Schnellstmöglich – und bitte noch schneller

Auf der Flucht vor dem Erlkönig

(Youtube-Beispiele)

Und das gleiche kann man hier in asynchron beobachten (ein Problem der Technik – des Technikers am Pult), ebenso weiter unten, dort nur noch schlimmer: Hilary Hahn (also nicht die Schuld der Violinistin!). Welchen Fehler hat der Film-Techniker beim Schneiden gemacht? Er weiß nicht, dass manche Akkorde von oben nach unten über die Saiten „gebrochen“ werden. Die heftige Bewegung des Bogenarmes geht also in Richtung der optisch höher (!) gelegenen tiefen Saite, die jedoch nachschlägt. Wenn man diesen Ton bewegungstechnisch (!) als betonten Ton auffasst, läuft alles falsch, nämlich um ein Triolenachtel verschoben.

Lieber mal mit Noten?

Vadim Repin

Julia Fischer

Kristóf Baráti

Ning Feng

Pierce Wang (11)

Das ist eine vorläufige Stoffsammlung (Auswahl und Kommentar folgen). Man muss das alles nicht lieben, so faszinierend es ist. Aber man kann es auch als Übung betrachten, Ohr und Auge zu koordinieren. – Vom Geigen-Ernst springen wir dann später im Ernst zu Schubert, dem Original mit Gesang. Doch zunächst zu Robert Schumann. Was meint er, wenn er in seiner Zweiten Klaviersonate dem Pianisten rät: „So rasch wie möglich“  und später meint, das sei noch nicht genug? (Sechzehntel sind am Anfang ebenso wie später das Maß der Schnelligkeit!)

Schumann Schnellstmöglich

Schumann Schneller

Schumann Noch schneller

Auf diesen Widerspruch wies mich einst lachend mein Hochschullehrer in Köln hin (Erich Rummel), als ich die Sonate noch nicht kannte. Vielleicht hat er doch nicht ganz recht gehabt: die erforderliche Spanne der linken Hand in den ersten Takten ist so weit, dass das schnellstmögliche Tempo nicht ganz so hoch sein kann, wie wenn die Sechzehntel wie später – beim „Schneller“ – relativ bequem in der Hand bzw. in beiden Händen liegen … – Quatsch! unter dem „Noch schneller“ am Ende haben wir wieder die Dezimen-Spannung in der linken Hand. Es muss also wohl einen psychologischen Faktor geben. (Oder einen „Pfuschfaktor“, – in der Tiefe und mit Pedal.)

Ähnlich übrigens beim Tempo der Geige im Ernst-Schubert. Die Schwierigkeit liegt nicht im Tempo der Triolen, sondern in dem gleichzeitigen Einbau der Doppelgriffe, dadurch wirkt das Tempo auch sehr hoch. Und wenn die Akkorde nicht mehr „klingen“, wenn man sie nicht mehr unterbringt, ist eben das Tempo zu hoch, und die ganze Akrobatik ist für die Katz‘.

Auf dem Klavier ist das Problem ein völlig anderes. Anders als bei der Geige bedeuten schnell repetierte Töne hier bereits eine virtuose Aufgabe: die Bogenhand der Geige spielt ab und auf, ab und auf usw., meinetwegen auch hin und her,  und wenn es schneller geht, verkürzt man einfach die Strecke für das Ab-Auf (oder Hin und Her), die Taste des Klaviers (und so auch der anschlagende Finger des Pianisten) muss immer abwärtsgehen: ab, ab, ab, ab etc. und zwischendurch allein wieder zurückspringen, um für den neuen Abwärts-Impuls bereit zu sein. Beethoven fand eine einfache Lösung: wo die Geige und das Cello im Thema schnelle Repetitionen spielt , lässt er das Klavier einfach Wechselnoten einfügen, so etwa im Klaviertrio op. 1 Nr.2 G-dur. Man vergleiche Violine oben, Klavier im zweiten System und Cello beim Einsatz im dritten System.

Beethoven Repetitionen

Das Thema klingt überall gleich „pfiffig“ und gewinnt durch die leichten Unterschiede noch an Übermut.

Anders ist es, wenn die Interpreten selbst an ihre Grenze geführt (gezwungen) werden sollen, um etwas auszudrücken, das über alle Begriffe grausig ist: die Triolen in Schuberts Erlkönig entsprechen nicht nur dem wilden Galopp des Pferdes, sondern auch dem Beben und Bibbern des Kindes und wohl auch des Vaters, der sein Äußerstes gibt, um den rettenden Hof zu erreichen.

Ich wähle das folgende Video, weil die Hand des Pianisten gleich zu Beginn ins Bild rückt, ansonsten ist die Aufnahme für Lernzwecke etwas kindisch kommentiert, und nicht einmal der Name des Pianisten wird genannt. (Vermutlich Gerald Moore, 1962, siehe nach dem Schlussakkord.)

Jetzt kommt der Grund, weshalb ich mich überhaupt des Erlkönig-Themas angenommen habe, ein höchst lesenswertes Buch, das ich im Jahre 1993 einmal für den WDR rezensiert habe und nach wie vor sehr gern frequentiere. Im Kapitel „Die Grundschnelligkeit“ wird auch das Problem der Repetition behandelt, das Schubert für sich selbst auf elegante Weise gelöst hat:

Klöppel Erlkönig Renate Klöppel: Die Kunst des Musizierens / Schott Mainz 1993

Das Buch ist eine Fundgrube und wurde inzwischen in einer  6., überarbeiteten Auflage herausgebracht (mit Eckart Altenmüller). Unentbehrlich für jeden Musiker und Instrumentallehrer. Siehe hier. Ich frage mich, ob ich auch die neue Version brauche. Sooft ich in mein altes Exemplar geschaut habe, gab es mir neuen Elan fürs Üben. – Nebenbei:  Der Lebensweg der Autorin ist sehr bemerkenswert, siehe bei Wikipedia hier.

Was ist mit der Grundschnelligkeit gemeint? Falls Sie ein Metronom zur Hand haben, können Sie anhand dieses Buches einen erhellenden Selbstversuch durchführen:

Wenn man bei einer Metronomzahl von 120 noch fortlaufend von Schlag zu Schlag vier mal in die Hände klatschen kann, hat man immerhin eine Bewegungsfrequenz von acht pro Sekunde in den beteiligten Gelenken erreicht.

(Klöppel S. 69)

Schubert hat in der vierten Fassung seines Erlkönigs die Metronomzahl von 152 für Viertel angegeben. Das hieße, so Renate Klöppel, dass bei den Oktavtriolen der rechten Hand „eine repetierende Bewegung mit einer Frequenz von mehr als sieben pro Sekunde gefordert“ sei.

Ich kann mich nicht erinnern, ob dieses Lied in die Diskussion der 80er Jahre um die Bedeutung der Metronomzahlen der Beethovenzeit einbezogen worden ist (Talsma, Wehmeyer). Wenn man sich vorstellt, wie ein Sänger seine Partie vortragen wird, wenn er den Klavierpart nicht kennt, so findet man die Metronomzahl 152 völlig angemessen und würde nie darauf kommen, dass das wahre Tempo halb so langsam gemeint sein könnte. Zum Glück hat auch niemand zu behaupten gewagt, dass ein nicht gesungener, sondern dramatisch gesprochener Vortrag der Ballade damals – verglichen mit heute – im halben Tempo stattgefunden hätte. Es gibt menschliche (physiologische) Konstanten durch alle Jahrhunderte. Daran hat sich prinzipiell nichts geändert, auch wenn die Autos heute schneller fahren als je ein Pferd reiten konnte. Und wenn man damals von Virtuosität sprach, die man am Musikinstrument erwartete, stellte man sich keineswegs Fingerbewegungen in Zeitlupe vor, sondern atemberaubend schnell. Und wenn man sich ein galoppierendes Pferd vorstellte – wie im Erlkönig -, so meinte man nicht etwa ein gemächlich trabendes.