Baumwolltextilindustrie Bombays. (…) Das ganze System war restriktiv und nicht dazu geeignet, Indien industriell zu erschließen. (…) Die geringfügigen Entwicklungsansätze unter kolonialer Herrschaft hatten auch den weiteren Nachteil, daß sich alles in den peripheren Wasserköpfen Bombay und Kalkutta konzentrierte, während das Innere des Landes geradezu enturbanisiert wurde. So hatte zum Beispiel die Gangesebene im 17. Jahrhundert einen größeren urbanen Bevölkerungsanteil als im 19. Jahrhundert. (S.148f)

Das unabhängige Indien trat daher eine Erbschaft an, die nicht zu kühnen Hoffnungen Anlaß bot. (S.151)

Nächstes Kapitel: Der überforderte Staat und die traditionelle Gesellschaft. (S.154)

***

Aktueller Hinweis (Dank an Kanak Chandresa):

Orient Oboe

Bachs Shanaï ?

Hier (die folgende Musik erscheint im separaten Fenster; event. Reklame wegklicken)

Daya Shankar Screenshot 2017-07-30

An manchen Tagen kreuzen sich alle möglichen Zeiten, Interessen, Orte und Erinnerungen in einem Individuum, das eben zuweilen am Radio oder PC auch ich allein sein kann:

Die Bach-Kantate am heutigen Sonntagmorgen auf WDR 3, die begleitende Lektüre des Buches von John Eliot Gardiner „Musik für die Himmelsburg“, das Referat, das ich etwa im WS 62/63 früh morgens unausgeschlafen bei Gustav Fellerer gehalten habe (Thema: die Kantate „Es werden aus Saba alle kommen“, s.a. hier), die noch greifbare Taschen-Partitur, die als einzige der Bach-Kantaten noch von meinem Vater stammt, mit meinen Unterstreichungen und einem einzigen Eintrag meines Bruders, der damals noch in Mainz Vorlesungen bei Arnold Schmitz hörte („Die  Bildlichkeit der wortgebundenen Musik J.S. Bachs“, – das Buch, das mein Bruder seit 17.2.60 besaß, ging damals unvermerkt in meinen Besitz über). Beim WDR-Folkfestival auf dem Domplatz Ende der 70er Jahre gelang es unserer Redaktion, zwei Nadasvaram-Spieler aus Madras einem Massenpublikum nahezubringen (die Fernsehkollegen waren entsetzt über die geplante Länge des Auftritts). Unser eindrucksvolles Oboen-Festival Oktober 1988  (gemeinsam mit Oboist Christian Schneider, Düsseldorf, s.a. am Ende dieses Artikels) wird bezeugt durch das Programmheft; ahnungslos aus indischer Sicht: der Feuer-Raga Dipak! Er hätte alles in Flammen aufgehen lassen können (wenn man an ihn glaubt), – wurde aber gar nicht gespielt. Was Gardiner über Da-Caccia-Oboen schreibt, folgt später. Die Begegnungen mit Michael Niesemann (s.u. im Buch von Gardiner, Foto: Robert Workman) und sein fabelhaftes Spiel bleiben mir immer in Erinnerung (seit der C-dur-Ouvertüre 1986 bei Musica Antiqua Köln s.u.).

Goebel Miitwirkende C-dur Niesemann

Schilfrohr TitelSchilfrohr Shannai

Saba Text Noten Oboe da caccia

Arnold Scherings Vorwort 1930:

Saba Text 1 Saba Text 2Saba Text Noten letzte Seite die letzten Takte 1. Coro

Auf meines Bruders Frage „symbolisch?“ würde ich heute antworten: Ja, gewiss, denn wenn sie wirklich aus Saba ALLE gekommen sind, werden sie am Ende auch mit EINER Stimme in Oktaven singen. Ansonsten liebe ich die Vielfalt, ja die Differenzen der Kulturen und staune, dass der große Bach-Interpret Gardiner sie unversehens ins Auge fasst:

In der „Saba“-Kantate […] setzt Bach auf hohe Hörner, die etwas Majestätisches und Antiquiertes haben, Blockflöten, deren hohe Tonlage traditionell mit orientalischer Musik assoziiert wird, und vor allem Oboe da caccia, die – für heutige Ohren – stark an die mazedonische Zurna erinnern, an die nordindische Sahnai oder die Nadaswaram aus Tamil Nadu an der Südspitze der indischen Halbinsel (zweifellos das lauteste Blasinstrument der Welt, das nicht zu den Blechinstrumenten zählt). Mit ihrem eindringlichen Klang scheinen diese „Jagdoboen“ der Welt von Marco Polo und der Karawanen der Seidenstraße anzugehören. Man kann sich kaum vorstellen, dass der auf Blasinstrumente spezialisierte Leipziger Instrumentenbauer Johann Eichentopf diese großartige moderne Tenoroboe mit gekrümmtem Rohr und glockenförmiger Messingstürze um 1722 erfunden haben könnte, ohne auf der Leipziger Messe eines dieser orientalischen Vorbilder gehört zu haben (siehe Tafel 21).

Bach war von diesem neuen Instrument fraglos fasziniert (ähnlich wie 100 Jahre später Berlioz von der Erfindung des Saxhorns), denn er machte in mindestens 30 Chorwerken ausgiebig davon Gebrauch – nicht zuletzt im Eingangsritornell von BWV 65. Er zeigt sein schillerndes orientalisches Orchester hier von der Schokoladenseite, so dass wir die drei Weisen aus dem Morgenland und die mit Geschenken beladene „Menge der Kamele“ (Jesaja 60,6) schon in würdevoller Prozession vor unserem geistigen Auge vorüberziehen sehen, bevor im Kanon die Singstimmen einsetzen. Mit einem erneuten Vortrag des in Oktavparallelen gesetzten Themas, diesmal durch sämtliche, auf fünf Oktaven verteilte Sing- und Instrumentalstimmen, schließt diese eindrucksvolle Fantasie, und die Karawane kommt vor der Krippe zum Stehen.

Quelle John Eliot Gardiner: Johann Sebastian Bach Musik für die Himmelsburg Carl Hanser Verlag München 2016 (Seite 409 f)

Wie schön sich doch BACH am heutigen Sonntagmorgen zur Pilgerfahrt nach Vrindaban gesellte: auf WDR 3. Bei mir zuhaus gleich mehrere offene Türen einrennend:

HörZu Geistliche Musik

Aber, um Missverständnisse zu vermeiden, auch bei allerweitester Auslegung: ein früher Multikulti-Freund war Bach nicht, oder nur, was etwa Italien, Frankreich, Polen anging. Ein Kosmopolit – – – –  ja, vielleicht, – aber in jedem Fall ein ganz und gar lutheranischer, und da hätten wir schon fast eine contradictio in adjectu. Ich zitiere aus Kantate BWV 187:

Was Creaturen hält das große Rund der Welt! Schau doch die Berge an, da sie bei tausend gehen. Was zeuget nicht die Fluth? Es wimmelt Ström‘ und Seen. Der Vögel großes Heer zielt durch die Luft zu Feld. Wer nähret solche Zahl, und wer vermag ihr wohl die Nothdurft abzugeben? Kann irgendein Monarch nach solcher Ehre streben? Zahlt aller Erden Gold ihr wohl ein einig Mal?

Mein Vorschlag: in einer Aufführung der Kantate „Sie werden aus Saba alle kommen“ das erste (T.7f) und das letzte (T.51f) Unisono, ja, allein diese beiden – blitzsauber im Maqam Rast zu singen und zu spielen.

Kleiner Scherz. Der nahöstliche Wohlklang würde der Gemeinde unvergesslich in die Knochen fahren. – Aber im Ernst, ich wünschte, es käme im Verlag Laaber endlich ein Lexikon der Holzblasinstrumente heraus, und darin fände man nicht nicht nur die Oboe da caccia, sondern auch die Zorna, die Shanaï und die Nadaswaram. Und der Autor meiner Wahl wäre Prof. Christian Schneider.

Oboen Programmheft 1988 Aus dem Programmheft 1988

Schneider Christian 1 170801 Christian Schneider 2017 (Foto: E.Reichow)

***

A propos WDR 3: in der Abendschiene ab 23:04 Uhr ist schon wieder Musik gestrichen und durch Wort ersetzt worden.  „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat“, hätte man hier sogar noch indische Shanaï-Musik hören können, Volks- und Kunstmusik aller Höhenlagen…