Ad infinitum
ZITAT
Spielen wir eine der großzügigen Kompositionen von J. S. Bach, z.B. vom Charakter der Ouvertüren der Englischen Suiten, so fühlen wir eine unermüdliche Kraft der Bewegung am Werk, der wir nach ihm bei den Klassikern nicht mehr begegnen. Der klassische Stil der Zäsuren, der Erholungen, der Abwechslungen läßt nur hie und da noch eine schwache Andeutung dieser Kraft und Wucht des Geschehens zu, dessen Trieb eben in der Stärke des harmonischen Denkens lag. Die Harmonie wurde kleinlich im ganzen, ob auch im einzelnen mächtig und eindrücklich, und so schien im Gefolge auch die weitgespannte, die großangelegte Melodie nach Bach verschwunden, bis sie erst Bruckner wieder in der Fülle ihrer Erscheinung, zugleich mit neuen Kräften ausgerüstet, in die Welt führen sollte. Die Weise der Klassiker, in kleinen Zeilen melodisch zu denken, mutet gegenüber der ariosen Art der Bachschen Melodie wie ein Rückschritt und Abfall an, der kurze Atem wird durch sie geduldet und gepflegt. (…)
Wenn wir bei einem Bachischen Allegro zuhören, so sind wir sogleich mitten in der Bewegung und von ihr hingerissen; diese läßt uns dann auch meistens bis zum Schluß nicht mehr los, und das pflegt eine lange Strecke zu sein. Wir werden selten in die Bewegung eigentlich eingeführt, selten aus ihr eigentlich entlassen: vielmehr ist es, als ob die Bewegung schon vorher da wäre, eine ewige Bewegung, von der auf eine Zeit ein Vorhang weggezogen ist, so daß wir endliche Blicke in ein unendliches Geschehen tun.
Quelle August Halm: Musikalische Bildung (1909/1910) in „Von Form und Sinn der Musik“ Breitkopf & Härtel Wiesbaden 1978 (Seite 216).
Quelle Wikipedia HIER
Es wird uns jetzt klar, daß die Freskenmalerei eine der interessantesten optischen Versinnlichungen des abstrakten Begriffes Absolutismus war. Denn was ist Absolutismus? Unbegrenzte, absolute Macht. Macht selbst aber ist immer begrenzt. Macht setzt immer ein zu bemächtigendes Gebiet voraus, wo Macht sich als Macht betätigen, wo Macht Macht sein kann. Fehlt das Betätigungsfeld, was z.B. der Fall wäre, wenn jeder Einzelwille mit dem Willen des Machthabers vollkommen und unlöslich gleichgeschaltet wäre, so hätte Macht aufgehört, Macht zu sein. Zum Wesen der Macht gehört also Grenze, Relativität. Absolutismus wäre demnach genau wie das Deckenbild unendliche Endlichkeit, absolute Relativität.
Es ist natürlich kein Zufall, daß die Erfindung der Infinitesimalrechnung (zusammengefaßender Name für Differential- und Integralrechnung in der Mathematik) durch Leibnis und Newton in die Periode des Absolutismus fiel, wie auch die Erfindung des Teleskops und des Mikroskops, mit deren Hilfe man die Grenzen des Sichtbaren ins Unendliche zu verlegen suchte.
Der Begriff: unendliche Endlichkeit, enthält genau so wie der Begriff: unendlich große oder unendlich kleinen Zahl, statisch genommen, nicht nur einen Widerspruch, sondern einen offenbaren Widersinn. Nehmen wir aber den Absolutismus dynamisch, also als Bewegung, was er auch tatsächlich nur war, so fällt der Widersinn weg. Der Widerspruch löst sich sofort: Absolutismus ist danach eine sich rastlos in die Richtung des Unendlichen, übersteigernde, überbietende Endlichkeit. Absolutismus war also vor allen Dingen stürmische Bewegung.
Da der Absolutismus der kardinale Punkt der damaligen materiellen und gesellschaftlichen Verhältnisse war, konnte es nicht anders sein, als daß seine Haupteigenschaft, die Bewegung, sich überall manifestierte. Wölfflin bestätigt uns das voll und ganz in seinen „Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen“. Als die Hauptmerkmale der Kunst des 17. Jahrhunderts bezeichnet er: das Malerische, das Tiefenhafte, die offene Form, das Einheitliche und die relative Klarheit, und am Ende seiner Ausführungen kommt er zu dem überraschenden Ergebnis, daß diese fünf Kategorien „sich gegenseitig bedingen und, wenn man den Ausdruck nicht wörtlich nehmen will, eigentlich nur fünf verschiedene Ansichten einer und derselben Sache sind.“
Diese eine Sache nennt er die Bewegung.
Quelle Leo Balet/E.Gerhard [Eberhard Rebling]: Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert / Herausgegeben und eingeleitet von Gert Mattenklott / Ullstein Materialien / Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1979 ISBN 3 548 02995 7 (Zitat Seite 68 f)
Aber: ist die symmetrische Fügung der Fuge nicht eine statische Sache? (Das Wort Fuge kommt allerdings nicht von Fügen oder Fügung, was zwar schön wäre, aber nicht barock, – sondern von Fuga = Flucht. Auch wenn sie so wenig Fluchtbewegung zeigt wie die Fis-moll-Fuge aus dem ersten Band des Wohltemperierten Claviers. Immerhin: sobald die 4. Zeile erreicht ist, gibt es keine Unterbrechung der durchgehenden (komplementären) Achtelbewegung mehr. Oder? Genau dort, wo die für mich absolut herausragende und zu Tränen rührende Stelle unmittelbar bevorsteht, samt einem Kunststück, das ich viele Jahre überhaupt nicht wahrgenommen habe. (Ich werde sie vorläufig niemandem verraten.) Aber hätte Bach vielleicht nur auf das Kunststück gezeigt, ohne zu bemerken, was mich so ergreift? (Richtig: der Notentext, die Textur, sieht überall gleich aus.)
Nun sind dies nicht die Noten, mit denen ich täglich umgehe. Die sehen nämlich ganz anders aus. Abgesehen von den gedruckten Fingersätzen, die zum Übe-Vorgang gehören, ist der gleichmäßig fortlaufende Notentext vor allem mit formalen Hinweisen durchzogen, mit Zäsuren und Zeichen, die den Text in Einzelteile zerteilen und seine gegliederte Struktur ins Auge fallen lassen sollen. Was nicht bedeutet, dass man sie beim Spielen auch noch verdeutlichen soll. Es ist schon strittig, ob man eigentlich das gleichbleibende Thema immer in den Vordergrund treten lassen soll. (Das Handy-Foto ist nicht berauschend, aber wenn man es anklickt, – am besten in einem separaten Fenster -, erkennt man doch, worauf es mir ankommt. Und ich werde beschreiben, was es für mich bedeutet, und hoffentlich so, dass auch Nicht-Notenleser es „zur Not“ nachvollziehen können. Eine youtube-Aufnahme wird uns hilfreich sein, sie folgt.)
Die mit einem roten Kreis hervorgehobenen Zeichen bedeuten Durchführung und Themeneinsatz. Ganz am Anfang zum Beispiel: die römische I bedeutet 1. Durchführung, die arabische 1 bedeutet 1. Themeneinsatz und der Buchstabe A (oder B, S, T) im Alt (oder in Bass, Sopran, Tenor), also: in welcher Stimme der Einsatz stattfindet. Es gibt nur zwei große Durchführungen, die zweite beginnt auf der linken Seite in der letzten Zeile, im letzten Takt. Die Fuge als Ganzes ist streng zweigeteilt.
Nebenbei: Das Wort Durchführung hat eine andere Bedeutung als in der Sonatenform; in der Fuge ist es ein Abschnitt, in dem das Thema nacheinander in mehreren Stimmen (auf verschiedenen Ebenen) vorgetragen wird, so dass sich gewissermaßen eine Abrundung durch Vervollständigung ergibt.
Nun gibt es Analyse-Feinde, die hier schon protestieren und meinen, man soll nicht gedanklich auseinanderziehen, was Bach sorgfältig ineinandergehakt hat, um die kontinuierliche Bewegung nicht zu unterbrechen. Aber immerhin hat er überall unmissverständliche Abschlusskadenzen komponiert. Und ich möchte das Gleichmaß noch weiter untergraben, indem ich z.B. die Seufzermotive des Kontrapunkts als stockendes Moment hervorhebe, obwohl er deren Jammer-Ausdruck nicht durch Zweierbindungen betont hat. Der Seufzer stammt aus dem Schlusstakt des Themas, Takt 4, 4. Viertel, mit den beiden Achtelnoten h-a, die auch, wie ich finde, zwingend die Vorhaltnote des nachfolgenden Trillers fordern, nämlich als a-gis, was sowieso zu den barocken Regeln gehört. (Es gibt aber durchaus große Pianisten, die den Triller mit der Hauptnote beginnen, Barenboim zum Beispiel. Und zwar ausgerechnet beim ersten Mal, später auch anders.) Übrigens: in Bachs Handschrift steht hier ein Kürzel, das er vielleicht Trillo nennt, womit aber kein Triller in späterem Sinn gemeint ist, sondern vielleicht eher ein Praller, jedenfalls: beginnend mit der oberen Nebennote und ohne Nachschlag.
Anfang der Handschrift JSB zeigt Sohn Friedemann den Trillo
Mit den kleinen roten Senkrecht-Pfeilen (zum ersten Mal in Takt 6, es fehlt einer auf der 4. Zählzeit in Takt 5) bezeichne ich die Stellen, wo eine Achtelnote im Fluss „fehlt“. Ist diese Stockung Absicht – oder ist sie Bach nur unterlaufen?
Ich empfehle ein Experiment, besonders vor Leuten, die diese Fuge nicht kennen: behaupten Sie, es sei die kürzeste von Bach je geschriebene Fuge, und enden Sie – mit vorausgehendem Ritardando – in Takt 18, vielleicht noch eine kurze bestätigende Kadenz anhängend. Wird jemand zweifeln und sagen: Bachs Bewegung zielt aufs Unendliche, hier kann nicht Schluss sein? Könnte ich nicht sogar in Takt 11 schließen und behaupten, Bach habe eine Fuge in nuce zeigen wollen; für eine vollständige Fuge sei das Thema zu lang und zu komplex. (Man denke an die Fuge As-dur im Wohltemperierten Clavier Bd. II, die in einer frühen Fassung als Fughetta halb so lang war.)
Ich könnte vielleicht auch nachweisen, dass die Fuge genau die Länge hat, die sie haben muss , weil sonst die Proportionen nicht stimmen, aber wer sieht schon die Proportionen, wenn sich das Werk sehr allmählich in der Zeit ausdehnt. Und wer erkennt nebenbei noch das Thema in Gegenbewegung und die parallele Anlage der zweiten Fugenhälfte zur ersten?
Nun, wer es einmal gesehen hat, erkennt es auch leicht beim Hören.
Das Schema der Fuge fis-moll bei Alfred Dürr, Teil I und Teil II untereinander, am oberen Rand jeweils die Taktzahlen, in Teil I = 1 bis 20 und in Teil II = 20 bis 40
Quelle Alfred Dürr: Johann Sebastian Bach Das Wohltemperierte Klavier / Bärenreiter Kassel Basel London New York Prag 1998 (Seite 175)
Die waagerechten Linien bedeuten Themenzitate, sie sind den Stimmlagen zugeordnet, die links außen angegeben sind: S, A, T, B Sopran, Alt, Tenor, Bass). Das U am Anfang eines Themenzitates bedeutet, dass das Thema in Umkehrung verläuft, d. h. abwärts statt aufwärts, aufwärts statt abwärts. Die jeweiligen Tonarten sind am unteren Rand des Blocks I bzw. II angegeben.
Das Werk ist nicht hörpsychologisch (für die Wahrnehmung aus der Distanz) erarbeitet. Und nicht für eine Zeit wie die unsere oder für ein Publikum ohne jedes Fachwissen. (Sondern? u.a. für die praktische, handgreifliche Er-fahrung, für das Begreifen.) Nur durch das manuelle Ergreifen, so scheint mir, begreift man auch mit den Ohren die Notwendigkeit einer zuweilen unglaublich dissonanten Kontrapunktik, von der sich später um so mehr die klagenden parallelgeführten Terzen und Sexten abheben: hier in Takt 22 befinden wir uns in der Umkehrung des Hauptthemas (Alt-Stimme) und gleichzeitig im Seufzerthema der Unterstimme, daher die Tonfolge a-gis gegen gis-a, unvermeidlich und – schön, weil logisch.
Aber was erlebe ich dabei, was geschieht mit mir, wenn ich spiele? Warum geht das Stück mich heute an? Und zwar in einer Weise, dass sich jede Frage erübrigt?
Das Thema selbst zeigt mit großer Kunst, was eigentlich … Thema dieser ganzen Fuge ist: seinen gewundenen, mühevollen Anstieg vom Grundton zur oberen Quinte und das Absinken innerhalb eines einzigen Taktes kann man symbolisch auffassen, zumal es im ganzen Stück ausgebreitet wird. Die Idee des Aufstiegs, des Aufatmens, des Luftschöpfens, der Modulation (!) auf der einen Seite und die Idee des Zurücksinkens mit Klagelauten („Seufzer“, „Schluchzmotiv“) auf der anderen Seite kann man in steter Auseinandersetzung erleben, wobei das Pathos der Klage sich gegen Ende in Terz- oder Sextparallelen so verdichtet, dass es den Sieg davonzutragen scheint. Andererseits aber den Choral des abschließenden Themas so wunderbar harmonisch trägt und umhüllt, – über dem Orgelpunkt (!) des Basstons Cis – , dass man von Sieg nicht sprechen mag und auch die letzten Klagelaute des Tenors mit der Auflösung in den Dur-Akkord nicht als Konvention abtun mag. Es ist die Lösung oder sogar Erlösung. Für mich handelt die Fuge von derselben Last des Menschen oder des „Menschensohnes“ (unchristlich gedeutet: die Qual des Sisyphos) wie der große Chor in der Matthäus-Passion: „O Mensch, bewein‘ dein Sünde groß“.
***
Ich habe oben ganz naiv versprochen, die Bach-Fuge so zu erklären (?), dass auch Nicht-Notenleser es „zur Not“ nachvollziehen können. Aber was tun, um jemanden anzuleiten, in Stimmen zu denken? Eine vierstimmige Fuge so mitzuhören, wie sie gedacht und erfunden worden ist. Nicht als einen bloß oszillierenden Wohlklang, der ewig so weitergehen könnte. Sondern in Stimmen, und das Ohr ist mittendrin und wandert auch nach Bedarf zwischen den Stimmen, folgt der einen, ohne die andere aus den Augen zu verlieren… Wirklich nicht aus den Augen…? Sehen Sie sich dieses Farbenspiel an:
Ganz rechts, die parallelen Linien, – das ist der vierstimmige Schlussakkord: Sopran rot, Alt orange, Tenor grün und Bass blau. VOR diesem blauen Basston (mit den Augen nach links wandernd) sehen Sie die verschiedenen Einzelpunkte, die Töne, die ihm vorangehen, und der lange blaue Strich links – das ist der Orgelpunkt, von dem ich gesprochen habe. Könnten Sie sich zutrauen, die verschiedenen Farben im Auge zu behalten und gleichzeitig die Tonfolgen mit dem Ohr zu fassen, für die diese farbigen Linien und Punkte einstehen?
Warum nicht? Ein wunderbarer Versuch der Visualisierung. Und keine schlechte Klavier-Interpretation, wenn ich sie mit den unterschiedlich misslungenen der größten Meister vergleiche. Es braucht keine geniale Interpretation, notwendig ist für eine Bach-Fuge die korrekte Anwesenheit aller Töne, den Rest besorgt unsere Musikalität.
Es geht mir aber letztlich um die Frage, warum mich eine bestimmte Stelle so ergreift, – ob es an meiner zufälligen Disposition liegt oder ob Bach es so gewollt hat, bei 2:33, die Oberstimme, obwohl der „entscheidende“ Vorgang im Bass liegt: das Thema in Umkehrung, also in absteigender Richtung (statt aufsteigend) beginnend. Gerade ist der Kadenzabschluss in fis-moll erfolgt, darin eine fallende Quinte (Oberstimme), wie wir es bisher noch nicht hatten. Und nun im folgenden Takt (mit dem Basston dis) die Vorbereitung einer Modulation (nach E-dur), darüber das Klagemotiv, in das ein Quintsprung eingebaut ist, der auf denjenigen im Vortakt zu antworten scheint, es ist unglaublich rührend. Bach hätte statt des hohen Tons fis“ ja auch den dem h“ benachbarten Ton cis“ wählen können, wie sonst immer in dieser Fuge. Und ich könnte von hier an jeden Takt, der kommt, als ergreifend beschreiben, z.B. den Vorhalt am Anfang des nächsten Taktes, dann den Aufstieg in Terzen, dem der Aufstieg im Bass (dank der Themen-Umkehrung!) folgt, der Vorhalt zu Beginn des nächsten Taktes, und dann das Überhandnehmen des Klagemotivs über zwei Takte hinweg, bis zum Fazit, dem letzten Auftritt des Themas samt Klagemotiv (wie zuvor in Sexten) und dem jetzt sehr auffälligen Innehalten des Achtelflusses in der Themenmitte (roter Pfeil): es ist eine Schluss-Apotheose, die wir vielleicht nicht wahrnehmen, weil wir alle Mittel schon kennen, oder: die so überwältigend wirkt, weil sie auf subtile Weise alles überbietet, was wir bis jetzt gehört haben. Und was sagt sie uns? Ich mag es kaum schreiben, weil es in Worten so banal klingt, nur in Tönen ist es wahr: Die Welt ist tragisch, aber alles wird gut. Ein Paradox! Ich denke an Sisyphos, der vielleicht für einen Moment innehält. (An ihn hat Bach ganz sicher nicht gedacht.)
Ich liebe die alte Peters-Ausgabe von Franz Kroll, die ich zu Beginn meines Studiums in Berlin antiquarisch für fast nichts bekommen und immer wieder durchgearbeitet habe, von A-Z noch einmal seit dem Bach-Jahr 1985. Vor Ostern 1993 habe ich im WDR die neue Aufnahme der Matthäus-Passion unter Ton Koopman besprochen, mit Begeisterung, und gewissermaßen ein Gelübde abgelegt, das gleichnamige Buch von Hans Blumenberg zu absolvieren. Heute würde ich sagen: lieber zurück zu Albert Camus. Was für ein schöner Satz: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
Der Klavierauszug meines Vaters.
Schauen Sie auf die Seufzer-Ketten. Und auf den ersten Kontrapunkt unseres Fugenthemas, dann auf das Motiv des ersten Zwischenspiels Takt 7, danach aber gleich in die viertletzte Zeile dieser Seite des Chores „O Mensch, bewein dein Sünde groß“: auf die Töne des Tenors: „darum Christus [sein’s Vaters Schoß äußert]“, und nicht nur seine 4 Töne, sondern auch, wie ihnen der Bass folgt.
Ich muss noch eine wirklich tolle Aufnahme der Klavier-Fuge suchen, denn ein Paradox (kleiner Scherz am Rand der klassischen Tragödie) ertrage ich nicht: dass die Pianistin der (s.o.) mit so prächtigen Farben ausgestatteten Aufnahme 2005 auch deutsche Vizemeisterin im Gewichtheben geworden ist. Nein, soviel Sisyphos-Bezug ertrage ich nicht…
Nachklang
Weshalb ich einer wunderschönen Aufnahme, sogar mit guten und dezenten Trillern, nicht froh werde? Einer Aufnahme, die man – wie Ligeti schwärmte – auf die einsame Insel mitnimmt? Sie ist so müde, hat die Tendenz stehenzubleiben, überhaupt zu langsam, sie klagt zu wenig, aber jeder will sie sofort lieben, weil sie zur Meditation verleitet. Oder zum Träumen? Ich habe dabei den wichtigen Wendepunkt in der Fugenmitte Takt 20, den Einsatz des Themas in Umkehrung, verpasst: ich behaupte jetzt, es ist von Bach absichtlich so „getarnt“ eingebaut (der Querstand dis im Sopran gegen d im Bass, dazu der auffällige G-dur-Quartsextakkord, auffällig wie in Takt 13, wo er ein bloßes Zwischenspiel schmückt), man ist abgelenkt, – dann auch durch die nicht enden wollende Achtelkette im Bass -, vielleicht verpasst man auch noch den verschleierten Einsatz des Themas in Takt 25, und erst in Takt 16 schaut es uns in die Augen (er korrespondiert mit Takt 4), und dann beim Zwischenspiel, dessen Zweistimmigkeit es sofort als Reprise von Takt 7 erkennbar macht, ist man voll orientiert.
Mein Gott, wie hat Bach denn wohl selbst dergleichen behandelt? Hat er es als Kunststück gedacht, das er lieber etwas verhüllt, damit nicht „jeder Esel“ drauf zeigt, wie auch beim nächsten Mal in Takt 32, wenn ich über die Oberstimme zu Tränen gerührt bin (aber nur wenn ich sie selbst spiele und vielleicht irrtümlich die Quinte intensiviere). Wie erzählte noch Bachs Sohn Emanuel?
Bey Anhörung einer starck besetzten u. vielstimmigen Fuge, wuste er bald, nach den ersten Eintritten der Thematum, vorherzusagen, was für contrapuncktische Künste möglich anzubringen wären u. was der Componist auch von Rechtswegen anbringen müste, u. bey solcher Gelegenheit, wenn ich bey ihm stand, u. er seine Vermuthungen gegen mich geäußert hatte, freute er sich u. stieß mich an, als seine Erwartungen eintrafen. Er hatte eine gute durchdringende Stimme von großer Weite, u. gute Singart. Niemand hat in Contrapunckten u. Fugen alle Arten des Geschmacks, der Figuren und der Verschiedenheit der Gedancken überhaupt so glücklich angebracht, als er.
Aus: Carl Philipp Emanuel Bachs Ergänzungen und Berichtigungen. Geschrieben an J.N.Forkel in Göttingen, Hamburg Ende 1774 III/801.
Was mich heute erstaunt, ist inmitten des Textes die Bemerkung über Bachs Singstimme. Meine Deutung: Emanuel hat an eine „starck besetzte“ Fuge imaginiert und kurz vorher gerade auch erwähnt, dass sein Vater „die geringste falsche Note bey der stärcksten Besetzung“ gehört habe. Er hat sich erinnert, wie sein Vater bei der Einstudierung des Orchesters oder des Chores laut hineingesungen hat, um den richtigen Ablauf zu beeinflussen. Ich stelle mir vor, dass Bach auch an der Orgel oder am Cembalo seine Schüler singend auf wichtige „Contrapunckte“ aufmerksam gemacht hat, aber bitte: anders als Glenn Gould, der mit seinem Singsang rein gar nichts verdeutlicht hat! Ich stelle mir vor: Bach singt in der Mitte unserer Fuge die Umkehrung des Themas laut mit, und wenn das Originalthema einige Takte später das Haupt erhebt, dann schaut Bach den Schülern nur in die Augen. Das hatte mehr Bedeutung als in Casablanca…
Und wir sind fortan ermächtigt mitzusingen, wo es die Musik fordert – und nicht „jeder Esel“ hört. (Das stammt übrigens von Brahms, nicht von Bach.)