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Leidenschaften 1600

Eine Erschließung

Inhalt Tr.1-14

Discovery of Passion

Text von Dorothee Oberlinger & Bernd Heyder

Protokoll des Lernens

 

Von Flötisten habe ich gern Belehrung angenommen, seit ich mich ernsthaft für Alte Musik (und nicht nur Bach) interessiert habe, Schmitz (1955) 1966, Thieme 1984, der eine Lehrer, der andere Schüler von Günther Höller, dem unvergessenen Freund im Collegium Aureum. Aber nie hätte ich gedacht, – obwohl das Schlüsselerlebnis Monteverdi mit dem Deller-Consort schon 1965 in Saint-Maximin stattfand, später in vielen Aufführungen der Marienvesper vertieft, mit zahlreichen CDs erweitert wurde – gewiss, aber dass die Blockflöte eines Tages ohne meinen Widerspruch für Leidenschaften um 1600 einstehen darf, das hätte ich damals nicht voraussagen können. Und auch auf dieser jüngsten, luciden CD von Dorothee Oberlinger gibt es ein Werk, das ich in der Blockflöten-Version nur schwer akzeptiere.

In wenigen Sekunden schlägt einen dieses Klangbild in Bann, und ehe man bedauert, dass der erste Titel mit den zarten Echowirkungen zwischen Flöte und Violine kaum länger als  eine Minute währt, wird man schon umgarnt von den wundersam-variablen Klängen der Sonate, die von demselben Komponisten stammen könnte. Und schon beginnt man zu lesen und versucht, synchron den Hintergrund zu erschließen. Gar nicht so einfach, wie man an den von mir ins Booklet geschriebenen Zahlen sieht. Und spätestens in dem Solissimo-Stück Tr. 3 der Flöte entschließt man sich zu einem Neustart oder man legt eine Denkpause ein. Es geht „nur“ um den Klang des Instrumentes, die Modi, die Kadenzen, die Lagen, die Diminutionsfloskeln, – eine Live-Anleitung, wie man mit melodischem Material umzugehen hat. Habe ich nicht gerade ein Büchlein über Improvisation durchgeblättert, – ich brauche Zeit, erst recht, wenn mir der Tr. 4 bevorsteht, „ein besonders fröhliches Ostinates Musikstück“, eine „Ciaconna“ (das Wort fast in Bachs Schreibweise), und als Tr. 5 ein Passa Galli von Vitali, dessen „Chaconne“ mir in der Kindheit als Virtuosenstück vorgesetzt worden ist, als mir zur Weihnachtszeit auch erstmalig der Kanon von Pachelbel begegnete, und dessen Bass-Ostinato wiederum zeichnet sich nun hier erinnerungsschwer in einer flotten Moll-Fassung ab, – ich muss wieder innehalten, Lesepause: was war da noch mit diesem Salomone Rossi? Der am Gonzaga-Hof in Mantua wirkte, jedoch zugleich der dortigen jüdischen Gemeinde angehörte? Das aktiviert eine andere Zelle der Erinnerung, WDR-Zeit, MGG, ich kapiere und kopiere, was ich gerade in meiner Nähe greifen kann:

MGG

Ich fahre fort und warte nun geradezu auf ein Madrigal, das sich mir vor 50 Jahren oder früher eingegraben hat: „Hor che’l ciel e la terra“ – Monteverdi mit dem Deller-Consort, eine Ungeheuerlichkeit damals, was könnte hier daraus geworden sein? Mit Blockflöte und Continuo!? Ich erkenne den Anfang gar nicht (Tr.9), ein Irrtum…? statt der düster ausgebreiteten Meeresfläche eine irrlichternde Girlandenkette, erst beim leidenschaftlichen „Veglio“-Ausruf begreife ich, was sich da in der Sopransphäre abgespielt haben soll, eine Karikatur, würde ich sagen. Die Fleißarbeit eines hochbegabten Nachwuchstalentes. Andererseits: wer verpflichtet eine Musikerin, die ein großes Stück Musik auf eigene Weise reflektieren will, mit einem Ensemble aus 6 leidenschaftlichen Sänger*innen zu konkurrieren, deren Wirkung ja gar nicht in Frage gestellt werden soll. Wie schön auch, wenn ein Geiger sich urplötzlich in einen Sänger zu verwandeln vermag, wie hier in Tr. 8, 12 und 17, obwohl er flugs mit berühmten Countertenor-Stimmen verglichen wird, während er im Konzert als kantabler und virtuoser Geiger soviel Wirkung getan hat, dass man ihm jetzt ein Sonderlob auch nicht versagt.

(Fortsetzung folgt)