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Einfach zuhören oder „Anders hören“?

Vom absichtslosen Zustand

Kann ich ihn absichtlich und planvoll herbeiführen? Und wenn ja, warum? Oder warum nicht? Ich stelle mir vor, ich liege kaputt im Bett und versuche händeringend einzuschlafen. Es geht nicht. – Wenn ich mir vorgenommen habe, bestimmte Mechanismen außer Kraft zu setzen, sollte ich nicht versuchen, diesen Vorsatz mit ihrer Hilfe zu realisieren.

Eigentlich braucht man keine Einübung ins Hören, keine rituelle Reinigung des Ohres, wenn es um Musik geht. Andererseits: warum nicht, wenn hochgeschätzte Interpreten beteiligt sind? Am Ende wird doch die Musik ausschlaggebend sein und nicht meine mentale Vorbereitung auf den Vorgang des Hörens. Wenn man mich anspricht, werde ich auch nicht sagen: warte, ich will dir heute besonders aufmerksam zuhören. Sondern ich höre einfach, was er zu sagen hat. Und werde anschließend darauf eingehen und nicht das Thema loben und die Tatsache preisen, dass wir nun ein Gespräch führen.

Mit diesen Gedanken im Sinn lese ich im aktuellen ZEIT-Feuilleton den Doppel-Artikel Was bewegt diese Frauen (von Hanno Rauterberg und von Christine Lemke Matwey), oder zumindest die zweite Hälfte, deren Obertitel man in diesem Wortlaut nur online findet: „Hörenlernen mit der serbischen Kriegerin / Wie die Performance-Päpstin in Frankfurt aus einem Konzert Kunst macht.“ Ähnliches habe ich früher schon einmal bedenkenswert gefunden, vor fast genau zwei Jahren: hier. Heute bin ich weniger aufgeschlossen, das muss an der Berichterstattung liegen. Oder an der Wiederholung. Aber lebt die Musik, lebt das Konzert nicht von der Wiederholung? Ich studiere die Papiere der Alten Oper Frankfurt: HIER.

ZITAT

Präsent sein – ein Schlüssel auch für die Rezeption von Musik. „Um wirklich Musik zu hören“, sagt Marina Abramović, „muss man mit allen seinen Sinnen dabei sein. Aber unser Leben ist schwierig und hektisch, und wenn wir in ein Konzert gehen, nehmen wir all diese Last mit. Deswegen dachte ich mir, dass es wichtig ist, eine Methode zu entwickeln, mit der man sich auf das Hören vorbereitet.“ Genau um solche neuen Wege zum Hören zu eröffnen, hat Marina Abramović gemeinsam mit ihrer künstlerischen Mitarbeiterin Lynsey Peisinger auf Einladung der Alten Oper Frankfurt ein Musikprojekt entwickelt, in welchem die Regeln des klassischen Konzertbetriebs außer Kraft gesetzt werden und stattdessen durch die Kombination von Übungen der Abramović-Methode und einem Konzert der besonderen Art eine intensive gemeinschaftliche Hörerfahrung möglich gemacht werden soll. Marina Abramović verrät dabei nur soviel: „Es wird alles sehr anders sein, und wir hoffen, dass all das ein Erlebnis ausmachen wird, das ‚out of the box‘ sein wird, etwas anderes als die normale Erfahrung im Konzertsaal.“

Die ZEIT schreibt post factum:

Konzertformate, die mit den Ritualen des Musikvollzugs brechen, sind nichts Neues. Dass Interpreten einen ganzen Saal als Bühne nutzen und das Publikum wandeln darf, lümmeln, dösen – dafür hätte es keiner Performance-Päpstin bedurft. Denn die Effekte solcher Sit-ins sind stets die gleichen: Das Öffentliche wird zum Privaten erklärt, das Private öffentlich gemacht. Grenzen verschieben sich und werden neu verhandelt. Der Konzentration auf Dinge, die außerhalb des eigenen Selbst liegen, ist das selten förderlich. Und der Disziplin auch nicht. (…)

Das Finale nach fünf Stunden gehört dann der neuen Musik. Fast kreuzt sich der letzte Weg der Geigerin mit dem des Duduk-Spielers, als würden sich Orient und Okzident berühren, einen Wimpernschlag lang. Als söhnten sich alle Konflikte aus, von denen ein langes Wochenende lang nicht die Rede war. Blackout. Und Applaus. Eigentlich wie immer.

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Ich weiß nicht, ob ich hätte dabeisein wollen. Meist wird mir unheimlich, wenn sich das Publikum zu wohl fühlt. Quasi zu Hause. Aber eben mit Zuschauern.

. . . eine intensive gemeinschaftliche Hörerfahrung . . .  ist das wirklich unser Ziel?

Muss man nicht Sorge haben, dass sich kleine Wohlfühlgruppen bilden, Menschen einander in die Augen schauen, Lichter angezündet werden? Wie nun, wenn man sich nichts anderes wünscht als die normale Erfahrung im Konzertsaal? Vielleicht nicht mehr als 400 Leute, und alle wissen, warum sie da sind und was Musik bedeutet.