Multikulti ist tot – ?

Ja, totgesagt wider besseres Wissen.

Diese gefürchteten Parallelgesellschaften, gegen die allenthalben gewettert wird, ohne dass man eigentlich weiß, was man damit meint. Ich konzentriere mich gern auf die geliebten Italiener, die ebenfalls oft bis heute noch kein korrektes Deutsch können. (Siehe auch hier.) Wir lieben sie. Wir haben von ihnen draußen sitzen gelernt, auf Stühlen, an kleinen Tischen. Ein wichtiges Kulturgut. Die Deutschen habe es gelernt von einer Leitkultur des Vergnügens: am Leben unter der Sonne und im lichtdurchfluteten Halbschatten.

Nun gut, es gibt auch noch andere Argumente. Ich empfehle die Lektüre der neuen ZEIT. Zitat:

Deutschland besteht seit Generationen, auf jeden Fall schon lange vor Ankunft einer nennenswerten Menge von Fremden, aus einer Vielzahl von Parallelgesellschaften. Sie verstehen sich nur mühsam, manche hassen sich, die meisten ertragen einander seufzend. Es gibt Familien mit faschistischer und Familien mit antifaschistischer Vergangenheit. Es gibt kommunistische und antikommunistische, katholische und protestantische Traditionen. Sie alle schlagen sich auch in Habitus und Lebensgewohnheiten nieder. Das Tattoo markiert nur eine der aktuellen Scheidelinien, an denen das gegenseitige Verständnis endet. Warum sollte der Schleier so viel schlimmer sein?

Mit anderen Worten: Der Begriff der Leitkultur richtet sich nicht zuvörderst an Migranten. er bedroht jeden einzelnen Deutschen in seiner Lebenswelt. Wer ist im Besitz der Leitkultur? Wer darf definieren, was gilt? mein Nachbar oder ich? Der Sinn und Segen einer pluralistischen Gesellschaft, die keine privilegierten Lebensweisen kennt, besteht vor allem darin, die Bürger daran zu hindern, übereinander herzufallen, um dem Einzelnen die Wahl seiner Gewohnheiten zu lassen. Aber natürlich hat es immer Gegner des modernen Gewimmels, des Durcheinanders der Stile und Sitten gegeben. Manches spricht dafür, dass die vehemente Ablehnung der Flüchtlinge nur Ausdruck einer schon zuvor virulenten Überforderung ist, die man indes nicht artikulieren wollte.

Wozu die Erfinder des Leitkulturbegriffs seinerzeit zu feige oder zu faul waren, hat die AfD nun präzisiert. Man sieht sogleich die gewaltige Sprengkraft, die in jeder einzelnen Facette der Definition steckt. „Die Ideologie des Multikulturalismus“ – schon diese erste Formulierung setzt zum Angriff an. Denn der Multikulturalismus, mag man ihn mögen oder nicht, ist gerade keine Ideologie (mehr), er ist Realität.

Quelle DIE ZEIT 22. September 2016 Sprengstoff Leitkultur Der gefährlichste Begriff der AfD: Mit der Forderung nach kultureller Einheit des Landes bedroht die Partei nicht nur die Zuwanderer, sondern jeden einzelnen Deutschen in seiner Lebenswelt. Von Jens Jessen. [Hervorhebungen in roter Schrift: JR]

Solinger Tageblatt 1. Oktober 2016

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Ja, was ist deutsch?

Man schaue sich einmal die vielzitierten Sätze von Nietzsche an – in ihrer ganzen Umgebung, in dem Buch „Jenseits von Gut und Böse“, übersehe aber auch nicht, dass damals (1885) auch die klügsten Menschen noch in Rasse-Kategorien dachten und uns als ein „Volk der ungeheuerlichsten Mischung und Zusammenrührung der Rassen“ sehen konnten. Als Psychologe ist er groß, nicht als Biologe, wenn er etwa Goethes „zwei Seelen“ in einer Brust als viel zu wenig erkennt, – dass man sich damit arg an der Wahrheit vergreife, hinter der Wahrheit um viele Seelen zurückbleibe. Man sehe auf den folgenden Seiten rechts oben die vielzitierten Sätze über die Frage „was ist deutsch?“, – eben nicht als abgerundeter (vielstrahliger) Aphorismus. Und das gehört zum Programm des Buches, wie es schon in seiner Vorrede (siehe ganz unten) zum Ausdruck  gebracht ist. Nichts ist bei Nietzsche eindeutig, dogmatisch und systemfixiert gedacht. In diesem offenen Sinne ist er zu lesen. Auch wenn er von Europa spricht.

nietzsche-was-ist-deutsch Nietzsche über „Was ist deutsch?“

nietzsche-vorrede-jenseits Nietzsche über die (deutsche?) Seele