Vogelstimmenforschung und Autismus
Wenn Sie den Namen Constance Scharff in das Suchfenster dieses Blogs eingeben, haben Sie 1 Sekunde später mindestens 6 Beiträge und können lange lesen. Und wenn Sie damit fertig sind, ist auch vielleicht der neue ZEIT-Artikel schon im Internet aufrufbar:
DIE ZEIT 15.März 2018 Wer die Nachtigall stört… darf nicht forschen. Warum ein vielversprechendes Experiment monatelang nicht starten durfte – und jetzt sogar den Regierenden Bürgermeister beschäftigt. Eine Posse aus Berlin / Von Lorenz Marold.
Falls Sie Zweifel haben, ob der Autor – Chefredakteur des „Berliner Tagesspiegels“ – mit Recht in diesem Zusammenhang von „Fliegenschnäppern“ spricht, überzeugen Sie sich – obwohl es darum gar nicht in erster Linie geht – in den Wikipediaartikeln Fliegenschnäpper und Nachtigall. Ja, er hat!!!
Der Artikel beginnt folgendermaßen:
Berlin ist die Hauptstadt der Nachtigallen, 1500 Paare leben hier, mehr als in jeder anderen Stadt – es ziehen eben nicht nur komische Vögel her. Die Population ist seit Jahren stabil, obwohl die Fliegenschnäpper ein paar natürliche Feinde haben: „Fuchs, Hund, Grünflächenamt“, sagt Constance Scharff, Professorin für Verhaltensbiologie an der Freien Universität Berlin – denn ab und zu brettert ein Rasenmäher mit Behördenkennzeichen über die Nester. Dagegen ist das, was Scharffs Kollegin Daniela Vallentin plant, ein wahrer Liebesdienst: Sie möchte drei männliche Nachtigallen aus einem der Berliner Parks einfangen und mit drei gezüchteten weiblichen Nachtigallen im Labor zusammenführen. Zwecks Nachwuchserzeugung.
Ich zitiere jetzt nur fragmentarisch, da es mir nicht um das Ärgernis an Ort und Stelle geht, sondern um die Anregungen aus der Forschungsarbeit.
Vallentin, die vor Berlin in New York forschte, arbeitete zuvor mit Zebrafinken. Die lernen das Singen von ihrem Vater. Vallentin fand heraus, dass bestimmte Nervenzellen den Einfluss des väterlichen Gesangs regulieren. Nun will die ausgebildete Mathematikerin wissen, ob auch bei Nachtigallen ähnliche Mechanismen wirken, wenn die Männchen bei ihrem kunstvollen Wettstreit zwischen Zuhören und Singen wechseln. (…)
Wenn zwei Menschen sich unterhalten, sprechen sie meist abwechselnd, zuweilen gleichzeitig, manchmal beenden sie sogar die Sätze des anderen. Bei einer autistischen Erkrankung ist diese Fähigkeit gestört. Männliche Nachtigallen interagieren ganz ähnlich wie Menschen, deswegen wollen die Wissenschaftlerinnen die neuronalen Aktivitäten einzelner Zellen messen, um besser zu verstehen, was dort während des Singsang-Einklangs genau passiert.
Ich wollte hier nur vom Ziel der Forschung reden. Wenn aber der Hintergrund der Polit-„Posse“ zutage treten soll, muss man den ganzen Artikel lesen. Und dann – ehe man den Stab bricht – vielleicht auch noch den heutigen Artikel in der Süddeutschen Zeitung, in dem sich eine durchaus kompetente Wissenschaftsjournalistin auf andere Weise differenzierend zu dem Fall äußert.
Süddeutsche Zeitung 17./18.März 2018 Seite 37 (Tierversuche) Forschung im Hinterzimmer / Von Kathrin Zinkant
Da ich gerade in den Revieren der Naturwissenschaft wildere, möchte ich auch eine schöne Sache aus der Pflanzenkunde festhalten, eine Buchbesprechung in dem Heft ZEIT LITERATUR März 2018 Seite 42:
Unsere grünen Mitgeschöpfe Sie gaben der Welt ihre Form – Pflanzen, schreibt der italienische Philosoph Emanuele Coccia, wurden lange unterschätzt. Weil der Mensch sich als Krone der Schöpfung verstand. Von Fritz Habekuss.
Gewiss, man denkt nicht nur einen Augenblick an den Förster und Bestsellerautor Wohlleben. Aber es klingt dann doch ganz anders.
Was dieses Buch so zauberhaft macht, ist, wie es die Gedanken sacht aufhebt, die wohl jeder schon einmal gedacht hat, der sich auf die Natur eingelassen hat (also hoffentlich, leider tut es nicht jeder), und diese dann weiterträgt. Etwa die Überlegung, ob Pflanzen, trotz der Absenz von Sinnesorganen und komplexen neuronalen Strukturen, so etwas wie ein Bewusstsein, ein Weltempfinden haben.
Immerhin ähneln die Wurzeln, wenngleich im Dunkeln verborgen, in Aufbau und Funktion dem tierischen Gehirn. Sie sind keine Anker, sie sind Netzwerke, durch sie fließen Nährstoffe und Informationen, sie durchdringen ihre Umwelt und stehen mit ihr in Kontakt. Schon Platon schrieb, dass der Mensch ein Gewächs sei, „das nicht in der Erde, sondern im Himmel wurzelt“.
Das besprochene Buch von Emanuele Coccia: Die Wurzeln der Welt Eine Philosophie der Pflanzen / Hanser Verlag, München 2016; 192 Seiten, 20,-€. / Siehe auch hier bei Denis Scheck…
ZITAT aus dem Gespräch in „druckfrisch“ Denis Scheck mit Emanuele Coccia:
D.Sch. 4:48 „Einer der Schlüsselbegriffe Ihrer Philosophie der Pflanzen ist der Begriff der Verbindung…eine Pflanze schafft Verbindung zwischen… allem eigentlich… – E.C. „Zunächst einmal Verbindung zwischen der nichtlebendigen Welt und der lebendigen Welt, im Sinne, dass … Pflanzen sind Lebewesen, die gerade diese Gabe haben, die ‚Materie‘ ins Leben zu verwandeln, im Grunde, d.h. sie haben diese Fähigkeiten, die Energie aus der Sonne und die Kohlensäure in lebendige Materie zu verwandeln, was natürlich die Bedingung der Möglichkeit des Lebens überhaupt darstellt.“ – „Und damit landen Sie bei der in meinen Augen natürlich spektakulärsten Erkenntnis Ihres Buches, nämlich dass Sex für die Pflanze Vernunft ist. Das müssen Sie erläutern!“ – „Nicht nur für Pflanzen, Sex ist für alle Lebewesen eine riesige und wunderschöne Erfindung. Im Grunde die Tatsache, dass wir Sex haben müssen, um uns zu produzieren, heißt das, dass wir… wir müssen uns mit anderen vermischen, und da müssen [wir] sozusagen Differenzen, Variationen herstellen. Das ist eine wunderschöne Idee: das Lebewesen kann besser leben, wenn es sich ständig verändert, ständig mit anderen Lebewesen sich mischt. Und im Falle der Pflanzen ist Sex sogar interessanter.“ – „Die brauchen ja nicht nur einen Partner (genau!), die brauchen ja viel mehr.“ Ja! Die brauchen eigentlich Tiere, Wind, Licht, Regen, usw., das heißt: sie müssen eigentlich, um Sex zu haben, irgendeinen Hund nutzen, im Grunde wird Pflanzen-Sex ein kosmisches Phänomen, oder eine Art interspezifische Orgie (?), das ist wunderschön, diese Idee, dass, um zwei Partner Sex haben zu lassen (dürfen), die ganze Welt muss dabeisein.“
Notiz 21.03.2018
Vorgemerkt für den Fall, dass der konkrete Frühling nicht ausreicht:
https://www.klett-cotta.de/buch/Leben/Der_englische_Gaertner/90548 hier
(Einleitung lesen, auch betr. Wittgenstein)
Notiz 01.04.2018
Das oben erstmals im Blog präsentierte Buch von Emanuele Coccia ist inzwischen eingetroffen und zur Hälfte gelesen bzw. nach-gedacht: es ist viel umfassender und grundlegender, als nach dem Denis-Scheck-Gespräch zu erwarten war. Die Manie, über die Sexualität Interessenten einzufangen, führt auch schon mal in die Irre. Einesteils trifft es einen Aspekt des Buches, aber auf weniger spektakuläre Weise als in dieser Sendung insinuiert. Faszinierender ist zunächst das Kapitel über den Atem. Und vieles andere. Siehe auch hier.