Beim Lesen eines Artikels über Rothko
Nach wie vor ein ungutes Gefühl beim Repetieren der eigenen Kritik an Wolfgang Rihms Streichquartett-Titeln „Ohne Titel“ und „Blaubuch“. Und nun der Blick auf das rote Bild im Feuilleton der Süddeutschen. Oder ist es orange? Darunter:
„Untitled“ (1970), Mark Rothkos letztes Bild. Kurz nach der Fertigstellung nahm er sich das Leben.
Kann es da noch ein Zurück geben? Nie habe ich diesen Eindruck vergessen, der sich bei der Lektüre des Buches „Sehen“ von John Berger einprägte (das war 1974):
Ja, und als ich die Seite umgewendet hatte, war das gleiche Bild zu sehen und darunter stand:
Dieses Bild ist das letzte Werk Vincent van Goghs, bevor er Selbstmord verübte.
Es fällt schwer, genau zu beschreiben, wie der Text den Bildeindruck verändert hat, aber zweifellos hat er ihn verändert. Das Bild wirkt jetzt als Illustration des Textes.
Es gibt also keinen Ausweg, ich muss alles lesen, jede Zeile zwischen den Zwischenüberschriften: „Rothko ignorierte alle malerischen Regeln und folgte einzig seinem sinnlichen Impuls“ bzw. „Die Spannung zwischen Bild und Betrachter ist so groß, dass man Scheu hat dazwischenzutreten“.
Quelle Süddeutsche Zeitung 9. Dezember 2014 Seite 11: Der Mann, der die Farben befreite Das Gemeentemuseum in Den Haag feiert Mark Rothko mit einer hervorragenden Retrospektive – und stellt seine Werke denen eines anderen Großmeisters der Abstraktion gegenüber: Piet Mondrian. Von Gottfried Knapp.
Mondrian hat in „Victory Boogie Woogie“ sein Koordinatensystem so unter Strom gesetzt, dass dessen Elemente rhythmisch zu tanzen beginnen. Das zugrundeliegende Leinwandquadrat hängt mit einer Ecke unten an der Wand; die wir üblich senkrecht und waagrecht verlaufenden Linien durchqueren das auf der Spitze stehende Quadrat also diagonal. Sowohl die Linien als auch die von ihnen umschlossenen Rechteckfelder sind in kleinere rote, gelbe, blaue, schwarze oder weiße Quadrate aufgesplittert. Die durchgeklügelte Komposition entwickelt also einen pulsierenden Rhythmus. In diesem Spätwerk wird also exemplarisch vorgeführt, was mit strengen formalen Kalkulationen an animierenden Wirkungen möglich ist. Das war 1944.
26 Jahre später lässt Rothko auf einer hellrot grundierten Leinwand zwei aggressive rote Farbflächen, die sich aus der Ebene herauszuwölben scheinen, so aufeinanderprallen, dass man sich als Betrachter wie von einem Blutstrom bedrängt fühlt und unwillkürlich einen Schritt zurücktritt.
Was soll man dazu sagen? Böse Bemerkungen über zeitgenössische Ästhetik liegen auf der Hand. Dermaßen auf der Hand, dass man sie unmöglich verwenden kann. Hatte ich nicht gestern noch einen Artikel gelesen mit der Überschrift: „Am Ende bleibt die Proportion“ und weiter: „Wolfgang Rihm findet die Schönheit in der Verhältnismäßigkeit“ ? (Johan Schloemann in SZ 8.12.14 Seite 10).
Der Komponist polemisierte zwar scharf gegen die Vorstellung, Schönheit mit „Entspannung“ gleichzusetzen. Aber er beharrte eben auch auf der Bemühung, dass „die Mittel zum Dargestellten“ in Relation bleiben.
Aber vielleicht resultiert sie doch aus dem Wechsel der Mittel zwischen Spannung und Entspannung? Warum nicht noch dazu … ein Gränchen „Inhalt“??? fragt der von Natur aus weniger leidenschaftlich veranlagte Bürger?
Erfährt man dann, dass Rothko wenige Tage nach Vollendung dieses Bildes in seinem Atelier in einer riesigen Blutlache liegend aufgefunden wurde – ein inszenierter Selbstmord vor und auf der Leinwand? – , dann bekommt die Vermutung, dass sein Hantieren mit Farben immer tief im Existenziellen und Emotionalen verankert war, eine schockierende Bestätigung. Deutlicher lassen sich die fundamentalen Gegensätze, die sich zwischen den Methoden der beiden Großmeister der Abstraktion auftun, nicht vorführen als in dieser Gegenüberstellung ihrer letzten Gemälde.
Quellen s.o. SZ 9.12.14 / und: John Berger: Sehen Das Bild der Welt in der Bilderwelt Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1974 ISBN 3 499 16868 5 (Seite 27 f)