Christliches, ausnahmsweise?

Antipoden in der Rückschau

Rudolf Steiner und Dietrich Bonhoeffer neu in Film- und Printmedien

Wer viel Zeit hat, lese doch bitte vorweg meinen Erlebnisbericht, den ich Ende 2021 geschrieben habe. Darin habe ich mich auch mit der Steiner-Lektüre meiner Mutter beschäftigt, der Schock sitzt bis heute. Aber in den frühen 60er Jahren hatte ich doch geglaubt, dass etwas daran sein könnte, eben nur etwas unattraktiv formuliert. Aber wenigstens einzelne Zweige des Wunderbaumes, etwa die Waldorf-Pädagogik, oder die anthroposophische Medizin, vielleicht auch nur als Erfahrungswissenschaft, die biodynamische Landwirtschaft , ein esoterisches Christentum usw. usw.. Jetzt in dem Film kam nochmal alles zurück… aber eben ohne meine Mutter.

Ich will es nicht auf sie allein schieben, es war ja die Situation der Zeit und meine fixe Idee, alles für möglich zu halten: Kehrtwendungen, Neuanfänge, Sonderwege und Radikalismen, warum nicht neben der Psychologie (mit Sigmund Freud oder C.G.Jung) auch die Parapsychologie? Neben der Natur das Übernatürliche? Neben dem sinnlichen Gegenstand die außersinnlichen Phänomene? Ein einfacher Gedankengang hätte mich schon Anfang der 60 Jahre ernüchtern können: die Einsicht, dass die sogenannte geistige Welt einfach eine naive Verabsolutierung der individuellen und überindividuell nachweisbaren Imaginationsfähigkeit des Menschen sein könnte. Eine gewaltige Projektion.

Aber der Film hat empfindliche Schwächen….

Schwer erträglich: die aufdringliche Musik. Auch etwas nervig die Girlie-Stimme der Sprecherin. Wohl In Ermangelung filmischer Originaldokumente wurden viele Szenen per Hand nachgezeichnet und durch KI aufbereitet, besonders die Mundbewegugen des Steiner-Sprechers ziemlich lächerlich. Einblendungen von Geräuschkulissen in gezeichnete Szenen. Schreibtisch in Flammen.

Der Kontakt zur Nietzsche-Schwester Elisabeth Förster-N. wird nicht kritisch behandelt (der geisteskranke Philosoph konnte sich ihrer nicht mehr erwehren).

Gut: die Zeit nach dem 1. Weltkrieg ab 37:00 Krisen, „barfüßige Propheten“  usw. Führer-  und Messiasgestalten. Wirkung auf Morgenstern, Kafka … Albert Einstein: Was hat der Mann da für einen Kohl geredet!? Hermann Hesse: Steiners Texte sind mir vollständig ungenießbar geblieben; schon ihrer schrecklichen Sprache wegen. Kurt Tucholsky: Die Zuhörer schliefen reihenweise ein; daß sie nichtan Langeweile zugrundegingen, lag wohl an den wohltätigen Fogen weißer Magie. 39:40 Zurück nach Berlin in das Jahr 1900, drastische Wende in Steiners Leben, okkulte Einflüsse nehmen überhand. Die deutsche Theosophen. Rituale und Séancen. Hoch-Zeit für Geheimbünde in Europa: Glaube an eine geistige Welt, durch Übungen die Wirkung nutzbar machen. Theosophie. Marie von Siewers. Elitär, Fernost. Neosatanismus, Hubbard, Heinrich Himmler, Anthroposophie. Annie Besant. 43:00

https://www.arte.tv/de/videos/119539-000-A/geheimakte-rudolf-steiner/ hier

Geheimakte Rudolf Steiner

Anthroposoph, Okkultist, Influencer?

Verfügbar nur bis zum 24/06/2025 !!!

ZITAT

Was steckt hinter dem Mythos um den Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner? Die Doku zeigt Steiners Lebensweg von den Anfängen in Wien, den Krisen in Weimar, den wilden Zeiten in der Berliner Bohème bis hin zum esoterischen Führer und geschäftigen Gründer, dessen Reformbewegung Tausende folgen. Rund hundert Jahre nach seinem Tod bleibt die Frage: Wer war Rudolf Steiner?

Ausführlicherer Pressetext:

Vor rund hundert Jahren starb Rudolf Steiner, der Vater der Anthroposophie. Auf seinen Theorien basieren Waldorfschulen, Demeter-Landwirtschaft oder Naturkosmetik. Sie sorgen, ebenso wie die Person selbst, bis heute für Kontroversen. Doch wer war dieser Visionär und Firmengründer? Was prägte ihn und trieb ihn an? Die Dokumentation enthüllt Steiners Lebensweg, wie er sich vom armen Studenten in Wien zum Goethe-Herausgeber in Weimar hocharbeitet und in der Berliner Bohème um 1900 in eine wilde Kunst- und Literaturszene abtaucht, zwischen Tabakrauch und Cognac sympathisiert er dort zeitweilig sogar mit dem Anarchismus. Der selbst ernannte Hellseher findet in einem okkulten Zirkel ein Publikum, das wie gebannt an seinen Lippen hängt. Bald ist sein Erfolg nicht mehr aufzuhalten, seine Reformbewegung erhält regen Zulauf. Warum wird Steiner von den einen vergöttert und von anderen gehasst? Wie sieht die Staatsmacht einen Mann, der zur Jahrhundertwende Schule, Landwirtschaft, Kirche und Staat neu denkt? Akten in einem Geheimarchiv zeugen von seiner Vergangenheit, selbst im Ausland hat man Steiner im Blick. Obwohl er rassistische und antisemitische Aussagen tätigt, mit denen seine Anhänger damals wie heute konfrontiert werden, wird er selbst zur Zielscheibe rechtsnationaler Gewalt. Der Film zeigt wenig bekannte Facetten Steiners: akademisches Scheitern, pikante Beziehungsdramen, esoterische Erleuchtungen, aber auch seinen Sinn für Marketing und Unternehmertum. Rund 100 Jahre nach seinem Tod bleibt die Frage: Wer war Rudolf Steiner?

Regie Anna Pflüger (Deutschland 2024 ZDF)

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Dietrich Bonhoeffer – warum JETZT?

Sowohl auf der Titelseite als auch im Blatt auf vielen Seiten (rot gekennzeichnet).

Ich kenne ihn nicht bzw. kannte ihn seit meiner Schulzeit in Bielefeld, wo ich glaubte, dass er wohl auch mit Bethel, mit Bodelschwingh oder Karl Rahner und Rudolf Bultmann („Entmythologisierug“!) zusammenhing, die im Religionsstoff eine Rolle spielten. Alles, was ich von mir abprallen ließ, denn ich „hatte“ ja Nietzsche.

Aber überall und immer wieder begegnete ich dem Gedicht oder dem Spruch von „guten Mächten wundersam geborgen“, – ohne es in einem der rund 15 Gedicht- oder Lyrik-Interpretationsbände zu vermissen, die sich angesammelt hatten, seit der Entdeckung von Trakl und Benn. Hat er etwa Lyrik geschrieben? Jetzt erfahre ich, dass es mit seinem Leben (und Tod) zu tun hatte, und Volker Weidermann, der Feuilleton-Chef der Zeit, den ich durch sein Thomas-Mann-Buch über das Meer schätzen gelernt habe, er würdigt ihn einer großen Interpretation.

Zitat Volker Weidermann

Warum das jetzt, in diesem Augenblick? Weil es einen Film über ihn gibt? Einen Film aus den USA, der ihn als aufrechten Christen für die unsägliche Vereinigung der Evangelikalen in Beschlag nimmt, eine gigantische Geschichtsverzerrung, die zu Bibelhochhalter Trump’s Fakeproduktion passt. Und so viele richtigstellende Seiten in der ZEIT, so gute, dass ich sie nicht ignorieren kann und will.

(Fortsetzung folgt)

Stylus Phantasticus

Mir fiel eine Orgel-CD in die Hände, die ich mal irgendwie durchgeackert hatte, einige rot unterstrichen Zeilen zeugen davon, und ich erinnere nichts. Im Blog-Register: nichts. Sie stammt aus dem Jahre 2003, – vielleicht fehlten mir die geeigneten Anknüpfungspunkte, vor allem die Blog-Arbeit … So etwas lässt mir keine Ruhe. Und siehe da! Matthesons „Vollkommener Capellmeister“ ist Kronzeuge, vielleicht besaß ich den Band noch gar nicht.

Ich kannte also auch noch nicht http://s128739886.online.de/altdeutscher-reichtum/ (2o19), auch noch nicht http://s128739886.online.de/die-beruehmte-toccata-und-der-junge-bach/ (2023). Also jetzt erst mal ran. Der schwer lesbare Text in größer:

Aha, der schöne Text ist also nicht von der Interpretin Bine Bryndorf, sondern von Kerala J. Snyder.

Gute Idee: Die Choral-Melodien sind im Booklet wiedergegeben.

So, – dies wäre eigentlich das Minimum an Vorarbeit, an Wissenserwerb, wenn ich die Stücke angemessen wahrnehmen und: jederzeit wiedererkennen möchte.

Zu dem Mattheson-Zitat auf der ersten Seite:

   

Quelle Johann Mattheson: Der vollkommene Capellmeister 1739 / Faksimile, herausgegeben von Margarete Reimann / Bärenreiter Verlag Kassel und Basel 1969 (Seite 87 ff)

Jetzt heißt es, die vorhandenen Aufnahmen zueinander in Beziehung setzen, diese vor allem mit denen der Gesamtaufnahme von Harald Vogel. So wären die Fächer im Gedächtnis (siehe die Links oben) neu sortiert und vielleicht besser greifbar.

Auch bedenken, was ich selbst einmal geschrieben habe:

Das Buch von Andreas Weil enthält ein wichtiges Kapitel über den Stile fantastico, allerdings auf eine spätere Entwicklung bezogen, während Andrew Manze bei Athanasius Kircher im17. Jahrhundert ansetzt. Unglaublich schön.

Wo stand das denn???

Es war eine Verpflichtung…

Aus dem Alltag in Oberägypten

Dies ist kein alltäglicher Beitrag eines Reisenden im fremden Land. Man erfasst dergleichen nur, wenn man dort lebt und tieferen Einblick gewonnen hat. Manches bleibt uns ganz fremd, andere Phänomene wird man heute noch ganz ähnlich in ländlichen Gegenden Europas finden, wenn man sie zu entschlüsseln versteht. Von Dr. Hans Mauritz – wir kennen uns seit unserer gemeinsamen Schulzeit in Bielefeld – habe ich oft genug den verständnisvollen Umgang mit verschiedensten Sichtweisen erlebt. Er hat ihn beim jahrelang geübten Wechsel der liebgewordenen Umgebungen erworben: in Deutschland, Frankreich, in der Schweiz, in der Toskana und in Oberägypten. Und dieser Teil Ägyptens ist durchaus nicht zu verwechseln mit Kairo oder anderen Punkten der arabischen Welt.

Ich danke meinem alten Freund für die Überlassung dieses interessanten Textes und empfehle der Aufmerksamkeit auch seine anderen Essays, die in diesem Blog wie auch in dem letzten Link der Anmerkungen (s.u.) zu finden sind.

Der Böse Blick العين

Ein Essay von Hans Mauritz

Wer in Oberägypten (1) lebt und mit Einheimischen befreundet ist, wird recht bald feststellen, dass der „Böse Blick“ etwas ist, an das man glaubt und dessen Auswirkungen man fürchtet. Eine Umfrage, die in der Türkei gemacht wurde, ergab, dass 84% der Befragten den Bösen Blick fürchten. (2) In Syrien sind praktisch alle Menschen überzeugt, dass es dieses Phänomen gibt. (3) In Ägypten und speziell bei uns im Süden dürfte es nicht anders sein. Bekanntlich glaubt man oder hat in der Vergangenheit überall auf der Welt an den Bösen Blick geglaubt, von Mesopotamien und dem pharaonischen Ägypten über Indien, China, den Orient, Afrika und ganz Europa. Das Wort für diesen Zauber ist in allen Sprachen präsent: the Evil Eye, le Mauvais Oeil, il Malocchio. Freilich wird der Böse Blick bei uns im Westen heute selten erwähnt. Selbst wer daran glaubt, neigt dazu, sich „aufgeklärt“ zu geben und nicht zu seinem „Aberglauben“ zu stehen. Dass dies in Ägypten anders ist, hat damit zu tun, dass die Realität dieses Zaubers von der Religion bestätigt wird. Dass es den Bösen Blick wirklich gibt, bezeugt ein Ausspruch des Propheten: العين حقّ (al-‘ain haqq) , „Der Böse Blick ist eine Tatsache“. (4) Einer meiner Bekannten, von dem man weiss, dass er dem Alkohol zuspricht, verursacht einen Autounfall. Statt mit sich selbst zu hadern, sieht er den Grund in einer Ursache, die ihn selbst frei spricht: im Bösen Blick. Ein anderer erleidet gleich zwei Schicksalsschläge: seine Frau verlässt ihn und seine Lämmer sterben. Auch er identifiziert als Ursache seines Unglücks dasselbe Phänomen. Der weit verbreitete Glaube gibt ihm Recht: dem Blick missgünstiger Menschen traut man zu, Liebe und Freundschaft zu zerstören und Vieh krank werden und sterben zu lassen.

Der Böse Blick wird in Ägypten mit dem Wort عين „‘ain“ benannt, das „Auge“ heisst und zugleich das böse, neidische Auge meint. Das Wörterbuch der ägyptischen Sprache übersetzt das Wort mit „the evil eye, the capacity for harming people by regarding them enviously“. (5) In der Tat wird der Neid الحسد (al-hasad) dafür verantwortlich gemacht, dass jemand einem anderen durch einen bösen Blick Leid zufügt. Deshalb wird dieser auch عين الحسد oder عين الحسودة (Blick des Neides) genannt. Wer ein kostbares Objekt, ein wohlgenährtes Tier oder ein schönes Kind mit Bewunderung und Neid anschaut, kann bewirken, dass die Vase zerspringt oder das Tier oder der Säugling erkrankt und stirbt. المحسودين „al-mahsûdîn), die „Beneideten“ und Opfer des Bösen Blickes, sind meistens Personen in ganz bestimmten Lebenssituationen. Schwangere und Wöchnerinnen sind gefährdet oder Brautleute im Moment ihrer Hochzeit. Sein Glück und seinen Erfolg, seinen Reichtum oder seinen sozialen Rang zu zeigen, kann riskant sein. Es empfiehlt sich, besonders Wertvolles zu verbergen. In Anwesenheit „verdächtiger“ Personen sollte man seine teuren Kleider und seinen Schmuck nicht tragen und nicht mit seinen Kindern und deren Schönheit prahlen.

Zu den Situationen, in denen Vorsicht geboten ist, gehört das Schreiten über eine Türschwelle (dort könnte ein böser Zauber versteckt sein) oder die Begrüssung und Verabschiedung von Gästen: unter sie könnte sich ein Unbekannter mischen, der von Neid und Missgunst angetrieben ist. (6) Auch unter den Neidern, الحاسدين “ (al-hâsidîn), den Verursachern des Bösen Blickes, gibt es besondere Kategorien. Man erkennt sie an ihrem Äusseren, weil sie blauäugig, einäugig sind oder schielen. Man verdächtigt Frauen, deren Körper behaart ist, oder Männer, die umgekehrt erstaunlich unbehaart sind. (6) Wenn eine Frau ein Jahr nach ihrer Hochzeit immer noch nicht schwanger ist, fürchtet man, dass sie Opfer des „al-‘ain“ ist. Sterilen und unverheirateten Frauen traut umgekehrt man zu, andere mit dem Blick des Neides zu schädigen oder eine Hexe oder einen Zauberer damit zu beauftragen. Eine junge Frau, die mehr als 20 Jahre alt ist, kann bereits als „alte Jungfer“ gelten und beargwöhnt werden (7).

Wer arm und benachteiligt, ein Versager ist, wessen Kinder keinen sozialen Aufstieg schaffen wie die Kinder seiner Nachbarn, wird gemieden, weil man seinen Neid und seine Rache fürchtet. Der neidische Blick kann absichtlich erfolgen, aber auch ungewollt und unbewusst. Wir Fremden in Ägypten sollten vorsichtig sein. In Europa ziemt es sich, fast überschwenglich zu loben und zu bewundern, was man im Hause seiner Gastgeber sieht. Im Umgang mit Ägyptern sollte man dabei eher zurückhaltend sein, die Schönheit der Kinder eher verhalten bewundern, ebenso die Kleider und die Ausstattung der Wohnung. Wenn man mag, kann man dabei, wie dies Ägypter tun, ein „al-hamdu lillah“ (Allah sei Dank) oder ein ما شاء الله „was Gott gewollt hat“ einfliessen lassen, Segenswünsche, welche die magische Wirkung ausser Kraft setzen. Der Prophet hat diejenigen getadelt, die ihre Bewunderung ausdrücken, ohne Allah zu preisen und ohne ihn zu bitten, den Angesprochenen zu segnen. Uns Fremden fällt auch auf, dass Ägypter auf die Frage, wie es ihnen geht, oft einfach mit „al-hamdu lillah“ antworten, ohne kundzutun, wie prächtig es ihnen gut geht. Der Böse Blick ist eine der Erscheinungsformen des bösen Zaubers, vor dem man sich zu hüten hat. Wer anderen Böses will, kann dies selbst bewirken oder eine „professionelle“ Hexe oder einen Zauberer beauftragen. Die Opfer sind dieselben wie beim Bösen Blick. Eine Braut macht ihre Hochzeitstoilette bei einer Nachbarin, weil sie das schlimme Geschick fürchtet, das ein Neider bei ihr zuhause vorbereitet hat. (8) Wer sich in eine Frau verliebt, die bereits verheiratet ist, kann durch Zauber einen Zwist heraufbeschwören, der zur Scheidung führt. Wer einen Mann beneidet, kann dafür sorgen, dass er impotent wird oder sein Geschlechtsteil zu einem weiblichen wird und er seiner Frau nicht mehr beiwohnen kann . Wenn Zauberer und Hexen Haare, Nägel oder einen Fetzen von deinem Kleidungsstück in ihren Besitz bringen, können sie damit Macht gewinnen über dich. Ihre Praktiken gehen soweit, dass sie einen frisch Beerdigten ausgraben, seine Haare oder seine Nägel, seine Leber oder bestimmte Knochen an sich nehmen, um sie für ihre schwarze Magie zu gebrauchen. In Siwa gab es noch in neuerer Zeit die Gewohnheit, an solchen Gräbern Wachen aufzustellen (9).

Dem Bösen Blick und der Hexerei begegnet man mit vielfältigen Massnahmen. Die Kinder kann man mit einem Namen rufen, der gar nicht ihr wirklicher Name ist. Wir alle kennen Ägypter, die eigentlich anders heissen als sie genannt werden. Diese Verbergung des wahren Namens erinnert uns an ein berühmtes Märchen, dessen Hauptfigur sich freut: „Ach, wie gut, dass niemand weiss, dass ich Rumpelstilzchen heiß“. Nach dem Besuch einer verdächtigen Person kann man das Haus ausräuchern mit Weihrauch oder speziellen Gewürzmischungen. (10) Vor dem Hauseingang werden Zwiebeln aufgehängt, in der Kleidung von Kindern oder im Schleier der Frauen Fenchel versteckt. Beim Betreten der Toilette murmelt man eine Beschwörungsformel, weil man glaubt, dass Dschinnen oder der Satan selbst sich gerne dort aufhalten. Ähnlich beliebt sind bei ihnen unbewohnte Häuser und Wohnungen. (11) Wenn ich von Reisen zurückkam, habe ich selbst erlebt, dass man während meiner Abwesenheit das Radio laufen liess, welches das Koranprogramm ausstrahlte. Vor allem schützt man sich durch Amulette, die gegen den Zauber wirksam sind. Beliebt sind solche in Form eines Auges oder einer Hand, die nach Fatima, der jüngsten Tochter des Propheten benannt ist. Die „blauen Augen“, auch „Nazar“ genannt, heftet man vor allem Kindern an die Kleidung, aber sie hängen auch an Schlüsselanhängern oder am Rückspiegel von Taxis. In Touristengebieten sind diese Gegenstände zu beliebten Souvenirs geworden. Mit in Henna getauchten Handflächen bestreicht man Wände und Hauseingänge. Die Henna-Farbe wird gewöhnlich benutzt zum Schmuck der Braut und der Hochzeitsgäste, weil man ihr „baraka“ (Segenskraft) und Hilfe gegen Magie zuschreibt. Fromme Muslime lehnen oft solchen Gegenzauber ab, weil sie ihn für شرك „shirk“ (Götzendienst, Aberglauben) halten. Sie schützen sich mit den Mitteln, die ihnen die Religion zur Verfügung stellt: Nach der Geburt eines Kindes lässt man einen Scheich kommen, der dem Säugling den islamischen Gebetsruf ins Ohr flüstert. Man rezitiert die „Sure des Frühlichts“ auf, welche lautet: „Ich suche beim Herrn des Frühlichts Zuflucht vor dem Unheil, das ausgehen mag (…) von einem, der neidisch ist.“ (12) Man sagt islamische Segensformeln auf, betet und verharrt in stillem Gedenken an Allah, wie dies die Derwische tun (13). ————————————————————————-

Anmerkungen

Wikipedia : „Der Böse Blick“; „Le mauvais oeil“; „Hand der Fatima“; „Nazar-Amulett“

(1) Zum Geisterglauben in Oberägypten vgl. Elisabeth Hartung, „Die Geister sind überall“, Leben in Luxor.de Autorenforum

(2) Laura Hindelang, „Das Nazar-Auge und der Mythos um den Bösen Blick“ (stern.de)

(3) Gebhard Sebastian Fartacek, „Unheil durh Dämonen (..) Eine sozialanthropologische Spurensuche in Syrien“, 2010, Böhlau Verlag

(4) „Le mauvais oeil“, openedition.org

(5) Martin Hinds/ El-Said Badawi, A Dictionary of Egyptian Arabic“

(6) und (7) Gebhard Sebastian Fartacek, s.o.

(8) und (9) Fathi Malim, „L’Oasis de Siwa vue de l’intérieur. Traditions, coutumes et sorcellerie“, Al Katan, Le Caire 2003

(10) Fartacek, s.o. (11) Fathi Malim, s.o. (12) Fartacek, s.o.

(13) Zum „stillen Zikr des Herzens“ und dem lauten Zikr der Derwische vgl. Hans Mauritz, „Allahs Namen nennen. Zikr , Sufi-Rituale in Oberägypten“, Leben-in-Luxor.de Autorenforum.

Fatma Said aus Ägypten

Ein anderes Bild der Sängerin bilden

(Foto: Film NDR s.u.)

„Wie sie sich als künstlerische Vermittlerin zwischen Morgen- und Abendland versteht…“

Die bemerkenswerte NDR-Sendung DAS! über das Singen HIER , die CD hier

Dagegen die dümmliche Sendung bei BR-Klassik (in derselben Art auch mit anderen Gästen, die vielleicht weniger Schaden nehmen, wie z.B. Anne Sophie Mutter) hier – krasse Fehlversuche, der Klassik ein pfiffiges Publikum zu erschließen –  welches denn???

Ägyptisches Volkslied (inmitten eines Interviews mit Rolando Villazon) hier von 1:28 bis 2:10, separat hören!

Verlauf der Sendung DAS! :

Über das Einsingen 1:55 „reden ist schädlicher als singen“ /ab 3:26 querbeet Tango usw. deutsche Schule 4:40 Sprachen Musikunterricht klassisch (!), katholische Nonnen, Muslime + Christen, alle gemeinsam, selbstverständlich, Chor, Gottesdienste, Jugend musiziert, mit 13 Stimme entdeckt, Gesangsausbildung, dann Berlin 10’00 Faltin Meisterkurs / kannte also mit 18 schon die deutsche Kultur / Eltern (!) / 12:40 / 23:20 live „Widmung“ 15:28 / Was begeistert dich am Lied? / Musik mit Freunden / 18’45 Daniel Hope / Musikmachen ohne Konkurrenzdenken / 20:45 über Kopten in Deutschland Anba Damian „Älteste Kirche der Erde“ 22:35 in Kairo mit Fatma Said  „lieb gewonnen“ / 23:09 Umm Kulthum (!) Einspieler sehr kurz / „wir haben keine Probleme mit Menschen, sondern mit Ideologien“ 23:54 F.S.: „sehr kurze Zeit in Kairo zusammen“/ Wie betrachten dich die Ägypter? / auf der Bühne bei Eröffnung der Ausstellung in Gizeh 26:27 westl. Orchester, klass. Kadenz / wie „Brücken bauen“? FS „auch viel meine Musik, also die ägyptisch-arabische“ 28:00 sie verallgemeinern „die Musik“ als gemeinsame Sprache 29:30 Chorarbeit (extra Beitrag) Forts. Fatma 33:18 Tennis, Sport, Sprachen lernen / MODERATOR Hinnerk Baumgarten

F.S. singt bei Opus Klassik Gala 2021 ein arabisches Lied (melod.Sequenzen), jazzig-europäisch aufbereitet, jedoch mit „echter“ Nay-Flöte. HIER

ABER: gelingt es, ein arabisches Werk mit ihr zu finden, das arabische Intonation berücksichtigt (neutrale Terz), das also wirklich etwas nach Umm Kulthum klingt und eine andere Ästhetik andeutet? (Nein!) – Es sind nur Istrumente, die die „andere“Musik repräsentieren sollen (Ney-Flöte, Qanun). Mehr zu den Schwierigkeiten mit arabischer Musik siehe HIER.

https://www.youtube.com/watch?v=RmJxB6i20WU hier

unten: F.S. erwähnt (bei 3:05) kurz Abdul Wahab, um dann sofort überzugehen zu Frank Sinatra. (?)

Foto: Andrea Artz für DIE ZEIT

Wie kann das sein, dass meine Lektüre sofort lauter Vorurteile weckt. Man sieht es doch: sie ist zu schön, zu mädchenhaft fragil für „das deutsche Kunstlied“, und wie will die Rezensentin denn das entdeckt, erlebt haben: im ICE-Großraumwagen aus dem Handy eines jungen Soldaten, ausgerechnet in den ersten Takten des „Ständchens“ ???

Natürlich, der Name und das Wort Ägypterin lösen bei mir ganz andere Erwartungen und Zweifel aus, sie könnte auf diese Weise gar nichts erlebt haben, was nicht irgendwie lachhaft wäre, „Läuse flöhen moine Lüder“, spotteten wir früher. Albern, ich war durchaus bereit, das Vorurteil zu korrigieren, höre alsbald die Aufnahme auf Youtube, „getupfte Achtel im Klavier, lauter kleine Unruhegeister“, dann Gesang und sage zögernd „das ist zu tief, ja, alles zu tief, die Intonation stimmt nicht!“

Und dann beschließe ich doch, alles zu hören, was ich erreichen kann, und weiß nach weiteren Titeln zumindest: „Alles blitzsauber!“ Erstaunlich, manches auf der Espressivo-Grenze, ja, genau was die Rezensentin zu meinen scheint, wenn sie sagt (im Anschluss an die Goethe-Worte „Der Liebende schreibt“) : „Fatma und ihr Pianist Joseph Middleton machen daraus eine Briefszene, ein heimliches Über-die-Schulter-Gucken, ein In-fremden Tagebüchern-Wühlen. Fast erschrickt man übers eigene Zuhören, über so viel Intimität.“ Ich ertappe mich dabei, wie ich während Schuanns „Widmung“ das Mienenspiel des Begleiters beobachte, ob es nicht zu weit geht und dämpfe vorsorglich die eigene Empathie.

(Das Gedicht ist eigentlich nicht gut, es lebt nur durch Schumann, weil es so gesungen wird!)

Du meine Seele, du mein Herz,
Du meine Wonn’, o du mein Schmerz,
Du meine Welt, in der ich lebe,
Mein Himmel du, darein ich schwebe,
O du mein Grab, in das hinab
Ich ewig meinen Kummer gab.

Du bist die Ruh, du bist der Frieden,
Du bist vom Himmel mir beschieden.
Daß du mich liebst, macht mich mir wert,
Dein Blick hat mich vor mir verklärt,
Du hebst mich liebend über mich,
Mein guter Geist, mein beßres Ich!

Text: Friedrich Rückert

Wunderbare Ambivalenz:

Die drollige Aufmachung der Herren entspricht wahrscheinlich der gewagten Situation: sie kommen zu ungelegener Nachtzeit, trauen sich aber nicht ganz… Schöne Unlogik: Die, der das Ständchen gilt, singt selbst (?) die Hauptstimme.

Der erste Ton der Sängerin gelingt nicht ganz, und dann geht es unbeirrbar seinen Gang, vielmehr: es mäandert harmonisch, wie ein Spiel beim Kindergeburtstag. Unglaublich!

Musik: Franz Schubert D 920 Text: Franz Grillparzer

Ständchen

Zögernd, leise,
In des Dunkels nächt’ger Hülle
Sind wir hier;
Und den Finger sanft gekrümmt,
Leise, leise,
Pochen wir
An des Liebchens Kammertür.

Doch nun steigend,
Schwellend, hebend,
Mit vereinter Stimme, laut,
Rufen aus wir hochvertraut:
Schlaf du nicht,
Wenn der Neigung Stimme spricht.

Sucht ein Weiser nah und ferne
Menschen einst mit der Laterne,
Wie viel seltner dann als Gold
Menschen, uns geneigt und hold.
Drum wenn Freundschaft, Liebe spricht,
Freundin, Liebchen, schlaf du nicht.

Aber was in allen Reichen
Wär dem Schlummer zu vergleichen?
Was du hast und weißt und bist,
Zahlt nicht, was der Schlaf vergißt.
Drum statt Worten und statt Gaben
Sollst du nun auch Ruhe haben,
Noch ein Grüßchen, noch ein Wort,
Es verstummt die frohe Weise,
Leise, leise
Schleichen wir uns wieder fort.

Dort wo die Befürchtung aufkommen könnte, dass statt einer lyrischen Vision ein dramatische Szene entstehen könnte, ist eine solche Innigkeit – Innerlichkeit -spürbar, dass man erleichtert aufatmet. Ich glaube, da gehört etwas Wesentliches zum Liedgesang, das anderen Sängern und Sängerinnen durch die Oper verlorengeht. In dem wie folgt verlinkten Blogartikel habe ich mich damit auseinandergesetzt: HIER (Altherrentraum). Und innerhalb desselben „Altherrentraums“ kann man auch zu Elly Ameling wandern, dort ebenfalls eine unvergessliche Version des Schumann-Liedes „Widmung“ finden. Es gibt nicht so viele Beispiele in der Geschichte des Liedgesangs, und die von Christine Lemke-Matwey genannten Lucia Popp, Margaret Price gehören eher nicht dazu, Elisabeth Grümmer sehr wohl, aber auch Barbara Bonney könnte man hinzufügen. Ich finde folgende Zeilen im großen ZEIT-Artikel noch aufschlussreich:

In wenigen Worten flammt da das Grundproblem der ausübenden Künstler:innen auf, das unter dem Begriff „Diderots Paradox“ schon vielfach diskutiert worden ist, ohne deshalb in der Praxis der Hochschulen präsent zu sein. Fatma Said beschränkt sich auf die Vorstellung einer unendlichen Intensivierung der Emotionen. Das kann scheitern, ist jedenfalls gefährlich an der besagten Grenze. In dem Artikel ist das genau benannt, und der relativierende Einschub von den „tantenhaften Ratschlägen“ (leicht zu ergänzen durch meine onkelhaften) ist nicht von ungefähr. Bei Wunderkindern gelten sie dem drohenden Verlust der Naivität.

Ich erinnere mich an die peinlich überinterpretierten Deutschen Volkslieder von Brahms in der frühen Aufnahme mit Fischer-Dieskau und Schwarzkopf. Andererseits denke ich keinen Moment an „wohlig durchgenudelte Phrasen“, wenn ich mir den Frevel eines allzu pathetisch aufgeladenen Kunstliedes vorstellen soll. Es ist die Glaubwürdigkeit, die beim Zuviel-Wollen auf der Strecke bleibt. Das richtige Maß ist gerade in dem Lied „Widmung“ zu erleben, und zwar auch in dem Anflug einverständigen Lächelns, das sich von der Sängerin auf den Begleiter überträgt oder von diesem zurückstrahlt: daran ist (scheint) nichts auf das Publikum oder die Kamera berechnet. Die Worte „Resonanz“ oder „erlebte Empathie“ wären nicht zu groß dafür. Der Pianist Joseph Middleton ist der ideale musikalische Partner.

Für die Dauer eines Liederabends versuche sie, die Gefühle von Dichtern und Komponisten zum Leben zu erwecken, sagt sie, mit Worten und mit Tönen zu erfühlen, was diese gefühlt haben: „Das ist etwas Heiliges, ganz Magisches.“ Sie sei eine sehr emotionale Sängerin. Ihre Technik, die Kehle, der Hala würden ihr das nicht immer danken.

Und Christine Lemke-Matwey stellt die Frage: Was ist Liedgesang?

Fatma Said antwortet wie aus der Pistole geschossen: „Eine Person steht auf einer Bühne und erzählt Geschichten.“ Klingt simpel, und wenn’s nicht so kompliziert wäre, stimmte es sogar. Wobei die Ägypterin gerade das Komplizierte, das Vielschichtige an der Versuchsanordnung „Lied“ begeistert.

Die Ausdrucksweise gefällt mir. Ich denke daran, wie ich mich seit Studienzeiten damit abgeplagt habe nachzufragen, wer in der Lyrik und im Lied eigentlich zu uns spricht: man erklärte uns – es ist „das lyrische Ich“, nicht identisch mit dem sprechenden Subjekt, nicht mit dem Autor, – ist es der singende Mensch, der eine Situation imaginiert? Daher der eigenartige Gesichtsausdruck, der visionäre Blick, das grundlose Lächeln, das Staunen… Es ist das Glück der Kreativen.

Da unten im Tale
Läufts Wasser so trüb,
Und i kann dirs net sagen,
I hab di so lieb.

Sprichst allweil von Liebe,
Sprichst allweil von Treu,
Und a bissele Falschheit
Is auch wohl dabei.

Und wenn i dirs zehnmal sag,
Daß i di lieb,
Und du willst nit verstehen,                                                                  muß i halt weiter gehn.

Für die Zeit, wo du g’liebt mi hast,
Dank i dir schön,
Und i wünsch, daß dirs anderswo
Besser mag gehn.

Was lange währt…

…wirkt später Wunder: der verzweigte Weg von Bach zu Sweelinck

hören

Es sind schöne Noten (Henle!), kein Grund, sie ungern aufzuschlagen. Ich muss später begründen, was mir daran nicht behagt. (Mir war, als fehlte ein Takt.) Im anderen Zimmer fällt mein Blick auf eine alte CD Box, – warum musste ich sie damals unbedingt haben?- kaum gehört, geschweige denn studiert, und musste sie doch unbedingt besitzen. Fehler: ich hatte versäumt, mich in einige Stücke zu verlieben, oder in wenigstens eins, es wäre so leicht gewesen… aber das Buch hat mir Schwierigkeiten bereitet (ausschließlich niederländischer Text). Ich wollte verstehen und einordnen und dgl., und auch: ich hatte noch keine Spielwiese im Digitalen, nach meiner Pensionierung im WDR, Ende 2005.

2008

Die Schlüsselfigur war Harry van der Kamp, mit seinem Gesualdo-Consort. Ich hatte eine Neuaufnahme meiner Kollegin Dr. Barbara Schwendowius gehört und war der Überzeugung: etwas Schöneres habe ich nie aus dem Radio vernommen, ein Ensemblegesang a cappella mit alter Musik, so vollkommen ausgeglichen in den Stimmen und perfekt sauber, das ist übermenschlich. Es lag sicher auch an dem Stück, das ich zugleich kennenlernte: die Neue Litanei (oder wars die alte?) von Philipp Emanuel Bach. Ich ruhte nicht, bis ich eine Kopie der ganzen Produktion hatte.

 und mein Sohn hatte die Partitur! Die, um die es ging. Er war mir längst vorausgeeilt…

Hänssler Verlag

Dieselbe melodische Formel – unzählige Male unterschiedlich harmonisiert! Und kaum zu glauben: die gleiche, nein, dieselbe Aufnahme gibt es längst bei Sony auf CD und natürlich auf Youtube:

Vorwort im Hänssler Verlag

Der Bach-Sohn wusste, was er geleistet hat, – hier die hochinteressante Vorrede:

Zum Vergleich: https://www.youtube.com/watch?v=kdY0R79fZZ4 hier

Und weiter auf Youtube mit dem Gesualdo-Consort…

Sweelincks Chansons, eins schöner als das andere! Die Texte sind in der Kopie besser lesbar. Ich entscheide mich für I-8,9 „Bouche de Coral“.

(Fortsetzung folgt)

Pfingsten: in Zungen singen

Vorbemerkung nach fast 4 Jahren: ich habe diesen Artikel am 23.5.2021 (war es Pfingsten?) geschrieben und mochte ihn dann nicht veröffentlichen. Warum nicht – ist mir entfallen. Heute fand ich ihn ganz interessant, er beruht ja auf ernst zu nehmenden Erfahrungen. Das muss man ertragen… (14.3.25)

Ein Lied nicht verstehen

Es geht um ein Verbrechen, um die Anklage eines herzlosen Menschen, um die Überbrückung von Milieu-Schranken, um die Verurteilung eines jähzornigen reichen Mannes, der erwiesenermaßen kein Herz hat. Keine Empathie! Wer will sich das schon nachsagen lassen. Nachsicht für den Antipathen! Die Parteinahme für wen auch immer, sie kostet nichts. Und so klingt es auch. Und der Journalist? Er weiß längst, dass dies eins der schönsten Lieder ist, die Bob Dylan je geschrieben hat. Unser Folk-Nobel-Preisträger. Wirklich dieses Lied? Dasselbe, das ich jetzt auch kenne? Und er weiß auch noch, was Bob Dylan in diesem Augenblick gedacht haben mag: „Wäre diese Gitarre eine Waffe, würde ich schießen.“ Jetzt ist es zumindest spannend geworden. Ich muss diese Szene finden. Oder wenigstens das Lied.

Neulich hörte ich, wie eine Freundin der Familie, sagen wir: eine gute Tante, wie sie sich über eins der schönsten Lieder der Romantik mokierte , „Die Mondnacht“ von Schumann/Eichendorff, und zwar in der Interpretation von Christian Gerhaher; wir hatten ihr den Musik-Link geschickt, weil die letzten Zeilen erst kürzlich wieder über einer Todesanzeige gestanden hatten und bei einem Telefonat zum Thema wurden. „Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus …“ Sie hat sich die Aufnahme dann freundlich angehört und gemeint: das ist nicht mein Ding, es erinnert mich an Hape Kerkeling, an dies Lied mit dem „Hurz !“ (Eigentlich eine Szene, die auf höchst ambitionierte Zirkel der Neuen Musik zielt, nicht auf den Kunstgesang überhaupt.)

Die Frage ist, wie man solche Differenzen überwinden kann, gerade wenn man – „volksnah“ – solche kleinen Befremdlichkeiten ausräumen will.

Wie kann man solche Fallgruben des Lebens, zugegeben: in einem nicht so zentralen Bereich, überwinden? Friede den Hütten und auch den Palästen? Wenigstens in den Liedstrukturen.

Noch ein Beispiel: Gesetzt also, ich kenne den Volkssänger Bob Dylan gar nicht, abgesehen von seiner Bekanntheit. Ich verstehe fast nichts von der ganzseitigen Ehrung zu seinem Achtzigsten in der Süddeutschen, verfasst von Willi Winkler, einem renommierten Kulturjournalisten, von dem im Laufe der Jahrzehnte schon viel Kluges im Feuilleton zu lesen war. Noch nie ist mir der Gedanke gekommen, dass der Text, den ich heute von ihm lese, zu lesen versuche, die allbekannten Phänomene der Folkgeschichte etwas insiderhaft mystifiziert. Ich könnte es achselzuckend beiseitelegen, aber da gab es doch einen irritierenden Rückstau, der nachwirkt. Gleich zu Anfang (siehe oben im Original) war von einem frühen Fernsehauftritt des Sängers die Rede und in einer Weise, als habe dort etwas Gefährliches in der Luft gelegen, jedoch:  „Was dann folgt, ist eines der schönsten Lieder, die Dylan je geschrieben hat, „The Lonesome Death of Hattie Carroll“.

So etwas bringt mich aus der Ruhe: „je geschrieben hat“. Der Blick auf ein ganzes Leben also, und dieser Superlativ. Und ich, sein Altersgenosse, ich sitze hier und erinnere mich an gar nichts, und dann endlich doch, aber an ein ganz anderes Lied.

1964 also. Ehrlich gesagt, er war damals kaum jünger als ich, und schon damals hätte mein Alter Ego, das ich immer wieder gern einsetze, auf sein Lied nicht besonders begeistert reagiert. Ich spreche von der Melodie: absteigender E-dur-Sext-Akkord mit Pentatoneinsprengseln, beim „Baltimore Hotel“ vom Grundton e aus aufsteigend und auf der Terz ruhend, dreimal oder mehr, bis „first-degree murder“. Ist das eine Melodie? Jetzt wieder von oben ansetzend, schrittweise abwärts bis zur Terz, gleich anschließend von der Sext zur Terz, das gehört zusammen, dann noch 1mal, allerdings jetzt von der Quart abwärts zum Grundton. Ich analysiere nicht, ich folge den Zeilen und Linien. Aber – gleicht es nicht dem berühmteren Lied, das ich ewig lange kenne, fast plagiatsmäßig, früh auch auf deutsch: „Sag mir, wo die Blumen sind“  (engl. hier )? Wahrscheinlich liebt man dieses Lied nur dank Marlene Dietrich, weil es einst zum Mitsummen und Träumen animierte. Nein, die Melodie ist wirklich auch komplexer und zugleich runder, weniger hysterisch wiederholt, inhaltlich klar positioniert, – ohne unterderhand Konsequenzen einzufordern. Zum Thema: Bob Dylan 1964 – ich hörte in Köln-Niehl unentwegt Wagners „Ring“ und „Tristan“, keine Zeit, dies hier könnte mir entgangen sein:

Der Text steht bei Youtube drunter, ich sollte diesen Zeilenbandwurm wenigstens beim Mitverfolgen in Strophen verwandeln:

Lyrics: William Zanzinger killed poor Hattie Carroll With a cane that he twirled around his diamond ring finger At a Baltimore hotel society gathering And the cops were called in and his weapon took from him As they rode him in custody down to the station And booked William Zanzinger for first-degree murder But you who philosophize disgrace and criticize all fears Take the rag away from your face Now ain’t the time for your tears William Zanzinger, who at twenty-four years Owns a tobacco farm of six hundred acres With rich wealthy parents who provide and protect him And high office relations in the politics of Maryland Reacted to his deed with a shrug of his shoulders And swear words and sneering, and his tongue it was snarling In a matter of minutes, on bail was out walking But you who philosophize disgrace and criticize fears Take the rag away from your face Now ain’t the time for your tears Hattie Carroll was a maid in the kitchen She was fifty-one years old and gave birth to ten children Who carried the dishes and took out the garbage And never sat once at the head of the table And didn’t even talk to the people at the table Who just cleaned up all the food from the table And emptied the ashtrays on a whole other level Got killed by a blow, lay slain by a cane That sailed through the air and came down through the room Doomed and determined to destroy all the gentle And she never done nothing to William Zanzinger And you who philosophize disgrace and criticize all fears Take the rag away from your face Now ain’t the time for your tears In the courtroom of honor, the judge pounded his gavel To show that all’s equal and that the courts are on the level And that the strings in the books ain’t pulled and persuaded And that even the nobles get properly handled Once that the cops have chased after and caught ‚em And that the ladder of law has no top and no bottom Stared at the person who killed for no reason Who just happened to be feelin‘ that way without warnin‘ And he spoke through his cloak, most deep and distinguished And handed out strongly, for penalty and repentance William Zanzinger with a six-month sentence Oh, but you who philosophize disgrace and criticize all fears Bury the rag deep in your face For now’s the time for your tears.

Übersetzung  Hier

Und die Szene, die Willi Winkler analysiert hat, – wäre sie auch bedeutend, wenn der junge Mann früh aus dem Leben gerissen worden wäre, wie etwa Rudi Dutschke? Ohne eine unendliche Werkliste und ohne den Nobelpreis?

Aus der Werkliste MGG Bob Dylan 2001

Am Rande (autobiographische Bruchstücke):

   Woody Guthrie, Umm Kulthumm (!)

Christian Williams (Hg.): Bob Dylan In eigenen Worten / Aus dem Amerikanischen von Clemens Brunn / Palmyra Verlag Heidelberg 2001 ISBN 3-930378-34-5 Umschlagfoto: Mark Seliger/Omnibus Press

Bob Dylan (Wikipedia hier): Kurz vor Ablauf der Frist am 10. Juni 2017 lieferte er die Preisrede ab, die er am 4. Juni 2017 in Los Angeles aufgenommen hatte. Er spricht darin, von Klaviermusik unterlegt, über sein Verhältnis zur Literatur und seine prägenden Vorbilder. (Zitat aus Wikipedia)

Unerhörte Zeichen von Rainer Prüß

Eine Ahnung

Typisch ist es, – wenn man dieses Heft aufschlägt -, man ist gebannt und hat doch keine Ahnung, was einen sonst noch erwartet, wenn man weiterblättert: es sind eben Denkzettel, genauso fesselnd in den Bildern wie in den Texten. Ich habe dieses ausgewählt, weil es Verbindung zu meiner Vergangenheit mit arabischer Musik aufzunehmen scheint. „Luft von anderem Planeten“, wie bei Schönberg. Ich hätte aber gleichermaßen auf das Innere einer Tiefgarage oder auf eine Spielzeuglokomotive treffen können: immer bin ich jeweils mindestens 10 Minuten beschäftigt, ohne dass mir die Zeit lang wird. Das ist Rainer Prüß. Ich bin ihm dankbar, dass ich hier eine Kostprobe wiedergeben darf.

Natürlich gilt das © -Zeichen vor Rainer Pruess. Und es ist nicht das erste Mal, siehe z.B. hier. Oder geben Sie seinen Namen in die „Suche“ rechts oben ein, auch mit -ss statt -ß. Es lohnt sich. Und – Achtung! – die beste Ansicht haben Sie im Computer, nicht im Handy, wo die beiden an sich nebeneinander stehenden, zusammenhängenden Seiten auseinander treten und untereinander rücken…

Der Denkzettel macht Lust, in den Koran zu schauen, wenn nicht dessen Schriftzüge auf deutsch gar so prosaisch ausssähen:

Jetzt müsste ich noch den arabischen Text finden… Oder verstehe ich auch so, was Rainer Prüß recht deutlich beschreibt? – Ich entdecke: am oberen Rand habe ich mangelhaft kopiert:

wie konnte mir das entgehen??? Und ich glaube verstehen zu können, was er mir allgemein über Schriftzüge erklärt? Schriftzeichen! Ich muss besser sehen lernen, das ist klar. Und immerhin habe ich eine ganze Weile über den Blickwinkel des Windmühlenfotos sinniert.

Da ist das ehrwürdige Buch, – werde ich darin, wenn ich es „von hinten“ angeblättert habe, nach der Einleitung überhaupt die erste Sure identifizieren können? Und wer sagt mir überhaupt, mit welchem Text die Inschrift an der alten Moschee-Wand beginnt. Immerhin, der Schriftzug, der Allah bedeutet, müsste auch hier zu erkennen sein, wenn mich Rainer recht geleitet hat…

 

Freund Mauritz aus Luxor hat mir weitergeholfen:

„Die Inschrift befindet sich offenbar an einer Moschee. Der Text ist nicht aus einer Sure, sondern nennt einige der 99 Namen Allahs (= al-asmâ‘ al-husnâ), darunter die Liebe, der Grossartige, der Barmherzige, der Erbarmer.“

aus: s.u.Wiki Aklar1

Den Bericht über „Gottes schönste Namen“ findet man hier, über die Yeni Cumi Moschee ebenfalls in Wikipedia , von dort stammt auch der folgende Blick in die Kuppel (Foto Erol Gülsen):

Noch etwas anderes fiel mir inzwischen auf, und zwar anlässlich der Schrifttype, in der leicht leserlich der „profane Denkzetteltext“ gesetzt ist, genannt „Rotis“, – nach dem Schweizer Wohnort des Erfinders Otto Aicher. Der unbeirrte Blick ins Wikipedia-Lexikon zeigt jedoch, dass dieser interessante Mann in einem urdeutschen Dorf bzw. Weiler gewirkt hat, Rotis, – heute ein Ortsteil von Leutkirch im Allgäu.

Was mich im neuen Denkzettel besonders beschäftigte, war das wunderschöne Foto einer gewundenen Treppe von etwa 50 Stufen; in geheimnisvolles Dunkel getaucht, hinauf an dem Steilufer eines Flusses, scheint sie dort oben auf eine Altstadtpromenade zu führen; ins Auge fällt jedoch die genau hier aufgestellte blaue Europafahne mit dem Sternenkranz. Bezeichnet sie eine Landesgrenze? Entrevaux, Alpes-de-Haut-Provence, verrät das Inhaltsverzeichnis. Nie gehört. Wikipedia bietet die folgende, ganz andere Perspektive des Städtchens von oben.

Foto: Wikipedia (s.o.)

Foto: ©Rainer Pruess

Merkwürdigerweise inspiriert den Freund gerade der andere eindrucksvolle Blick: mit der winzigen Europafahne am Ziel eines beschwerlichen Weges, den wir vielleicht entspannt und bezaubert betrachtet haben, zu einem politischen Text, der die Vision eines künftigen Europas beschwört. Was mich wieder einmal auf die überraschenden Koinzidenzen verweist, die sich jetzt durch den weltweiten Umbruch der Machtausübung häufen und jede selbstbezogene beschauliche Versenkung in Kunst, Musik, Natur unterminieren. So auch, bei Rainer Prüß in graphischer Verdichtung, – der europäische Gedanke.

Wann habe ich das zum Thema gemacht: Sobald man das Individuum hervorhebt, ist es ein notwendiger Schritt zu bedenken, dass kein Individuum für sich allein existiert. Das war hier. Und gleich danach das Stichwort GEMEINWOHL aus dem Lexikon der Philosophie, das war im November 2021.

Und zuletzt am 7. März dieses Jahres bei der Lektüre der neuen ZEIT und eines Artikels von Harald Welzer hier.

Das nenne ich Koinzidenzen. (Zitat) In Zeiten der Verunsicherung, in denen sich private Ungewissheiten und eilige Vergewisserungen untrennbar mit politischen Bewegungen und Bedrohungen zu verquicken scheinen. Wie nie vorher in 70 Jahren.

Oder bei Rainer Prüß zu Europa s.o.: Föderalismus heißt kenntnisreich regional handeln und für das Ganze gemeinsam denken. (…) „Gemeinsam“ setzt Einzelne voraus, die sich zusammentun.

So einfach ist das.

Resilienz und so weiter

Dünkt es mich nicht, dass ich gestern noch nach dem gängigen Wort gesucht habe, und nun ist doch schon anderthalb Jahre her? Ich sehe es hier.

Ein lieber Freund hat reagiert und mir ein viel-fragen-lösendes Buch geschickt mit einer Bildpostkarte, die mich in Begeisterung versetzt: ist es doch das erste Gemälde, das nicht die Gottesmutter in den Mittelpunkt setzt, sondern den Intellektuellen. Natürlich nicht irgendeinen, sondern Thomas von Aquin, dessen Lebensgeschichte ich allerdings zum erstenmal aufmerksam studiere.

Es ist ein Füllhorn aktuellen Wissens, ich kann es allen Intellektuellen meiner Bildungswelt empfehlen, zugegeben: es sind wohl solche, die außer der ZEIT wenig Politlektüre an sich herankommen lassen, und ich erinne mich an Zeiten, als ich dieses überdimensionale Wochenblatt nicht einmal auf der Titelseite zu lesen begann, sondern sofort ins Feuilleton sprang.

Die Welt hat sich grundlegend verändert, deshalb spielt auch das Wort Resilienz für mich eine besondere Rolle. Wollen Sie die Liste genauer unter die Lupe nehmen? Ich gestehe: das erste Wort, dessen Analyse mich hier gethrillt hat, war das Wort HASS, das man heute oft auf selbstgemalten Schildern bei Demonstrationen liest.

Interessant wird es dort, wo es wirklich um das Selbstbild des Hassenden geht:

Im Unterschied zu anderen Emotionen gilt für den Hass [allerdings], dass er in der Regel nicht explizit als Hass kommuniziert wird, sondern nur als Fremdzuschreibung auftaucht. Sich zum eigenen Hass zu bekennen, wirkt anrüchig. Hassen tun immer nur die anderen. Der Grund für diese Abspaltung mag in der Logik der Polarisierung liegen, die verlangt, der unbedingten Negativität des Hasses ein möglichst positives individuelles wie kollektives Selbstbild entgegenzusetzen. Damit die Feindschaftsgefühle dieses Bild nicht trüben, werden sie umetikettiert. Noch die übelsten Beschimpfungen und perfidesten Drohungen verbrämt der Hassende als besorgte Warnung, als mutigen Einspruch, der die Dinge beim Namen nennt, als Notwehr gegen finstere Mächte und nicht zuletzt als Ausdruck der Liebe zur eigenen Gruppe. Die Verfolger treten auf im Gewand der verfolgten Unschuld. Diskrepanzen zwischen dem explizit Gesagten und dem ausgedrückten Gefühl fallen nicht auf, weil die kommunizierten Affekte ohnehin stärkere Resonanzen erzeugen als die mitgelieferten Erklärungen. (Seite 178 f)

… Je emotionaler und verstörender eine Äußerung, desto höher die Chance, dass sie wahrgenommen und kommentiert wird. Angefeuert wird diese Dynamik noch innerhalb der Selbstbestätigungszirkel digitaler Echokammern, deren Mitglieder sich mit immer extremeren Positionen zu überbieten versuchen und auf diese Weise Reputationsgewinne einzufahren hoffen. Damit die Erregung nicht absinkt, darf der Strom an Posts nicht abreißen. An den sozialen Medien zeigt sich allerdings auch, wie innen und außen, vermeintlich virtuelle und vermeintlich reale Welt ineinander verschränkt sind – und dass die Effekte, die sie hervorrufen, nicht an sich gut oder schlecht sind. Der Flashmob, der sich über Social Media zusammenfindet, um gemeinsam zu tanzen, nutzt dieselben Online-Plattformen wie der Flashmob, der das Kapitol erstürmt. (Seite 181)

Aus Mediatheken und anderen Archiven

Techniken der Lebenshilfe? Nicht „nur“ Musik…

der ganze Film:

https://www.arte.tv/de/videos/111019-000-A/die-alchemie-des-klaviers/ HIER

bis 14.05.2025 !

Eine unveröffentlichte Aufnahme des Pianisten und Komponisten Sergej Rachmaninow wird für den Pianisten Francesco Piemontesi zu einem Schlüsselerlebnis. Diese Freiheit des Spiels und diese Virtuosität überwältigen ihn. Der Schweizer Klaviervirtuose macht sich auf eine Reise zu älteren Kollegen, die ihm zu diesen geheimen Elementen des Klavierspiels Auskunft geben können.

Als der Pianist Francesco Piemontesi eine unveröffentlichte Aufnahme des Pianisten und Komponisten Sergej Rachmaninows hört, ist das wie ein Schock für ihn. Diese Freiheit des Spiels, diese Farben und Nuancen, diese Virtuosität, die doch immer mit einem Lächeln präsentiert wird, überwältigen ihn. Er beschließt, zu erforschen, was er hier zu hören glaubt: die Alchemie des Klaviers.
An der Seite von Regisseur Jan Schmidt-Garre macht sich Piemontesi auf eine Reise zu älteren Kollegen, die ihm zu diesen geheimen Elementen des Klavierspiels Auskunft geben können. Er fährt zu Maria João Pires nach Spanien, zu Jean-Rodolphe Kars in ein französisches Kloster und zu Stephen Kovacevich nach London. Er lässt sich von der Opernsängerin Ermonela Jaho inspirieren, auf dem Klavier zu singen, und vom Dirigenten Antonio Pappano, die Farben des Orchesters aufs Klavier zu übertragen.
Zum Abschluss besucht er seinen alten Lehrer und Mentor Alfred Brendel. Und selbst der 1943 gestorbene Sergej Rachmaninow ist plötzlich wieder sehr lebendig …

HIER Hope on the road – Daniel Hope auf den Spuren irischer Musik   oder     Hier bis 4.9.27

Daniel Hope ist unterwegs auf einer sehr persönlichen Reise: Am Steuer eines alten Morris Traveller erkundet der international gefeierte Geiger Irland, die irische Musik – und die Geschichte seiner Familie. Seine erste Station führt ihn ins mittelalterliche Kilkenny, wo er Siobhán Armstrong trifft, die Königin der irischen Harfe. Sie erklärt ihm, wie die Harfe zum Symbol des Widerstands gegen die Fremdbestimmung wurde.

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Hier https://www.imdb.com/de/title/tt2102302/ Der atmende Gott – Eine Reise zum Ursprung des modernen Yoga oder besser als Vimeo HIER nur hinter Bezahlschranke (nur Trailer abrufbar)

Der moderne Yoga, täglich praktiziert von Millionen Anhängern in aller Welt, geht unmittelbar auf Gott Shiva zurück – so die indische Überlieferung. Zugleich ist der moderne Yoga aber eine Erfindung des frühen 20. Jahrhunderts, eine Erfindung des indischen Gelehrten Tirumalai Krishnamacharya. Diese Geschichte ist weit weniger bekannt, und von ihr handelt dieser Film.

Leben und Lehre Krishnamacharyas werden durch die Augen des Regisseurs Jan Schmidt-Garre erzählt, der nach der unverfälschten Yoga-Praxis sucht. Seine Reise führt ihn über die Schüler und Verwandten Krishnamacharyas zu den Ursprüngen des Yoga am Palast des Maharadschas von Mysore. Von Pattabhi Jois lernt Jan den „Sonnengruß“, von Iyengar den „König der Asanas“, den Kopfstand, und Sribhashyam lehrt ihn schließlich die geheime „Life Saving Yoga Session“ seines Vaters.

Aufwendig gedrehter Kinofilm mit unbekanntem Archivmaterial und authentischen Reenactments.

Kritischer Bericht einer Rezipientin hier Zu beachten auch ihre Blogkategorien z.B. Mudra (Finger-Yoga)

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HIER Breathwork und spezielle Atemtechniken wie das „holotrope Atmen“ oder die „Wim-Hof-Methode“ sind zu einem Trendthema in der Sport- und Yogawelt geworden. (WDR)Trailer hier

HIER Glücksfall Sonne – Leben aus Licht und Energie Unsere Sonne bestimmt alle Prozesse des Lebens auf der Erde. Sie ist eine unerschöpfliche Energiequelle. Doch so lebensspendend Sonnenstrahlen sind, das Zentralgestirn kann gefährlich sein. (ZDF) bis 28.2.2029

Auf der Sonnenoberfläche herrscht eine Temperatur von rund 6000 Grad Celsius. Es grenzt an ein Wunder, dass die Erde mit 150 Millionen Kilometern im perfekten Abstand um diesen Feuerball kreist, sodass Leben überhaupt erst möglich ist. Wir weder verbrennen noch erfrieren. Die Sonne ist der Stern, der unserem Planeten am nächsten ist. Ihre gewaltige Kraft ist das Ergebnis einer fortwährenden Kernfusion in ihrem Innern.

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Wichtiger Artikel (von JMR übermittelt): Harald Welzer über Gemeinsinn

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Quelle:

Stichwort demnach: „Gemeinsinn – also die Beziehungs- und Resonanzfähigkeit“

Woher kenne ich das? Gewiss, – Hartmut Rosa:

Weitere Verbindungen zu Hartmut Rosa HIER

Hier im Blog bei Suche eingeben: Individualismus, siehe z.B. hier.

Zeiten der Verunsicherung, in denen sich private Ungewissheiten und eilige Vergewisserungen untrennbar mit politischen Bewegungen und Bedrohungen zu verquicken scheinen. Wie nie vorher in 70 Jahren. Ich nehme die Wochenzeitung DIE ZEIT gewissermaßen als Seismographen, der mich probeweise auf einen Gedankenweg bringt, der zu den vorhergehenden Notizen passt.

Kernsätze aus dem Kommentar links von Bernd Ulrich:

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Anknüpfend an das Beispiel Igor Levit im Rosa-Text (Seite 53 „Topos“), die Rolle, die mit dem immer gleichen Beispiel „Mondschein-Sonate“ aufgerufen wird. Immer dieser erste Satz. Das ewige Rätsel? Sagt das wirklich etwas Neues aus? Warum die Anbiederung an den Sinn des Laien, der sich gern am Altvertrauten und zugleich scheinbar Einfachen entzündet, weil er zugleich vom diskursiven Denken befreit. Warum nicht sich abarbeiten an den labyrinthischen melodischen Gedankengängen einer Bach-Partita, mit der Auflage, sie vorläufig nicht zu mystifizieren? Beginnen Sie ein neues geistiges Leben mit der Sarabande, indem sie ihr wie einer Erzählung „Wort für Wort“ folgen, nicht wie einer Stimmungsmalerei, die Sie ihren Träumen überlässt. Grübeln sie nicht nur über die ersten zwei Takte. Seien Sie streng mit sich!

Bach-Spiel am Klavier live

Bachs längste Fuge

BWV 944 A-moll

Der Anlass zu dieser Erkundung im Blog: das Programm in SG-Wald und die Gespräche mit JMR über die erstaunliche Fuge (plus vorangehende Fantasie), die er vorbereitet hat. Auch der Text dazu (aus dem Bach-Buch von Spitta):

Die Noten besitze ich seit Sept. 1985, habe sie vor allem anhand der CD von Andreas Staier (1988) studiert, wenn man das so nennen kann. In Erinnerung an seine unglaublich „wilde“ Fantasie BWV 922… ebenfalls in A-moll.

Aber eben diese fehlt… BWV 944.

Die Cembalistin auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz trägt dieselben Noten in der Tasche, ich erkenne auch bald die aufgeschlagene Fuge, 9 Seiten lang, ja, aber wie wird sie blättern?

    

Das Originalinstrument Cembalo zwingt zu einem überschaubaren Tempo, aber es gibt kein „originales“ Tempo, das auch für einen virtuosen Klavierspieler verpflichtend wäre. Ich habe die Fuge in einer Aufnahme des jungen Pollini gehört, – das kann nicht das Ziel sein. Andererseits – wenn man die Fuge schon gut kennt und alles versteht, glasklar und auch optisch präsent, – wer wollte da anfangen zu mäkeln, wie der Fuchs bei den Trauben?

Zur Notation der einleitenden Fantasia:

Quelle Paul Badura-Skoda: BACH INTERPRETATION Die Klavierwerke Johann Sebastian Bachs / Laaber Verlag Laaber 1990 Seite 411 f

Die Fantasia schweift ins Wesenlose …. (?) etwa die Fuge auch, die fein gefügte?

Frage also: Gibt es einen Weg, die Form einer solchen Fuge befriedigend ins Auge zu fassen und sich nicht zu bescheiden mit der Auskunft: „perpetuum mobile“ ?

Plan: Die Folge der Stimmen hoch-tief etc. und Übergang zur Hoch-Tief-Wanderung der Fragmente… kulminierend in den Orgelpunkt-Teilen Seite 6 und 8.

Und dies HIER nicht pauschalisierend.

Die genauere (hörende) Betrachtung verweilt – in Chiara Massinis Aufnahme anfangend bei 0:30 – bei den beiden Teilen, die bis 1:29 bzw. 2:08 dauern. Also betreffend 1) und 2), und natürlich wiederholend nach Bedarf…

1) Die Fuge ist dreistimmig. Als erstes das sechstaktige, aus Sechzehnteln bestehende Thema einprägen! Man sollte es bei jeder Wiederkehr eindeutig wiedererkennen, auch wenn nun kein Takt mehr folgt OHNE durchgehende Sechzehntelgänge. Die drei Stimmen kennzeichne ich als Oberstimme, Mittelstimme und Bass, O – M – B, jeden durch eine Themenfolge und die zugehörigen Zwischenspiele bezeichneten Teil der Fuge sehe ich als „Durchführung“. Wir haben hier allerdings nur zwei „reguläre“. Bach ist zu nichts verpflichtet, wenn der Geist zu ihm spricht…

Die erste Durchführung – von Takt 1 bis Takte 33 – enthält die Themenfolge O – M – B   und endet mit dem Kadenztakt in Takt 33, der zugleich als Scheineinsatz den neuen Durchführungsbeginn in Takt 34 signalisiert. (Chiara Massini 1:29)

2) Die 2. Durchführung, M – B  – O, beginnt in Takt 34, das Ende des Formteils würde ich allerdings schon  nach der Kadenz in Takt 53 ansetzen, weil das Thema O noch einmal in e-moll kommt (wie schon in O Takt 44), zugleich die volle Dreistimmigkeit erreicht ist (Chiara Massini 2:08) und in diesem neuen Teil 3  ein paralleler Vorgang geplant ist:

3) ab Takt 54 also Thema O in e-moll, ab Takt 72 Thema B in d-moll, ab Takt 93 Thema M in C-dur bis Kadenztakt 108 (zugleich Scheineinsatz) (Chiara Massini 3:48),

4) dort beginnt C-dur mit Themenfragmenten (Modulationen!), zielt auf den Orgelpunkt H-dur, Ausdünnung, „Zusammenbruch“, und es folgt (Chiara Massini 4:14)

5) ein Neubeginn mit Thema M in e-moll ab Takt 122, dann Thema O  in a-moll, Thema Kadenz (Scheineinsatz) B in g-moll ab Takt 156, mit Themenfragmenten (Modulationen), zielt auf den Orgelpunkt E-dur, Ausdünnung, „Zusammenbruch“ und aus der Tiefe

6) scheinbarer  Neubeginn mit Thema in a-moll (Chiara Massini 5:55), ausweichend, Laufwerk, ab hier nur noch Akkordschläge als Begleitung, allmählicher Aufstieg. Ab Takt 192 wird die zweite Hälfte des Themas a-moll nachgeholt und zum Ende geführt.

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An der obigen Übersicht, die eine Orientierung ohne gedruckte Noten ermöglichen sollte, missfällt mir, dass die gutwilligen Rezipienten zuviel Zeit verlieren mit der Identifizierung der Stellen, die durch Taktzahlen bezeichnet sind. Im Folgenden erwarte ich nur, dass man das Thema zweifelsfrei beim Hören erkennt, entsprechend den rotgefärbten X-Reihen (die natürlich nicht genau die Zahl der Sechzehntel wiedergeben, aber immer ein vollständiges Themenzitat meinen). Die Relationen der Tonarten könnten vielleicht nur erfahrenen Hörern einleuchten, etwa in der Reihe e-moll, d-moll, C-dur, H-dur (durch Fettdruck hervorgehoben). Notfalls findet man sich in der echten Wiedergabe immer zurecht, weil sie dem Verlauf der einzelnen Minuten folgen, wo dann jede bezeichnete Stelle  genau zu lokalisieren ist.

Diese Fuge ist kein Stück zum Grübeln, es wirkt atemberaubend und soll es wohl auch sein. Das heißt aber nicht, dass wir orientierungslos durch musikalische Räume irren.

BWV 944 interpretiert von der Pianistin Gile Bae

0:00 Fantasia (bis 1:17)

1:00 (ab 1:19) a-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (1:29) e-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (1:42) a-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 1:49)

2:00 (ab 2:02) a-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 2:11) (ab 2:16) e-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (ab 2:30) e-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 2:37) dann modulierend

3:00 (ab 2:55) d-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 3:01) dann modulierend (ab 3:21) C-dur xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 3:27) motivisch weiter (bis 3:39) C-dur motivisch weiter bis H-dur-Orgelpunkt (bei 3:51) (hier = Bass-Tremolo)

4:00 (ab 3:56) e-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 4:03)  motivisch weiter (bis 4:17) a-moll xxxx-xxxx-xxxx-xxxx (bis 4:24) modulierend weiter – über g-moll 4:40 – bis E-dur-Orgelpunkt (ab 5:01)

5:00 Ende des Orgelpunkts und Anfang des Schlussteils (ab 5:07) a-moll xxxx-xxxx-yyyy-zzzz abgewandeltes Thema (Akkordakzente als Begleitung), (ab 5:25) der vorher ausgesparte Rest des Themas: – zweistimmige parallel oder in Gegenbewegung laufende Sechzehntel – wie im vorigen Teil vor 4:24. Plus lapidarer Schluss. (5:40)

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Dieser Artikel ist – wie so oft – ein Work in Progress, und ich bin mir darüber im Klaren, dass er hier und da wieder die Dikussion auslöst, ob es nicht eher „zeitgemäß“ sei, – unserer Zeit gemäß -, Bach auf dem modernen Flügel vorzutragen. Im übrigen könne man diese Fuge auch auf dem Cembalo in rasanterem Tempo angehen (und durchhalten). Bei solchen Fragen bin ich auf eine andere Aufnahme gestoßen (worden), die auf dem Cembalo unvergleichlich schön klingt, nebenbei aber auch zeigt, dass eine ganz andere Geschwindigkeit möglich ist, so dass es sich lohnt, über die Mechaniken der beiden Tasteninstrumente aufs neue nachzudenken. Ich schlage vor, bei Philipp Spitta – dem anfangs Zitierten – zu beginnen. Es ist erstaunlich: geschrieben im Jahr 1873.

Ein Klangwunder ohnegleichen, es lohnt sich immer wieder einzutauchen. Oben im letzten Notenbeispiel sehen Sie, was Bach als Vorlage lieferte und dem Spieler zur Ausgestaltung überließ. Wer hätte das geahnt?

Wenn Sie, nach einigen Wiederholungen, sich lösen können und die Fuge anschließen wollen – sie folgt auf dem Fuße – HIER.

Besonders interessant die Differenzierung des Tempos im Bereich des E-Orgelpunktes und der Neuansatz in dem Schlussteil (mit den Akkorden der linken Hand): fast wie eine Stretta, die neue Gestalt des Themas. Sehr überzeugend. Kein „perpetuum mobile“.

Der Interpret ist Léon Berben. Aufnahme 2010. Biographie: https://de.wikipedia.org/wiki/L%C3%A9on_Berben Website http://leonberben.org/

Und weiter im Spitta:

 

Quelle Joh. Seb. Bach von Philipp Spitta / Dritte unveränderte Auflage / Erster Band / Leipzig Druck und Verlag von Breitkopf & Härtel 1921

JMR 9.3.25