Was heute zählt
Habe ich nicht kürzlich vom aktuellen Narrativ erzählen wollen? (Siehe hier.) Vorsichtshalber hatte ich da hinzugefügt „nur für mich“, weil ich schon ahnte, dass von anderen anderes darunter verstanden wird. Das bestätigt sich in der aktuellen Ausgabe der ZEIT (22. November), die der Musik erfreulich viel Raum gibt (hatte ich mich nicht erst kürzlich beklagt? Siehe hier.) Auch dies „nur für mich“, ich fürchte, die Subjektivierung ist meine Marotte.
Oder: der im ZEIT-Artikel erwähnte Film in ganzer Länge (10:12 HIER).
Levits Narrativ wirkt bescheiden im Vergleich zu dem Spektakel, das die Deutsche Grammophon mit Daniil Trifonow aufbietet. Trifonow, Jahrhunderttalent und Senkrechtstarter, wagte sich lange nicht an die Werke Rachmaninows, aus Angst, nicht reif genug dafür zu sein. Daraus baut das Label nun ein Musikmärchen, das man kitschig finden kann, in jedem Fall hat das Marketing eine ähnlich Virtuosität und Vehemenz, wie Trifonow sie am Flügel beweist.
So liest es sich in der ZEIT, ich bin anderer Meinung. Ich kann auch nicht glauben, dass Trifonow glaubt, dass man für Rachmaninows Musik besonders reif sein muss. Technisch gewiss. Aber zumindest zum Hören genügt doch die „Reife“ eines gefühlsseligen Studenten. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Ein angehender Soziologe traktierte uns damals bei jedem Treffen mit Horowitz-Aufnahmen, kannte jeden Takt und konnte bei bestimmten Stellen sogar echt brillantes Klavierspiel mit hochgereckten Armen in die Luft zeichnen. Ich hielt dagegen mit Svjatoslav Richters Einspielung des Klavierkonzerts Nr. 2, das ich in bester Absicht sogar einer Freundin schenkte, um sie vom „Blockflötengeschmack“ zu lösen. Eigentlich eine Frechheit. Aber wenn ich mich nicht irre, bot das LP-Cover schon damals eine Mondnacht in Farbe als visuelles Narrativ .
Mit filmgerechten Narrativen hat Igor Levits Angebot (abgesehen vom CD-Titel „Life“) zum Glück nichts zu tun, sein intelligentes Programm spricht für sich. Andererseits, so der Rezensent:
Es ist ein andächtiges, stilles, dunkel gefärbtes Programm, in sich gekehrt statt vorwärtsdrängend, ohne rechte Höhepunkte – und das aus einem bestürzenden Grund: Levit hat es zusammengestellt nach dem plötzlichen Tod seines besten Freundes und will jetzt das Leben feiern. Ein trotziges Album mit großer Kraft, aber eines, das den Lebensmut noch nicht vollends zurückerobert hat. Wenn man dann erfährt, dass Levit die Werke in der Jesus-Christus-Kirche in Berlin auf einem neuen Steinway eingespielt hat, tut einem das doch ein wenig leid. Weil es dem Programm viel mehr genutzt als geschadet hätte, mit einem Instrument konfrontiert zu sein, das selbst auch schon etwas mehr vom Leben gesehen hat.
Ach Gott, Maria, Jesu Christ! Wenn das kein Narrativum ist!!!
Ein Blick und einige Klicks führen tiefer in Igor Levits Programm, hier etwa, und fort von den journalistischen Einstiegen, die das mutmaßliche Seelenleben der Künstler flüssig in Erzählung verwandeln. Noch flüssiger im Fall der Pianistin, die für alles selber sorgt: Booklet, Cover, Werkzusammenstellung. Ihr Narrativ ist sie selbst. Das Foto zwar kann kein Selfie sein, alles andere schon, siehe hier. O-Ton Sophie Pacini in der ZEIT:
Ich hatte eine genaue Vorstellung von dem, was ich will, und ich konnte gut argumentieren. Gerade als junger Mensch hat man oft das Image, man sei noch auf der Suche und sozusagen formbares Material. Es sind jetzt 20 Jahre, die ich Klavier spiele, das heißt, ich beschäftige mich seit 15 Jahren damit, mit meinem Instrument etwas auszudrücken. Ich weiß ganz genau, wie ich wirken will. (…)
Ich bin Perfektionistin. Ich will die Musik zu 99 Prozent durchdringen. Ich beiße mich hinein in die Werke und zerlege sie, analysiere sie, bis ich das Gefühl habe, sie haben sich ganz in mir verteilt. Sie sind mit mir eins geworden. (…)
Ich habe jahrelang Cello gespielt, ein Instrument, bei dem man den Ton mit dem Finger [?] auf der Saite formt. Dieser Ton geht in dich über, du schwingst als Ganzes. Mit der richtigen Bogentechnik kann man Farben erzeugen und Spannungsbögen, die am Klavier extrem schwer nachzuzeichnen sind. Sitze ich am Klavier, stelle ich mir immer vor, ich spanne, was ich spiele, auf einen sehr langen Bogenstrich.
Quelle DIE ZEIT 20. November 2018 „Ich weiß ganz genau, wie ich wirken will“ Die 26-jährige Pianistin Sophie Pacini stürmte mit ihrer fünften CD „In Between“ die Charts. Ein Gespräch über die Zwickmühle des Erfolgs, das Problem Mendelssohn – und die Hammerköpfe des Klaviers. (Interview: Hannah Schmidt).
Motivsammler erinnern sich an die CD „Water“ von Helene Grimaud (siehe im Blog hier oder auch auf Youtube hier). Ich weiß gar nicht, ob sich das Booklet der CD „In Between“ mit dem Bade-Foto des Covers näher befasst. Meine Assoziation wäre Ophelia, – sicher nicht im Sinne der Pianistin, der ich ein langes Leben wünsche. Möglicherweise liefert aber das andere „Narramotiv“ der Eheleute bzw. Geschwister Schumann/Mendelssohn Stoff genug; es ist allerdings in der Literatur bereits hundertfach abgearbeitet. Das neue Problem Mendelssohn, das hier behauptet wird (und sich angeblich nur mit Hilfe der Schwester Fanny hat lösen lassen), habe ich beim besten Willen nicht verstanden.
Solche personenbezogenen CD-Besprechungen sind für mich eigentlich ohne Reiz, vor allem ohne Kauf-Anreiz. Zumal ein Booklet, das keine nennenswerten Informationen zu den Werken verspricht, sondern nur vage Einschätzungen durch die Interpreten, mir nicht begehrenswert erscheint.
Korrektur: Was ich mir besorgen werde, ist die Doppel-CD mit Igor Levit.