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Der Ruf des Brachvogels

Wie ich mich wieder auf Zen besann

Die Vorgeschichte habe ich ja schon am 23. März angedeutet (hier). Und jetzt hat voll die Vogelsangsaison zugeschlagen, auch am Schreibtisch vorm Computer habe ich die Ohren nach draußen gerichtet, lese immer mal wieder in Arnulf Conradis schönem Buch, lege andere, über die er spricht, daneben (z.B. von Hoffmann oder Tiessen), fühle mich ein bisschen verwandt mit ihm. Und dann diese Seiten über Nachtigall und Amsel! Erst recht mit den Passagen über den Brachvogel öffnete er Tür und Tor, die Insel Texel tut sich mir auf, Wanderungen durch „De Bollekamer“ (wenn man das Video anklickt, hört man fortwährend den Ruf des Brachvogels).

Lesen Sie den Text auf dem rückwärtigen Einband? Conradi zitiert immer wieder aus Dumoulins ZEN-Werk, allerdings einem anderen als dem, das ich 1962 studierte:

H.Dumoulin: ZEN Geschichte und Gestalt / Francke Verlag Bern1959

Musik der Natur: Atlantis Musikbuch-Verlag Zürich 1953, 1989 / ISBN 3.254-00157-5

Über die Nähe zur Meditation

ZITAT Arnulf Conradi (Seite 181f)

An einem anderen Tag, Mitte Mai, um die Mittagszeit, hörte ich am Ufer des kleineren Sees, zu dem mich mein üblicher Spaziergang führt, gleich drei Nachtigallen: zwei direkt am See, in der Böschung des Ufers, etwa hundert Meter voneinander entfernt, und eine dritte auf der anderen Seite einer neben dem Weg liegenden Wiese, die leicht ansteigend an ein Wäldchen grenzt, dem ein Weidengesträuch vorgelagert ist. Auch die dritte Nachtigall war von den beiden anderen ungefähr hundert Schritte entfernt, die drei bildeten sozusagen ein Klangdreieck. Ich setzte mich mitten auf der Wiese etwa im Zentrum dieses Dreiecks ins Gras. Die drei Vögel konnten einander deutlich hören, und es war offensichtlich, dass sie einander zu überbieten suchten. Nie vorher habe ich in der Mitte eines solchen dreiseitigen Wohlklangs gestanden. Es dauerte mehr als eine Stunde, bis sich ein Sänger nach dem anderen erschöpft abmeldete. Es war wunderschön, und ich glaube nicht, dass eine Amsel da hätte mithalten können. Trotzdem bin ich froh, dass es das Buch von Heinz Tiessen gibt. So ernsthaft hat sich noch kein Musiker mit dem Gesang der Vögel beschäftigt.

Wir haben bislang nur über die Singvögel gesprochen, aber was ist mit den Gesängen, den Rufen und Geräuschen der anderen? Auch unter den Limikolen, den Watvögeln, gibt es Arten mit sehr melodischen Rufen. Zum Beispiel dem Großen Brachvogel mit seinem weichen „tlüie“, einem tiefen Flötenton, der melodisch ansteigt, sicher einer der schönsten Rufe in der Vogelwelt. Ich höre ihn meist auf Sylt, und da ist er für mich der typische Ruf des Watts geworden. Aber einmal, vor etwa zwölf Jahren, habe ich diesen Ruf auch in der Uckermark bei einem meiner Spaziergänge gehört. Ich war zuerst ein wenig verwirrt, glaubte mich einen Augenblick am Nylönn von Kampen, aber dann sah ich acht Große Brachvögel über mich hinweg ziehen, sechs eng zusammen fliegend, zwei etwas seitlich verschoben. Es war am 14. Juli, also mitten im Sommer, sie waren offensichtlich mit der Brut schon durch. Mit ihren langen gebogenen Schnäbeln und den langsamen Flügelschlägen strichen sie vorüber.

Großer Brachvogel, Foto: Andreas Trepte, www.photo-natur.net

ZITAT Arnulf Conradi (Seite 49f)

Eines Tages flog ein Graureiher bei wolkenlosem Himmel mit seinen langsamen Flügelschlägen lautlos dieses Fließ hinunter, er war über der dunklen Oberfläche kaum zu sehen, aber wann immer er durch eine Schneise des Sonnenlichts glitt, leuchtete das unvergleichliche Grau seines Federkleides geradezu auf. Solche Momente, wenn man stehen bleibt und diesem fantastischen Bild nachhängt, erschließen einem nicht nur die Ästhetik des fliegenden Reihers, das Dunkelgrau der Deckfedern auf dem Rücken des Vogels und das Lichtgrau seines zum S gebogenen zurückgelegten Halses, sondern die ganze Schönheit der Natur. Der Anblick triff einen geradezu, und er trifft einen im ganzen Wesen, nicht nur im Denken. Das ist natürlich keine Erleuchtung im Sinne des Zen-Buddhismus, aber es ist ein tiefer Eindruck. Man ist plötzlich hellwach für diese Empfindung. sie erfüllt einen ganz, und man wird sie nicht leicht wieder vergessen. Auf kaum erklärliche Weise stärkt sie einen und verändert die Art, wie man die Umgebung sieht.

Erich Fromm kleidet das in eine Ausdrucksform, die er von der Schriftstellerin Gertrude Stein entlehnt: „Die Rose, die ich sehe, ist kein Objekt für mein Denken, so wie wir sagen: ‚Ich sehe eine Rose‘, und damit nur feststellen, dass das Objekt, eine Rose, zu der Gattung ‚Rose‘ gehört, sondern in der Bedeutung: ‚Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“.“ Wenn man „Reiher“ an die Stelle der „Rose“ setzt, kommt man der Empfindung, von der hier die Rede ist, nahe. Das Grau des Reihers im Grau der Schatten über dem dunklen Wasser, das plötzliche Aufleuchten in der Sonnenschneise, der lautlose, federnde Flug, der langsame Flügelschlag – das alles ist die Essenz des Reihers in der Empfindung des Vogelbeobachters und, wenn man das sagen darf, zugleich eine Meditation über die Natur. Ein Reiher ist ein Reiher ist ein Reiher.

Quelle Arnulf Conradi: Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung / Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2019 / ISBN 978-3-95614-289-5

Zu dem Satz von Gertrude Stein siehe auch den letzten Abschnitt des Blogartikels „Brahms reden lassen“ hier.

Die Stimmen des Großen Brachvogels

https://www.nationalpark-wattenmeer.de/nds/service/mediathek/audio/gesang-und-rufe-des-grossen-brachvogels/3792 hier

https://www.vogelstimmen.info/Vogelstimmen_Hoerproben_GRATIS.html !!!!

Brachvogel ab 21:09 bis 23:35 (Vorsicht: Lautstärke der Sprecherstimme!)

*    *    *

Ich habe zu Anfang beschrieben, wie ich auf dieses Thema kam – dank der Buchbesprechung von Roman Bucheli in der NZZ; es war am 23. März 2019. Dies sei erwähnt, zum Beweis, dass ich nicht gesteuert bin durch die großartige Sachbuch-Bestenliste der ZEIT vom 25. April 2019. Ich gestehe allerdings gern, dass ich mir jedes Buch dieser (hier unvollständig wiedergegebenen) Liste zulegen würde, wenn ich nur genügend Zeit und Geld hätte … Zudem scheint die Sonne, und die Vögel singen.

Verkettung glücklicher Umstände

Es begann mit einer Mail…

… von Freund Berthold, die nur aus einem pdf-Anhang der Neuen Zürcher Zeitung vom 22. Februar 2019 bestand, hier ist der Beleg (aus Urheberschutzgründen lediglich als Fragment):

Aber der Artikel gefiel mir so sehr, dass ich nicht nur das Buch bestellte, das hier besprochen war, sondern auch – nach einigen Recherchen zum Autor der Buchbesprechung – ein Buch, für das dieser selbst verantwortlich zeichnete: „Wohin geht das Gedicht“ (ohne Fragezeichen) herausgegeben (eben) von Roman Bucheli. Es kam schnell und befriedigte mich vollkommen, eine willkommene Rückkehr zur Lyrik auf dem Umweg über die Prosa, eine unverkennbare Prosa von Lyrikern, schwer zu beschreiben, nicht etwa preziös, sondern kunstvoll kunstlos, faszinierend in jedem Satz.

 Siehe auch hier .

Ist es ein Zufall, dass die neue ZEIT am 7. März den größten Teil des Dossiers dem Thema Lyrik widmet? Einem Dichter, mir unbekannt, anderen jedoch „als einer der bedeutendsten Lyriker in Deutschland“ bekannt? (S. a. Wikipedia hier.)

 DIE ZEIT 7.3.2019 Seite 11

Natürlich ist es Zufall!

Und nach langer Zeit – ich fürchtete schon, dass der Frühling mit seinem anschwellenden Vogelgesang ohne erneuernde Impulse vorüberziehen würde – traf auch das ersehnte, weil von Bucheli so schön beschriebene Buch bei mir ein. Am 18. März.

Und deshalb hatte gestern auch die ZDF-Sendung „aspekte“ Glück: ich stand sie von A bis Z durch, nur um die angekündigte Präsentation des Vogelfreundes nicht zu verpassen.

 screenshots ZDF-Sendung

 ZDF ZDF ZDF

Und wer diesen Meister der Vogelbeobachtung etwas näher kennenlernen möchte, dies wäre ein Anfang, und danach bleibt auf jeden Fall das Buch. Für immer. (Der Film immerhin bis 22.03.2020!) HIER.

Dank an Berthold!