Schlagwort-Archive: Ibrahim al-Koni

Die Wüste als Utopie

Ibrahim al-Koni und sein verlorenes Paradies

Von Hans Mauritz

Altes Stadttor in Ghadames (Libya)

Ibrahim al-Koni ابراهيم الكوني wurde 1948 in einer Oase in der Nähe von Ghadames in der nordwestlichen libyschen Sahara geboren. Seine Muttersprache ist Tamasheq, eine der Sprachen der Tuareg. Erst mit zwölf Jahren hat er Arabisch gelernt, die Sprache, in der er mehr als 80 Werke verfassen sollte. (1) Ibrahim al-Koni gilt als einer der berühmtesten Schriftsteller der arabischen Welt und als jener Autor, der Wüste und Nomadentum zur Metapher der menschlichen Existenz und zur Gegen-Utopie des modernen Lebens gemacht hat.

Ghadames (Wikipedia 2004)

Er hat seine Heimat sehr früh verlassen und Exil und Fremdheit kennen gelernt, ein anderes Thema seines Schreibens. Wenn er heute nach seiner Kindheit gefragt wird, in der er als Ziegenhirte an Kälte, Hunger und Durst litt und mit der Angst vor Wölfen und Schlangen lebte, antwortet er: „a lost paradise“ (2)

Der junge Journalist zog 1970 nach Moskau, um am Gorki-Institut vergleichende
Literaturwissenschaft zu studieren und sich die grossen Werke der Weltliteratur in russischer Übersetzung anzueignen. Nach einer Tätigkeit als Journalist in Moskau und Warschau liess er sich 1993 in der Schweiz nieder. Dorthin war er 1988 gereist, um sich in Bern medizinisch behandeln zu lassen. Da er kein freies Hotelzimmer fand, wies man ihn ins Dorf Hünibach. Nach der Fahrt mit Zug und Bus stand er recht verloren da. Ein Passant holte kurz entschlossen sein Auto aus der Garage, hiess den Fremden einzusteigen und fuhr ihn die wenigen hundert Meter zum gesuchten Gasthof: al-Konis erste Begegnung mit schweizerischer Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. (3)

Thuner See (Schweiz)

Das Schicksal wollte es, dass er sich fünf Jahre später in genau diesem Ort niederliess, wo er „die schönsten und künstlerisch produktivsten Jahre in meinem Leben“ verbringen sollte. Die Romane, die er in seiner neuen Heimat oberhalb des Thunersees verfasst, handeln ohne Ausnahme von der Wüste und den Oasen der Sahara. „Sur la terrasse de son chalet-résidence, Ibrahim al-Koni scrute les dunes de son Sahara intérieur“. (4) Der Tuareg, der nach dem Gesetz seines Stammes nicht länger als 40 Tage am selben Ort verharren sollte, ist sesshaft geworden. „Aber die Freiheit der Umherziehenden kann man in sich selbst, in der Meditation, finden.“ Dieses Exil ist leichter zu ertragen, weil für ihn die Schweizer in ihrer Beziehung zur Natur den Tuareg nahe sind und wie sie eine poetische, mystische, sufistiche Liebe zu ihr empfinden. (4)

Der Sufismus, die islamische Mystik, prägt die Art, wie al-Koni die Wüste darstellt. Das Leben seiner Bewohner spielt sich ab an einem Ort ausserhalb des Raumes und der Zeit. Was geschieht, ist nicht spektakulär. Die Nomaden verharren an einer Wasserquelle und ziehen dann mit ihren Herden weiter. Kinder hüten die Ziegen, Männer ihre Kamele. Viele sind einsame Wanderer, fühlen sich als Fremdlinge und Eremiten. „Gott ist keinem Menschen nahe, welcher nicht nahe ist bei der Einsamkeit.“ Selbst wenn sie zu zweit oder zu dritt durch die Wüste ziehen, schweigen sie, denn die wahre Sprache der Wüste ist das Schweigen. Sie „reden“, „ohne die Worte mit der Zunge zu besudeln (..) Das Schweigen nämlich ist eine Einübung der Seele in die Ewigkeit (..) Du ahnst ja nicht, wie sehr die hässliche Zunge die Dinge entstellt, wenn sie sie ausspricht.“ Das Schweigen ist „das Reden der Ewigkeit“.

Libyen Desert (Wikipedia)

Wenn die Menschen nicht reden, redet die Wüste. Alles Sichtbare ist Metapher für Unsichtbares und spricht mit Zeichen: die unendliche Weite, die Felsen und Steine, die Gräber der Ahnen, der Himmel. Wer dahinzieht, kennt „keine Verlassenheit, weil das Wunder des kahlen Himmels über ihm grossartiger war als alle Geschenke des Schicksals“. Der volle Mond tröstet ihn und sagt ihm, „alles sei nichtig, und was bleibe, seien einzig die Körper des Himmels.“ Wichtiger als das Reden sind für die Nomaden die Musik, die Poesie und der Gesang. Der Singende entdeckt, dass „jedes Wort, das sich nicht in Gesang verwandelt, Geschwätz und Gefasel bleibt.“

Die Umherziehenden haben wenig Sinn für leeres Gerede, weil ihr Herz voll ist von Sehnsucht. „Die Sehnsucht ist das erste Schicksal des Wüstenbewohners.“ Diese Wanderer sind in der Welt Fremdlinge, weil sie wissen, dass sie seit dem Sündenfall ihre Heimat, die paradiesische Oase „Wâw“, verloren haben. Sie glauben, „dass allein der Wanderer in seinem Herzen die Sehnsucht hegen kann, die verlorene Oase zu erreichen.“ Und vielleicht ist das Erreichen nicht der wichtigste Aspekt der Wanderung. Der Umherirrende weiss, „dass das Geheimnis im Unterwegssein liegt, dass das Unterwegssein das Leben ist.“ Es gilt, sich ganz dem Weg hinzugeben, aufzuhören, von der Ankunft zu träumen, und das wahre Glück im Unterwegssein zu finden. „Wird so nicht der Weg das eigentliche Ziel des Wanderers?“ Dieses Unterwegssein ist so wichtig, weil die verlorene Oase vielleicht gar nicht im durchwanderten Raum existiert, sondern allein im Herzen des Wanderers. „Wenn du dein Wâw nicht in dir selbst findest, bei deiner Wanderung, wirst du es nirgends finden.“

Karawane

Auch wenn die Wüste als „Leere“ bezeichnet wird und wir vielen Gestalten als einsamen Wanderern und Eremiten begegnen, ist diese Welt weniger leer als wir vermuten könnten. Neben und mit den Menschen lebt ein Volk, das meist unsichtbar bleibt und sich trotzdem ständig bemerkbar macht: die Dschinnen, die in der Wüste schon lange vor den Menschen ihren Lebensraum hatten und ihre Vorrechte nicht an die neuen Bewohner abgeben wollen. „Die erste Lektion, die jedes Kind von seiner Mutter lernt, ist „dass es in die Wüste als Gast der Dschinnen gekommen ist und dass es deren Sitten respektieren muss und ihre Besitztümer nicht anrühren darf (..) Das Gold ist ihr Lieblingsmetall. Es zu besitzen ist ein Angriff auf ihr Vorrecht und eine Verletzung des unverbrüchlichen Vertrages zwischen den Wüstenbewohnern und den Bewohnern des Unbekannten.“

Wer die Dschinnen herausfordert, erregt ihren Zorn und wird bestraft. Die Konfrontation kann spektakulär und von makabrer Komik geprägt sein. Die Dschinnen lieben Masken und Verkleidungen. Um uns zu erschrecken, schneiden sie sich die Köpfe ab oder wachsen in die Höhe, bis sich ihre Gestalt im Himmel verliert. Sie können auch an uns raffinierte psychische Transformationen vornehmen. „Ja, ich möchte fast behaupten“, wird zu einem gesagt, der aus der Einsamkeit zurückkehrt, „die Dschinnen hätten dich in der Wüste ausgewechselt und hätten in deinen Körper ein anderes Geschöpf gesetzt, eines aus ihrer abscheulichen Sippschaft.“

Doch so abscheulich sehen die Dschinnen nicht immer aus. Es kommt vor, dass eine unbekannte schöne Frau in der Oase auftaucht, ein „Dschinnenweib“, dass mit ihrem Gesang die Männer in Wahnsinn und Ekstase versetzt. „Im wilden Rausch fielen Menschen von den Dächern der Häuser (..) Manche wurden von Schwermut übermannt. Sie zogen ihre Schwerter und richteten sie gegen sich selbst.“

Die Dschinnen versetzen nicht nur andere in Raserei und Wahnsinn, sondern lieben es, auch selbst in Ekstase zu geraten. Diese Leidenschaft geht schon aus ihrem Namen hervor. Die Bezeichnung „die Dschinnen“ (جنّ) ist von einem Verbstamm abgeleitet, der „besessen sein, wahnsinnig, verrückt werden“ oder „in Wut, in Raserei versetzen“ bedeutet. „al-dschunûn“ (الجنون) ist das gängige arabische Wort für „Besessenheit, Wahnsinn, Raserei, Ekstase“, und das Adjektiv „madschnûn“ (مجنون) bedeutet „verrückt“.

Was diese Dämonen aus dem Reich des Unsichtbaren praktizieren, hat eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den Darbietungen der frommen Derwische, der Mystiker, der Gottsucher und „fous de Dieu“ . Sie schlagen ekstatisch die Trommeln, bewegen sich rhythmisch hin und her und skandieren die 99 Namen Allahs. Eine solche Zeremonie, „dhikr“ (ذكر ) genannt, findet noch heute in den Dörfern von Oberägypten statt (5). Diese „Sitzungen“, die gesittet und unblutig verlaufen, nehmen in der Welt Ibrahim al-Konis häufig urtümliche, ungezügelte und erschreckende Züge an. Die Scheichs des Tidschanîya-Ordens sind berühmt dafür, in wilde Verzückung zu geraten. „Wenn einer von ihnen den Zustand der ‚Begegnung‘ erreicht hatte, zückte er ekstatisch sein Messer und pflanzte es sich in die Brust, um die Rückkehr unmöglich zu machen.“

Diese Ähnlichkeit in den Praktiken der Ekstase macht die Verwandtschaft zwischen Wüstenbewohnern und Dschinnen plausibel, die bei al-Koni immer wieder zur Sprache kommt. „Alle Geschöpfe der Wüste sind verwandtschaftlich miteinander verbunden“, sagt Âkka, der selbst ein „Chass“, ein Mischling aus beiden Völkern, ist, „In der Wüste, die wir durchqueren, existiert kein  Unterschied zwischen Mensch und Dschinn.“ So hören wir auch von guten Dschinnen, die „weder Bosheit noch üble Machenschaften“ kennen. „Sie sind sogar besser als wir, weil sie Gutes niemals mit Bösem erwidern“. Im Zug der Islamisierung der Wüstenbewohner sind auch die Dschinnen zum Teil Muslims geworden.

Ganz wesentlich zur Wüste gehört ein drittes „Volk“, die Tiere. Diese sind ganz nahe beim Menschen und verhalten sich wie er. Sie reagieren sogar oft menschlicher als der Mensch. Die Teilnehmer einer Karawane sind erschüttert vom Klagelied eines Kamels, dessen Herr umgekommen ist: „Ich möchte wetten, dass im Leib dieses Tieres ein Mensch steckt und kein Tier. (..) Das Kamel ist das einzige Tier des Wüste, das die Trennung von seinem Herrn nicht erträgt. Es verendet aus Trauer, wenn sein Herr stirbt.“

Zwischen Menschen und Tieren kann Freundschaft und sogar Blutsbrüderschaft existieren. Eine Gazelle hat ihr Leben geopfert, um mit ihrem Blut ein verdurstendes Kind zu retten. „Wir und das Menschenkind sind Blutsbrüder geworden.“ Der Ahn der Derwische ist unter der Obhut von Wölfen aufgewachsen und hat ihre Sprache gelernt. Deshalb folgt Scheich Mussa, sein Nachkomme, dem „Ruf seiner Ahnin, der weisen Wölfin, die seinen Ahn gesäugt und zwischen ihm und dem Wolfsrudel Brüderschaft hergestellt hatte.“

In Tieren können Menschen versteckt sein, gute oder böse. Eine Hirtin erschrickt über den „unheimlichen, wilden, satanischen Blick“ einer ihrer Ziegen, „aus Augen, die fast menschlich waren“. Es scheint, „als ob sie es nicht mit einem Zicklein, sondern mit einem Geschöpf zu tun habe, dem ein böser Mensch innewohnt.“

Wer die Tiere liebt, lebt als Vegetarier. „Fleisch wurde ihm ekelhaft (..) Wie konnte nur ein Geschöpf das Fleisch eines anderen essen?! (..) Seit Assûf kein Fleisch mehr ass, weideten die Mufflons in grosser Zahl in seiner Nähe.“ Er  streichelt sie und redet mit ihnen. „Dann trösteten sie ihn mit ihren Augen, die tausend Sprachen sprachen und in tausend Zungen redeten.“ Ein anderer Nomade, Edebnân, findet „in der Gesellschaft der Tiere jene Weisheit, die uns in der Gesellschaft der Menschen mangelt.“

Unter den Tieren der Wüste nimmt der Mufflon eine besondere Stellung ein. Er ist ein heiliges Tier, das schon die Ahnen in ihren Felszeichnungen dargestellt haben, wo er majestätisch neben dem Priester steht. Die Nomaden sehen mit Erstaunen, wie die Touristen, Christen aus Europa, andächtig, fast betend, vor diesen Bildern stehen. Den Libyern aus dem Norden dagegen geht es allein um die Jagd auf Mufflons und Gazellen, nach deren Fleisch sie süchtig sind.

„Der Mufflon ist kein Tier von dieser Welt. Er ist ein himmlisches Tier, ein Engel, ein Bote.“ Die Nomaden haben erlebt, dass er Jäger, die hinter ihm her waren und über einem Abgrund hängen blieben, vor dem sicheren Tod bewahrt hat, indem er ihnen half, einen rettenden Absatz zu erreichen. „Wer von beiden war der Mensch? Wer das Tier?“ Assûf hat sogar in den Augen eines gejagten Tieres seinen verstorbenen Vater gesehen. Es ist, als ob Mensch und Tier, Jäger und Gejagter, eins geworden seien. Der Mufflon-Vater hilft ihm ebenfalls, als er von den italienischen Besatzern zwangsrekrutiert wird. Assûf entkommt, in einen Mufflon verwandelt.

Ein anderer Mann aus dem Stamm wird Udâd (Mufflon) genannt, weil er von diesem Tier so fasziniert ist, dass er nicht davor zurückschreckt, sich in seine Welt vorzuwagen, „sich an der Heiligkeit des unerreichbaren Berges zu vergreifen und sich gegen die Unsichtbaren aufzulehnen.“ Über dem Gipfel liegt nur noch der „Schlund der Finsternis“. Wer ihn erreicht und hineinblickt, so heisst es, verschwinde auf ewig.

Obwohl die Tuareg vor Jahrhunderten den Islam angenommen und selbst für seine Ausbreitung gekämpft haben, zeichnet Ibrahim al-Koni eine Wüste, in der vorislamische Glaubenspraktiken äusserst lebendig geblieben sind. „Es ist, als weigerte sie sich, die alte Religion aufzugeben, die wir mit der finsteren Vergangenheit begraben haben, als wir die Religion der Muslime übernahmen.“

Wer in der Wüste und in der Nähe der Oasen vorbeizieht, bemerkt an den Stimmen der ekstatisch singenden und trommelnden Derwische, die Allahs Namen anrufen, dass er sich in einer muslimischen Gegend befindet. Aber, wie wir gesehen haben, kann diese Ekstase so rauschhaft und selbstzerstörerisch werden, dass sie von der „heidnischen“ Verzückung und vom Wahnsinn der Menschen und der Dschinnen nur schwer zu unterscheiden ist.

Vom Freitagsgebet in der Moschee und übrigen Pflichten der Muslims (den fünf Pfeilern des Islam) ist bei al-Koni weniger die Rede als von Talismanen, Amuletten und Zaubersprüchen, mit denen man sich gegen dunkle Mächte wappnet. Ein Amulett fertigt der Faqîh (الفقيه) an, der islamische Theologe und Rechtsgelehrte. Aber lieber wenden sich die Leute an den heidnischen Zauberer, dessen „Produkte“ wirksamer sind und länger halten. Erstaunlich ist, dass die Faqîhs und die Seher der Magier sich einig sind in dem Glauben, „dass ein rückwärts gesprochener Koranvers die bösen Dschinnen bindet und die Schlangen lähmt.“ Achmâd, von einem Dschinn fortgeschleppt, denkt an dieses Wundermittel, den Thronvers. Aber er weiss diese berühmte Sure nicht auswendig und vermag sie erst recht nicht rückwärts aufzusagen.

Achmûk, ein anderer junger Mann aus dem Stamm, studiert islamisches Recht und Theologie an der Schule der Grossen Moschee in Timbuktu. Er ist seit seiner Kindheit jedoch so fasziniert von den Steinen, dass er Grossbaumeister des Sultans wird. Die Steine, so sagt er, sind die Heimat Gottes. Da sieht sich der Sultan verpflichtet, ihn zu warnen: „Im Stamm gibt es Menschen, die in den Steinen nichts anderes sehen als Götzenbilder, denen der Teufel innewohnt.“ Man sieht, die Auseinandersetzung zwischen Anhängern des Islam und jenen der vorislamischen Zeit ist noch längst nicht abgeschlossen.

Fast alles, was al-Koni über die Wüste schreibt, findet seinen Gegenpart, wenn er uns in die Welt der Oasen führt. Dabei evoziert er beim Leser nicht die romantischen Bilder, die wir mit den Oasen verbinden: Plantagen mit Datteln und Palmen, Tiere auf der Weide. Die Oase, das ist für ihn die Stadt, das sesshafte Leben, der Handel, die Märkte, das Handwerk, die „Zivilisation“.

Die Nomaden haben ihr vom Umherziehen, von Einsamkeit, Meditation und Gottsuche geprägtes Leben gegen Sicherheit, Besitz, Wohlergehen, Luxus und Vergnügen eingetauscht. All diese Errungenschaften werden bei al-Koni negativ bewertet: „Der Stamm zog in Festgebautes ein, die freien Menschen richteten sich in Gefängnissen hinter Mauern und hohen Wänden ein.“ „Die Oase, das ist die Falle des Wanderers, das Paradies der Durstigen, der Schatz der Irrenden, die Heimat der Knechte.“ „Alle Bewohner der Oasen sind Sklaven .“ Nicht Sklaven der Menschen, Sklaven des Teufels.

Der Besitz zerstört die Seele der Wüstenbewohner. „Willst du die Welt besitzen? Dann besitze nicht die Reichtümer der Welt!“ „Niemand kann einen Schatz besitzen und gleichzeitig sich selbst.“ Rettung läge allein in der Flucht zurück in die Wüste. „Hat nicht der Spross der Wüste das Recht zu fliehen(..) , um der Sesshaftigkeit zu entkommen, bei der das Eigentum an Gottes Stelle tritt?“ In den Städten wird das Verbot, Gold zu besitzen und mit Gold zu handeln, weil dies allein den Dschinnnen vorbehalten ist, gelockert und schliesslich ganz missachtet. So „ist das Gold der Gott derjenigen geworden, die beschlossen, alle Götter zu leugnen.“

Um an Gold zu kommen, machen die Städter Anleihen bei den heidnischen Stämmen des Dschungels. Diese nutzen die Chance und lassen sich in den Städten nieder. Sie verknüpfen ihr Darlehen mit der Forderung, auf den Islam zu verzichten, die alten Gottheiten wieder anzubeten und die Rituale der Magier neu zu beleben. Ein Magier ist nicht einer, der sich vor Steinen niederwirft. „Der wahre Magier ist vielmehr derjenige, der Gott um Geld verkauft und ihn in seinem Herzen für die Liebe zum Gold eintauscht.“

Wie wichtig Ibrahim al-Koni die Reflexion über die Religion der Magier ist, zeigt sich daran, dass er seinem Hauptwerk den Titel „Die Magier“ gegeben hat. Der Zufluss von Gold lockt die Menschen in die Städte, und der Handel blüht. Dieser beschränkt sich nicht mehr auf den lokalen Markt. Wer seinen Besitz vermehren will, zieht mit den Karawanen los, bringt seine Waren in die Reiche des Dschungels und kehrt mit einem Goldschatz zurück. Er bezahlt diesen Reichtum mit Selbstverlust: „Er vergass die Oase, und eines Tages hatte er auch seinen Namen vergessen.“

Der Reichtum macht süchtig. „Der Mensch giert nach immer mehr, weil es ihn gelüstet, andere zu beherrschen, zu unterwerfen und zu versklaven.“ In der Oasen herrschen nicht mehr die Noblen, die selbst Wanderer, Eremiten und Dichter waren und ihr Amt nach den überkommenen Gesetzen ausübten. Der Handel braucht einen Führer, der nur eine Puppe in den Händen der Mächtigen ist. Um ihn zu küren, kann es genügen, den Zufall walten zu lassen: der erste Fremde, der vorbeigeht, soll Führer sein. So passiert es, dass man einen Dschinnen erwählt, der in einer Vogelscheuche versteckt war und dahin zurückkehrt, nachdem er die Oase ruiniert hat. „Die Vogelscheuche ist unser Schicksal. Wir lassen uns nieder in ihr. Sie lässt sich nieder in uns. Wir sind die Vogelscheuche, und die Vogelscheuche ist wir.“

Ibrahim al-Koni weiss, dass die Wüste heute längst nicht mehr jene ist, die er als Nomadenkind kennen gelernt hat. Sie wurde entstellt durch die Konzerne, die Erdöl und andere Bodenschätze fördern. Das Erdöl ist ein Fluch, kein Segen für die Libyer. Es tötete nicht nur „die instinktive Liebe zur Arbeit, sondern erschütterte in ihren Seelen auch die ethischen Werte.“ (6) Auch der Massentourismus und die Jagd bedrohen das Leben in der Wüste. Die Schnellfeuergewehre ermöglichen es den Jägern, auf einem einzigen Jagdzug eine ganze Herde von Gazellen zu erledigen.

Im Bewusstsein, dass Kultur und Lebensweise der Tuareg verschwinden, sieht der Schriftsteller seine Aufgabe darin, Zeugnis abzulegen von dem, was er noch als lebendige Realität erlebt hat. „Und jemand müsse das festhalten, was hier als Teil der Menschheitsgeschichte ein Volk gelebt, gedacht, geträumt habe.“ (7)

Al-Koni spricht von diesem Lebensraum als „meine Wüste als Heimat und Metapher“. Er erzählt nicht in erster Linie seine Erinnerungen, sondern gebraucht die Wüste als Symbol, als Metapher der menschlichen Existenz. Die Wanderung der Nomaden meint die Irrfahrt des Lebens, die Suche nach Sinn, nach Gott, nach Glückseligkeit und Erfüllung. Umgekehrt ist ihm die Oase, die Stadt, Metapher des modernen Lebens und „Belohnung“ für alles, was wir aufgegeben und gegen den Segen der „Zivilisation“ eingetauscht haben. Sie schenkt uns, so meint er, nicht das wahre Leben, sondern die Illusion des Lebens, den Selbstverlust, das blosse Spektakel und die Knechtschaft. Die Regeln des Handels und des Marktes beherrschen uns, der Konsum macht uns gierig und süchtig, und die Medien berieseln uns mit leerem Geschwätz. Die Politik kaschiert Ungerechtigkeit und Tyrannei und bringt uns dazu, unsere Knechtschaft zu akzeptieren.

Ibrahim al-Koni weiss, dass der Weg zurück in die Wüste verschlossen ist. Was uns als Ausweg bleibt, ist ein Leben, in dem Genügsamkeit, selbstgewählte Einsamkeit, Schweigen und Meditation die Stelle des Spektakels und der Betriebsamkeit einnehmen, ein Dasein, in welchem die Suche nach Sinn, „die Suche nach einem anderen Leben, das hinter dem Leben liegt“, die Gier nach Macht und Besitz einschränkt. Ein Leben wie das der Sufis, der islamischen Mystiker, die in Musik, Gesang und Bewegung aus ihrem Kerker ausbrechen, um einer höheren Wirklichkeit zu begegnen.

Foto: Wikipedia / Elian – Eigenes Werk. Übertragen aus de.wikipedia nach Commons.

*    *    *

(1) Die Zitate stammen aus folgenden Werken des Schriftstellers, alle erschienen im Lenos Verlag und übersetzt von Hartmut Fähndrich:
„Blutender Stein“, „Goldstaub“, „Ein Haus in der Sehnsucht“, „Das Herrscherkleid“, „Die Magier“, „Meine Wüste. Erzählungen aus der Sahara““, „Nachtkraut“, „Die Puppe“, „Schlafloses Auge. Aphorismen aus der Sahara“, „Die steinerne Herrin“, „Die verheissene Stadt“.
Ferner: „The Scarecrow“, translated by William M. Hutchins, AUC Press 2015 und „The Desert Also Keened“, translated by Dima El Mouallem, in „Arablit“, December 13, 2023
(2) „Thirst of the Desert“, a Conversation with Ibrahim al-Koni, WramcoWorld, March/April, 2023
(3) „Palast der Gastlichkeit“, NZZ 24/5/2008
(4) Isabelle Rüf, „Le désert comme destin“, „Le Temps“, 26/3/2005
(5) Vgl. Hans Mauritz, „Allahs Namen nennen“, „Zikr“, „Sufi-Rituale in Oberägypten“, April 2023, in „Leben in Luxor. Autorenforum“)
(6) „Ein Festschmaus am Leichnam der Mutter“, NZZ 11/5/2007
(7) Hartmut Fähndrich, Nachwort zu „Meine Wüste. Erzählungen aus der Sahara“

Reise in die Weisse Wüste

„Eine Heimat, die an die Ewigkeit reicht“

Hans Mauritz berichtet aus Ägypten

Im Ramadan 2024 reiste ich mit einer Freundin in die Weisse Wüste, die etwa 420 km südöstlich von Kairo und 130 km von der Oase al-Bahariya entfernt ist. Dieses Gebiet ist bei Touristen beliebt wegen seiner Kalksteinfelsen und Steinformationen, ein riesiger Skulpturenpark, wie von einem übermenschlichen Künstler aufgebaut. Weite Flächen glänzen weiss in der Sonne und lassen an Schneefelder, an Seen und an Eisschollen denken. In der Ferne glaubt man Städte mit Kuppeln und Moscheen zu sehen und hoch auf den Felsen Ruinen von Burgen und Gehöften. Auf einem Hügel tront eine Madonna, anderswo hocken dunkle Gestalten auf hellen Klippen. Kolossale Menschenköpfe ragen aus dem Sand heraus, bedrohliche Gesichter mit Fratzen und aufgerissenen Mäulern. Überall riesige Tiere mit ausgestreckten Hälsen, Pferde und Kühe, Elefanten und Nashörner, Vögel, Enten und Schildkröten. Wenn unser Jeep näher kommt, verschwinden diese Trugbilder und verwandeln sich in Geröll, in Steine und Felsen in bizarren Formen . Wir fahren durch eine tote, versteinerte Welt, eine Welt der Illusionen, eine Fata Morgana, die nur in unseren Augen und Köpfen existiert. Menschen, Tiere, Häuser, Städte sind ein Nichts, das uns durch seine Täuschungen zu necken scheint.

Die Weite und das Schweigen sind sogar in dem Zeltlager präsent, in dem wir dreimal übernachten. Zwei Abende und Nächte waren wir ganz allein und liessen die Einsamkeit zu unserer Seele sprechen. An einem dritten Abend tauchten dann Gruppen von Touristen auf und brachten Betriebsamkeit und Geschwätz.

Ein Blick in die Semantik (1) zeigt, dass das deutsche Substantiv „Wüste“ und das Adjektiv „wüst“ negative und bedrohliche Assoziationen hervorrufen. Synonyme von „Wüste“ sind „Unfruchtbarkeit, Wildnis, Unwirtlichkeit, Verlassenheit und Öde“. Das Adjektiv „wüst“ meint „unbewohnt, öde und verlassen, ausgestorben, wirr und chaotisch, abscheulich, widerwärtig, grässlich und vulgär“. Das Verb „verwüsten“ bedeutet „zerstören, beschädigen, ausplündern und brandschatzen“. Ein „Wüstling“ ist ein zügelloser, lasterhafter Mensch, rücksichtslos, zu Gewalt neigend und mit einem sexuell ausschweifenden Lebenswandel. Aber Zusammensetzungen wie „Wüstenheiliger“, „Wüsteneremit“ und „Wüstenpilger“ weisen darauf hin, dass dieser endlose, leere Raum auch eine ganz andere Dimension erahnen lässt.

Die Unendlichkeit lässt an grenzenlose Freiheit denken , und die Stille redet von Gott. Nicht umsonst sind alle grossen monotheistischen Religionen in der Wüste entstanden. Die Wüste war Heimat von Propheten, von Einsiedlern und Mystikern. „Wenn ich einen Gottlosen bekehren wollte, würde ich ihn in eine Wüste verbannen„, sagte der französische Philosoph Théodore Jouffroy. (2) „Die Welt tötet uns durch Betriebsamkeit, die Wüste belebt uns durch Stille. Die Wüste ist das Erwachen der Seele, die Heimat Gottes, ein Paradies aus Nichts, eine Heimat, die an die Ewigkeit reicht. Wir gehen in die Wüste, um unseren Durst nach Freiheit zu stillen„. Dies sind Zitate aus einer Aphorismen-Sammlung von Ibrahim al-Koni (3). Dieser Schriftsteller ist nicht Ägypter, sondern Libyer. Er wurde 1948 in der Region von Ghadames, im Nordwesten der Sahara nahe der algerischen Grenze, geboren. Er entstammt einem Tuareg-Stamm, seine Muttersprache ist Tamasheq, ein Berberdialekt, und er hat erst mit zwölf Jahren Arabisch gelernt, die Sprache, in welcher er dann mehr als achtzig Bücher geschrieben hat (4). Dass wir ihn zum Kronzeugen für unseren Bericht heranziehen, ist nicht unberechtigt. Dieses Wüstengebiet ist, über alle nationalen Grenzen hinweg, eine geographische Einheit. Die Weisse Wüste liegt zwar im ägyptischen Sprachgebrauch in der „Westlichen Wüste“, aber der offizielle Name, den die Geografen verwenden, lautet „Libysche Wüste“.

            

Die Oasen, die wir vor und nach unserem Ausflug in die Wüste besuchen, bilden einen starken Kontrast zu dieser Welt aus Sand und Steinen. In unseren Augen, an Weiss und Grau gewöhnt, an das Nichts, die Leere und Unendlichkeit, erscheinen die Oasen wie eine andere Welt. Die Dattelplantagen, die Olivenhaine und der Klee erstrahlen in saftigem Grün. Gut genährte Kühe und elegante Pferde weiden auf den Wiesen. Stille herrscht freilich auch hier. Nur wenige Bauern fahren auf Eselskarren und Motorrädern vorbei, um auf den Feldern zu arbeiten, Viehfutter zu transportieren und ihre Tiere zu versorgen. Obwohl in diesem Grün Ställe und z.T. stattliche Häuser versteckt sind, wohnt hier niemand. Die Fellachen ziehen es vor, in den Dörfern entlang der Strasse zu leben, die in pharaonischer, griechisch-römischer und koptischer Zeit blühende Kulturzentren waren, deren Tempel, Friedhöfe und Gräber heute von den Touristen besucht werden. Aber die Dörfer wirken unspektakulär und schäbig. Wichtiger als Einsamkeit und Nähe zur Natur sind diesen Menschen wohl dörfliche Gemeinschaft und Geselligkeit. Manche ihrer Söhne arbeiten im Tourismus und fahren stattliche Autos, auch wenn dieser Sektor immer mal in der Krise steckt. In den Nächten, in denen wir in den Oasen übernachteten, waren wir stets die einzigen Gäste in den prächtigen Hotels.

In der Oase al-Bahariya besuchten wir den Landwirtschaftsbetrieb, den unser Reiseführer Montasser Farag und seine Schweizer Gemahlin Juliette Kaltenrieder betreiben (5). Die beiden haben sich 2008 auf einer Wüstenreise kennen gelernt, drei Jahre später geheiratet und sich in al-Bahariya niedergelassen. Weil Montassers Reiseunternehmen in Schwierigkeiten gerät, als 2015 bei al-Bahariya mexikanische Touristen von Soldaten getötet werden, die sie für Terroristen hielten, und die Wüste danach jahrelang für den Tourismus gesperrt wird, beschliesst das Paar, auf Landwirtschaft umzusatteln.

Juliette und Montasser erwerben drei Hektar Land, auf denen 70 bis 80 Palmen wachsen, und bauen das Unternehmen „Oasen-Delikatessen“ auf, das vor allem Datteln und Oliven produziert. Die Schweizer Geografin und Dozentin eignet sich das Wissen über traditionelle Anbaumethoden und moderne Techniken an, mit dem Ziel, Bio-Produkte von höchster Qualität zu erzeugen. Die Arbeitsvorgänge sind sehr aufwendig und erfordern Konzentration und ein gut geschultes Team. Die Datteln müssen sortiert, getrocknet und gewaschen werden. Jede Dattel wird mit Stirnlampe einzeln begutachtet, um Schädlingsbefall zu erkennen. (6)

Juliette arbeitet mit einer Gruppe von Frauen zusammen, die so zu einer bezahlten Arbeit kommen, was in der Oase ganz ungewöhnlich ist. Auf diese Weise erwerben sie Wissen und Erfahrung, ihr Selbstvertrauen wird gestärkt, und sie sind stolz auf ihre Arbeit und die Qualität der Erzeugnisse. „Juliette hat mir mehr geholfen als meine Mutter“, sagt eine junge Mitarbeiterin.

Der Schweizerin gelingt es, sich in diese fremde Welt zu integrieren, weil sie deren Traditionen und Denkweisen respektiert, ohne sich selbst aufzugeben. Ihre Arbeit gibt ihr Erfüllung. „Nach Ägypten auszuwandern, ist das Beste, was ich je getan habe.“ (7) Dennoch bleiben Misserfolge nicht aus. Der Betrieb erweist sich als zu klein, um mit den grossen, industriell arbeitenden Firmen zu konkurrieren. Der Export ihrer Produkte in die Schweiz wird erschwert durch hohe Zollgebühren, und der Bio- und Fairtradehandel bringt nicht, was er verspricht. Juliette greift zu ungewöhnlichen Lösungen. Sie verteilt einen Grossteil der Datteln an Menschen in den Armenvierteln von Kairo und in der Oase selbst. Und sie startet eine Patenschaftaktion: Interessierte können eine Palme adoptieren und werden dafür mit Datteln belohnt.

Wüste und Oase, Leere und üppige Vegetation, Leben und Tod, Jenseits und Wirklichkeit, Physik und Metaphysik, Glaube an Gott und Arbeit im Dienst von Anderen: Unsere Reise schenkt uns einen Erlebnisschatz, wie er vielfältiger nicht sein könnte.


Fotos (mit Menschen und grüner Vegetation): ©Juliette Kaltenrieder / Alle Wüstenfotos: ©Hans Mauritz

(1) „Wüste“ s. „Uni Leipzig: Wortschatzportal“ und „Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm“

(2) Wikiquote, „Wüste“

(3) „Schlafloses Auge. Aphorismen aus der Sahara“,2001, Lenos, Basel

(4) Wikipedia, Ibrahim_al-Koni

(5) Neue Zürcher Zeitung, 27.1.2022

(6) Bericht von Christina Suter, Newsletter von „Oasen-Delikatessen“,15.3.2024, https:// www.oasen-delikatessen.com

(7) Der Bund, 7.9.2020

Hans Mauritz, März 2024