Offenkundig hat „Volk“ einen Doppelsinn
Der Süddeutschen Zeitung, dem Autor Andreas Zielcke, verdanke ich eine klärende Analyse der Situation in Polen, wo kürzlich unter großem Beifall erklärt wurde: „Das Recht ist eine wichtige Sache, aber es ist kein Heiligtum. Über dem Recht steht das Wohl des Volkes. Wenn das Recht dieses Wohl stört, dann dürfen wir es nicht als etwas ansehen, das wir nicht verletzen und ändern können.“ – Für den Rechtsstaat „furchterregende Worte“ (Zielcke).
ZITAT
Das Volk, das die Verfassungstexte unterstellen, meint die Gesamtheit der Bürger als Souverän, der sich selbst seine Gesetze gibt. In diesem demokratischen Sinn ist ein Volk eine Rechtsgemeinschaft – eine Gemeinschaft von Freien, die sich ihre Freiheit und Würde gegenseitig unwiderruflich anerkennen. „Volk“ versteht sich hier, bei all seiner respektierten kulturellen und historischen Besonderheit, als rechtlich verfasstes Gebilde, nicht als bloß naturwüchsig zusammengewürfeltes oder auch zusammengewachsenes Kollektiv.
Das so als Rechtsgemeinschaft verstandene Volk kann sich nie über Recht und Freiheit erheben. Keiner lieferte das Veständnis der rechtlichen Selbsterzeugung und Selbstbindung von Volk und Nation so früh wie Charles de Montesquieu mit seiner Verknüpfung von Gesellschaftsvertrag und Gesetzesherrschaft. Keiner aber gab sie so früh dem Missverständnis preis wie Jean-Jacques Rousseau mit seiner Verabsolutierung der volonté générale – wenn man dieses „Gemeinwohl“, das nach Rousseau bedingungslose Unterwerfung verlangt, als „Volkswohl“ interpretiert.
Genau das tut jede autoritäre Herrschaft. Unter einer solchen Herrschaft entfaltet der Begriff „Volk“ seinen zweiten Sinn, jetzt verstanden als historisch gewachsene – ethnische, sprachliche – Einheit, die alle Partikularwillen zu einem schicksalhaften Ganzen vereint. Von Bolivien über Russland bis Singapur beruft sich jedes autokratische Regime auf ein so begründetes Gesamtwohl des Volkes, gegen das kein Widerspruch legitim ist. mit der Maxime, „über dem Recht steht das Wohl des Volkes“, hat der Redner im polnischen Parlament die absolutistische volonté générale treffend benannt.
Quelle Süddeutsche Zeitung 23. Dezember 2015 Seite 11 Der missbrauchte Souverän Über dem Recht steht das Volk, tönt Polens Regierungspartei. Nationalisten in ganz Europa sehen das genauso. Warum die „Volksherrschaft“ der grösste Feind der Demokratie ist. Von Andreas Zielcke.
Wir sind das Volk? – Wer ist das Volk?
Einen Ansatzpunkt zum Nachdenken geben die folgenden Ausführungen im Wikipedia-Artikel:
Seit Beginn der Neuzeit wird gemeinhin auch eine Gesellschaft oder Großgruppe von Menschen mit gleicher Sprache und Kultur ein Volk genannt. Dieser Volksbegriff ist emotional und politikideologisch hoch aufgeladen: Die Zugehörigkeit zu einem Volk hat dabei neben objektiven Faktoren (wie kulturelle Verwandtschaft, gleiche Sprache und politische Schicksalsgemeinschaft) auch eine subjektive Komponente im „Sich-Bekennen“ zu einem Volk. […] So haben sich viele in Deutschland lebende Juden vor ihrer Verfolgung als Deutsche gefühlt. Dieser herkömmliche Begriff des Volkes bezeichnet nicht exakt eine bestimmte Kombination der genannten Merkmale, sondern hat einen Bedeutungsspielraum, innerhalb dessen keiner der objektiven Faktoren allein ausschlaggebend und keiner unter allen Umständen unentbehrlich ist. In diesem Sinne wird Volk als populäres Synonym zum Fachbegriff der Ethnie verwendet.
In der Soziologie und Ethnologie wird die Bezeichnung Volk (im Singular) hingegen seit Mitte des 20. Jahrhunderts entweder komplett durch Ethnie ersetzt oder als klassifizierender Überbegriff für mehrere Ethnien verwendet, die sich als Gesamtgesellschaft verstehen. Ansonsten wird in der Fachliteratur nur noch von Völkern (im Plural) gesprochen, wenn spezielle Gruppierungen benannt werden (etwa Hirtenvölker, indigene Völker, sibirische Völker u. ä.).
Ein Volk im Sinne von Staatsvolk besteht hingegen aus der Gesamtmenge der Staatsbürger und ihnen staatsrechtlich gleichgestellter Personen, es bildet dessen Demos (griechisch δῆμος ‚Gemeinde, Volk‘) als Grundlage der Demokratiee. Die ethnische Herkunft von Bürgern eines Staates ist dabei rechtlich unerheblich, während ein Volk im ethnischen Sinn nicht unbedingt einen eigenen Staat haben muss, in dem es die Mehrheit der Bevölkerung bildet (Vielvölkerstaat). Diese Definition war seinerzeit maßgeblich für die Entstehung von Nationalstaaten mit ihrem Anspruch, dass jeder Bewohner des Staatsterritoriums mit Bürgerrecht seiner „Nation“ angehören müsse.
Quelle Wikipedia-Artikel „Volk“ HIER (Im Zitat wurden Anmerkungen und Verlinkungen zugunsten besserer Lesbarkeit weggelassen.)
Der folgende Satz stammt aus dem Wikipedia-Artikel „Staatsvolk„:
Entscheidend für die Zugehörigkeit zum „Deutschen Volk im Sinne des bundesdeutschen Grundgesetzes“ ist also primär der rechtliche Status als Staatsbürger und nicht die Zugehörigkeit zu einem Volk oder Volksstamm, etwa im ethnischen oder soziologischen Sinne. Eingebürgerte Migranten nichtdeutscher Ethnie gehören somit zur bundesdeutschen Bevölkerung und können sich daher unter anderem an Wahlen beteiligen, ohne dass dadurch ein Widerspruch zum Grundgesetz bestehen würde.