Bachs Shanaï ?
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An manchen Tagen kreuzen sich alle möglichen Zeiten, Interessen, Orte und Erinnerungen in einem Individuum, das eben zuweilen am Radio oder PC auch ich allein sein kann:
Die Bach-Kantate am heutigen Sonntagmorgen auf WDR 3, die begleitende Lektüre des Buches von John Eliot Gardiner „Musik für die Himmelsburg“, das Referat, das ich etwa im WS 62/63 früh morgens unausgeschlafen bei Gustav Fellerer gehalten habe (Thema: die Kantate „Es werden aus Saba alle kommen“, s.a. hier), die noch greifbare Taschen-Partitur, die als einzige der Bach-Kantaten noch von meinem Vater stammt, mit meinen Unterstreichungen und einem einzigen Eintrag meines Bruders, der damals noch in Mainz Vorlesungen bei Arnold Schmitz hörte („Die Bildlichkeit der wortgebundenen Musik J.S. Bachs“, – das Buch, das mein Bruder seit 17.2.60 besaß, ging damals unvermerkt in meinen Besitz über). Beim WDR-Folkfestival auf dem Domplatz Ende der 70er Jahre gelang es unserer Redaktion, zwei Nadasvaram-Spieler aus Madras einem Massenpublikum nahezubringen (die Fernsehkollegen waren entsetzt über die geplante Länge des Auftritts). Unser eindrucksvolles Oboen-Festival Oktober 1988 (gemeinsam mit Oboist Christian Schneider, Düsseldorf, s.a. am Ende dieses Artikels) wird bezeugt durch das Programmheft; ahnungslos aus indischer Sicht: der Feuer-Raga Dipak! Er hätte alles in Flammen aufgehen lassen können (wenn man an ihn glaubt), – wurde aber gar nicht gespielt. Was Gardiner über Da-Caccia-Oboen schreibt, folgt später. Die Begegnungen mit Michael Niesemann (s.u. im Buch von Gardiner, Foto: Robert Workman) und sein fabelhaftes Spiel bleiben mir immer in Erinnerung (seit der C-dur-Ouvertüre 1986 bei Musica Antiqua Köln s.u.).
Arnold Scherings Vorwort 1930:
Auf meines Bruders Frage „symbolisch?“ würde ich heute antworten: Ja, gewiss, denn wenn sie wirklich aus Saba ALLE gekommen sind, werden sie am Ende auch mit EINER Stimme in Oktaven singen. Ansonsten liebe ich die Vielfalt, ja die Differenzen der Kulturen und staune, dass der große Bach-Interpret Gardiner sie unversehens ins Auge fasst:
In der „Saba“-Kantate […] setzt Bach auf hohe Hörner, die etwas Majestätisches und Antiquiertes haben, Blockflöten, deren hohe Tonlage traditionell mit orientalischer Musik assoziiert wird, und vor allem Oboe da caccia, die – für heutige Ohren – stark an die mazedonische Zurna erinnern, an die nordindische Sahnai oder die Nadaswaram aus Tamil Nadu an der Südspitze der indischen Halbinsel (zweifellos das lauteste Blasinstrument der Welt, das nicht zu den Blechinstrumenten zählt). Mit ihrem eindringlichen Klang scheinen diese „Jagdoboen“ der Welt von Marco Polo und der Karawanen der Seidenstraße anzugehören. Man kann sich kaum vorstellen, dass der auf Blasinstrumente spezialisierte Leipziger Instrumentenbauer Johann Eichentopf diese großartige moderne Tenoroboe mit gekrümmtem Rohr und glockenförmiger Messingstürze um 1722 erfunden haben könnte, ohne auf der Leipziger Messe eines dieser orientalischen Vorbilder gehört zu haben (siehe Tafel 21).
Bach war von diesem neuen Instrument fraglos fasziniert (ähnlich wie 100 Jahre später Berlioz von der Erfindung des Saxhorns), denn er machte in mindestens 30 Chorwerken ausgiebig davon Gebrauch – nicht zuletzt im Eingangsritornell von BWV 65. Er zeigt sein schillerndes orientalisches Orchester hier von der Schokoladenseite, so dass wir die drei Weisen aus dem Morgenland und die mit Geschenken beladene „Menge der Kamele“ (Jesaja 60,6) schon in würdevoller Prozession vor unserem geistigen Auge vorüberziehen sehen, bevor im Kanon die Singstimmen einsetzen. Mit einem erneuten Vortrag des in Oktavparallelen gesetzten Themas, diesmal durch sämtliche, auf fünf Oktaven verteilte Sing- und Instrumentalstimmen, schließt diese eindrucksvolle Fantasie, und die Karawane kommt vor der Krippe zum Stehen.
Quelle John Eliot Gardiner: Johann Sebastian Bach Musik für die Himmelsburg Carl Hanser Verlag München 2016 (Seite 409 f)
Wie schön sich doch BACH am heutigen Sonntagmorgen zur Pilgerfahrt nach Vrindaban gesellte: auf WDR 3. Bei mir zuhaus gleich mehrere offene Türen einrennend:
Aber, um Missverständnisse zu vermeiden, auch bei allerweitester Auslegung: ein früher Multikulti-Freund war Bach nicht, oder nur, was etwa Italien, Frankreich, Polen anging. Ein Kosmopolit – – – – ja, vielleicht, – aber in jedem Fall ein ganz und gar lutheranischer, und da hätten wir schon fast eine contradictio in adjectu. Ich zitiere aus Kantate BWV 187:
Was Creaturen hält das große Rund der Welt! Schau doch die Berge an, da sie bei tausend gehen. Was zeuget nicht die Fluth? Es wimmelt Ström‘ und Seen. Der Vögel großes Heer zielt durch die Luft zu Feld. Wer nähret solche Zahl, und wer vermag ihr wohl die Nothdurft abzugeben? Kann irgendein Monarch nach solcher Ehre streben? Zahlt aller Erden Gold ihr wohl ein einig Mal?
Mein Vorschlag: in einer Aufführung der Kantate „Sie werden aus Saba alle kommen“ das erste (T.7f) und das letzte (T.51f) Unisono, ja, allein diese beiden – blitzsauber im Maqam Rast zu singen und zu spielen.
Kleiner Scherz. Der nahöstliche Wohlklang würde der Gemeinde unvergesslich in die Knochen fahren. – Aber im Ernst, ich wünschte, es käme im Verlag Laaber endlich ein Lexikon der Holzblasinstrumente heraus, und darin fände man nicht nicht nur die Oboe da caccia, sondern auch die Zorna, die Shanaï und die Nadaswaram. Und der Autor meiner Wahl wäre Prof. Christian Schneider.
Christian Schneider 2017 (Foto: E.Reichow)
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A propos WDR 3: in der Abendschiene ab 23:04 Uhr ist schon wieder Musik gestrichen und durch Wort ersetzt worden. „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat“, hätte man hier sogar noch indische Shanaï-Musik hören können, Volks- und Kunstmusik aller Höhenlagen…