Warum denn „oder“? Vielleicht einfach nur „Kompetenz“?
Ich komme darauf, nachdem ich mit viel Zustimmung das Buch von Peter Bieri gelesen hatte, wie üblich mit dem Buntstift, um beim erneuten Blättern die „eigenen“ Ansatzpunkte wiederzufinden. Am Ende schaute ich die Außenseite des Buches schärfer an und konnte mich nicht erinnern, den unterm Titel abgedruckten Satz irgendwo gesehen zu haben.
Ich kenne einiges von ihm, seit ich den Film „Nachtzug nach Lissabon“ gesehen habe und dann erfuhr, dass der Autor des gleichnamigen Buches – Pascal Mercier – niemand anders als Peter Bieri ist. Manches was ich im ZEIT-Archiv von ihm fand, erschien mir auch so wiederlesenswert, dass ich es auf der Bildleiste des Monitors verlinkt habe. (Z.B. „Fühlen, um zu erkennen“ hier.) Aber dieser eine Satz zur Kultur der Stille hat mich unangenehm berührt. Im Text habe ich dann allerdings einen Satz versehentlich mit Fragezeichen gekennzeichnet, der zwar daran erinnerte: hier ging es jedoch nur um hypothetische Bewertungen eigenen Erlebens, nicht um die Andeutung einer persönlichen Präferenz.
Natürlich habe ich nichts gegen die Stille eines Klostergartens, aber ich will kein Lobredner der Stille sein, ohne zugleich anzumerken, dass ich andererseits auch das Getümmel auf belebten Plätzen einer Großstadt genießen kann. Und so bin ich zugleich sehr interessiert an der Rolle, die die Anderen in diesem Buch spielen. Und Bieri spricht eindrucksvoll von dem komplexen Gewebe bedeutungsvoller, sinnstiftender Aktivitäten, das wir Kultur nennen:
Menschen schaffen sich ein solches Gewebe, um sich ihre Beziehung zur Natur, zu den anderen Menschen und zu sich selbst zurechtzulegen. Diese Orientierung betrifft sowohl unsere Gedanken als auch unsere Gefühle, und sie dient uns als Leitfaden des Wollens und Handelns. Das kulturelle Gewebe, in dem Menschen leben, ist weder einheitlich noch unveränderlich. Es kann von Gemeinschaft zu Gemeinschaft sehr unterschiedlich gewoben sein, und es verändert sich über die Zeit. Die kulturelle Identität eines Menschen ist sein Ort in einem solchen Gewebe zu einer bestimmten Zeit.
Bildung ist die wache, kenntnisreiche und kritische Aneignung von Kultur. Es ist dieser Prozeß der Aneignung, in dem sich jemand eine kulturelle Identität schafft.
Quelle Peter Bieri: Wie wollen wir leben? Residenz Verlag St.Pölten / Salzburg 2011 (S.61f)
Im Anhang mit Literaturhinweisen verweist der Autor auf seinen Essay Wie wäre es gebildet zu sein? In: H.-U. Lessing/V.Steenblock (Hg.), „Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht“ etc. und sagt: „Ich zeige dort, daß Bildung etwas ganz anderes ist als Ausbildung.„
Das verstehe ich, aber es fordert einen leisen Widerspruch heraus, der sich vielleicht während der Lektüre dieses Buches unterschwellig verschärft hat. Erkennbar (oder von mir heimlich unterstellt) die Neigung zur Isolierung des Eigenen (einer Beschränkung auf den engeren Umkreis, in den alles Äußere einbezogen werden soll, nobilitierbar durch einen berühmten Ausspruch von Alexander Humboldt). Die Gefahr habe ich frühzeitig an mir selbst beobachtet: ich glaube, seit meiner Kindheit. Aber das ist Gottseidank heute nicht mein Thema. Ich beobachte Andere. Noch einmal Peter Bieri in einem weiteren Abschnitt aus seinem Buch:
Und nach dem hier entwickelten Verständnis von Bildung genügt es nicht einmal, daß ich mit den Texten, den Bildern und der Musik ganz für mich allein lebe, so daß sich der Verdacht des Demonstrativen oder Angeberischen erübrigt. Die Topoi einer Kultur tragen erst dann zu echter Bildung bei, wenn sie in der Aneignung all der Dinge, von denen ich früher gesprochen habe, eine bestimmende Rolle spielen. Erst wenn meine eigene Sprache durch das Lesen von Literatur reicher, differenzierter und selbständiger wird, ist etwas im Sinne der Bildung mit mir geschehen. Erst wenn meine Beschäftigung mit Traktaten über Vernunft sich in der Organisation des eigenen Denkens und Tuns niederschlägt, war die Lektüre wirklich eine Bildungserfahrung. [a.a.O. Seite 82]
Ich bemerke, wie ein kleines rotes Warnlicht still zu leuchten beginnt, sobald ich in dem ersten Satz über die Wortkombination ganz für mich allein hinausgekommen bin und mich auf das Wort eigen kapriziere. Habe ich nicht Anfang der 60er Jahre mal gedacht, die ideale Situation, ein Solissimo-Werk von Bach zu spielen, sei : in einer nicht zu großen Kirche, in höchster Konzentration und ohne Publikum? (Aber durchaus nicht „Soli Deo Gloria“, jedenfalls bin ich mir dessen nicht ganz sicher: mein Gott war damals Mallarmé. Mein Sinn für barocke Rhetorik schwebte im luftleeren Raum.)
Heute unterschreibe ich die Einsichten, die bei Karl Jaspers zu finden sind:
Die Vernunft wird zum grenzenlosen Kommunikationswillen.
Durch die sichere Geltung eines Gemeinsamen, das in jeden Alltag drang, war bis nah an die Gegenwart ein Zusammenhalt unter den Menschen, der die Kommunikation selten zu einem Problem werden ließ. Man konnte zufrieden sein mit dem Wort: wir können miteinander beten, nicht miteinander reden. Heute, wo wir nicht mehr einmal miteinander beten können, wird erst zu vollem Bewußtsein gebracht, daß das Menschsein an die Rückhaltlosigkeit der Kommunikation zwischen Menschen gebunden ist.
Quelle Karl Jaspers: Der philosophische Glaube / Piper München Zürich 1948, 1974 / Zitat Seite 133
Man sieht, dass es nicht unbedingt eine Frage des Jahrgangs oder des Glücks oder Unglücks der späten Geburt ist.
Die Anregung aber, das Problem der Differenz zwischen Bildung und Ausbildung etwas anders zu sehen als Peter Bieri, kommt aus einer anderen Ecke; dort wird das Wort Kompetenz bevorzugt, das auch von durchaus gebildeten Menschen respektiert wird.
Wer von der eigenen Kompetenz sprich, zeigt auf die Probleme, die er oder sie bearbeitet – nicht auf ein Wissen über die kulturelle Vergangenheit oder ein Potential, das sich möglicherweise in der Zukunft entfalten lässt. Die Rechtfertigung für das eigene Lernen ergibt sich aus dem vorliegenden Problem. Das heißt nicht, dass dieses Lernen nicht die Kulturgeschichte betrifft oder eine Bedeutung für die Zukunft hat – es kann aber darüber nicht legitimiert werden.
Aus diesem Gedankengang lässt sich eine fundamentale Kritik an Bieris Ansatz ableiten. Bieri spricht von einem Gebildeten, der liest, sich aufklärt, sich kennen lernt und so verhindert, dass er Opfer wird. Er wird aber nicht als Mitglied einer Gemeinschaft gedacht, nicht als Teilnehmerin in einem Gespräch, in dem Kritik und Differenzen gelebt werden.
Quelle Philippe Wampfler: „Wie wäre es, kompetent zu sein? – Peter Bieri revisited.“ Abzurufen im Blog des Schweizer Autors: Schule Social Medium und zwar HIER .
Das in diesem Artikel ehemals verlinkte pdf der von Peter Bieri vor rund 12 Jahren gehaltenen Festrede ist leider nicht mehr abzurufen. Aber die Argumentation lässt sich trotzdem nachvollziehen. Näheres über die von Philippe Wampfler genannten Gewährsleute Franz E. Weinert hier , Erpenbeck und Sauter hier , Christoph Schmitt hier , Hermann Giesecke hier .
(Inzwischen haben wir den 6. Dezember 2018, 16:18 Uhr. Ein Tag wie jeder andere.)