Kein bloßes Mondgesicht
Es passierte mir kürzlich bei der Betrachtung des Mondes (siehe hier!), aber vielleicht nur, weil ich am gleichen Tag Emanuele Coccia gelesen hatte und schon bei einem Fernsehfilm über den Genter Altar und Jan van Eyck versucht hatte, mein Erinnerungsvermögen zu aktivieren. Und diese Obsession hört nicht auf, ich muss das auflösen, weil die alte Gefahr der Mystifiziererei wiederzukehren droht. Ich stehe vor dem Spiegel und beginne damit, die Rechts-Links-Vertauschung zu studieren: wenn ich meine rechte Hand auf den Spiegel zu bewege, tut der gegenüberstehende Ich-Typ das gleiche, die beiden Hände bewegen sich aufeinander zu, aber es ist seine linke Hand, zweifellos, – und meine rechte. Ich weiß, auch mein Gesicht ist seitenverkehrt, das ist nichts Neues, aber – plötzlich ist mir nicht mehr wohl bei dieser Selbstverständlichkeit.
Also: jetzt ist das Buch eingetroffen, das bei mir nicht mehr aufzufinden war und das ich deshalb nach 20 Jahre aufs neue bestellt hatte. Es ist auch aufs neue interessant, aber enthält nicht die erhofften (erinnerten???) Informationen.
Da gibt es nichts vom Spiegel, außer zufallsbedingt auf Seite 48, angesichts der Tatsache, dass schon Neugeborene etwas imitieren:
Auf den ersten Blick mag einem die Fähigkeit zu imitieren zwar komisch und niedlich erscheinen, aber nicht sonderlich bedeutungsvoll. Doch wenn Sie kurz darüber nachdenken, wird Ihnen aufgehen, wie erstaunlich sie in Wirklichkeit ist. Im Mutterleib gibt es keine Spiegel: Neugeborene haben noch nie ihr eigenes Gesicht gesehen. Wie können sie also wissen, ob sich ihre Zunge im Mund oder draußen befindet?
Doch das läuft darauf hinaus, dass wir „offenbar von Geburt an eine Verbindung her[stellen]zwischen diesem persönlichen Selbst und den Körperbewegungen anderer Menschen, die wir lediglich sehen und nicht spüren.“ (a.a.O. Seite 49)
Mir kommt der Verdacht, dass ich einmal ein anderes Werk kannte, vielleicht von Daniel Stern, das hier im Literaturverzeichnis steht: „Die Lebenserfahrung des Säuglings“, Stuttgart 1992. Aber nichts über Spiegel, nur „das narrative Selbst“.
Inzwischen habe ich etwas ruhelos herumrecherchiert, in dem rde-Büchlein aus dunkler Erinnerung von 1959 – Adolf Portmann über das „Bild des Menschen“, mich erinnernd an Versuche mit Affen, die eindeutig zeigten, dass sie das eigene „Selbst“, wenn sie live gefilmt wurden, auf dem Bildschirm erkannten. Dann habe ich – da Coccia sich auf Lacan bezieht – in dessen Wikipedia-Biographie entsprechende Forschungsergebnisse aus der Kinderpsychologie gefunden: hier, das ist doch genau das, was ich meinte, vermutlich kennt es jeder, nur ich bin jahrzehntelang im Tal der Ahnungslosen verblieben. Aber jetzt nicht mehr lange: ich stoße auf das richtige Wikipedia-Stichwort: SPIEGELTEST.
Ich kann mein Glück nicht verbergen, – es ist keine Psycho-Mystik, es handelt sich zweifellos um taghelle Wissenschaft. Bin ich nicht immer wieder darauf gekommen, z.b. auf der Italien-Tournee in einer Autobahnraststätte? Als wir im weitläufigen Speiseraum auf das mächtige, streng perspektivische Gemälde einer toskanischen Landschaft an der Wand schauten und ins Sinnieren kamen: angenommen sie wäre wirklich fotografisch absolut genau, – dürfte das die Frage aufwerfen, ob sich unsere Augen bzw. ihre physische Linse unterschiedlich einstellen, wenn wir in die illusionäre Ferne des Bildes schauten im Wechsel zu den Statuen im Vordergrund? Aber das erledigt sich schnell, wenn die Speisen realitätsgerecht auf dem Tisch stehen. Hätte auch nichts mit meinem Problem zu tun. (Die Linse reagiert auf variable Meldungen über Schärfe und Unschärfe. Wenn sich was ändern lässt, stellt sie sich ein, wenn nicht, dann eben nicht.)
Das könnte man auch als ein Gleichnis behandeln!
Was bleibt, ist die Frage, ob man sich auf die Frage einlassen soll, ob der Raum im Spiegel philosophisch etwas hergibt… oder nur für ein vor-wissenschaftliches Denken, zu dem man dann eben auch die frühe arabische Optik rechnen müsste.
Über den Artikel Spiegeltest lande ich beim Ich-Bewusstsein, und dort – schönes Gefühl der Wiedererkennung – bei Karl Jaspers und schließlich bei Thomas Metzinger, dessen voluminösen Band „Bewusstsein“ ich immer wieder bei offenen und meist ergebnislosen Fragen zu Rate ziehe.