Gegeigte Opernszenen

Nochmals zu Goebels Booklettext

Angesichts mancher Missverständnisse bei der gründlicheren Lektüre, ist meine These: die meisten Mozart-Fans geben sich zu wenig Mühe mit den Frühwerken, und Reinhard Goebel setzt zuviel voraus, verrät seine fabelhafte Kenntnis in Anspielungen. Man nimmt es hin, aber niemand folgt seinen Spuren (behaupte ich – und fange erst heute an).

Es geht um die beiden Violinkonzerte KV 207 B-dur und KV 211 D-dur, die noch nicht zu der berühmten Dreiergruppe zählen (in G, D, A), die insgesamt im Jahr 1775 entstanden sind. Von den anderen beiden gehört das zweite ebenfalls in oder vor die Dreiergruppe, ich behaupte einfach: als Lernstück; das erste aber in eine andere Zeit, wie Wikipedia sagt: Dieses Violinkonzert entstand im Frühjahr 1773 auf einer Italienreise Mozarts; es wurde am 14. April 1773 fertiggestellt. Siehe hier (mit Notenbeispielen). Noch einmal Wikipedia:

Vom 24. Oktober 1772 bis zum 13. März 1773 folgte die dritte Italienreise zur Uraufführung des Dramma per musica Lucio Silla (KV 135), die am 26. Dezember 1772 im Teatro Regio Ducal in Mailand stattfand. Während dieser Zeit komponierte er auch das Exsultate, jubilate für den Sopranisten Venanzio Rauzzini. Nach einigen Monaten in Salzburg folgte von Mitte Juli bis Mitte Ende September 1773 die dritte Reise nach Wien.[19] Im selben Jahr entstand sein erstes Klavierkonzert.

Goebel bezieht sich auf genau diesen Zeitraum, und ich wage zu behaupten, dass da, hier oder dort, ein kleiner Fehler vorliegt. Booklet Seite 5, unten linke Spalte:

Doch zurück ins Salzburg des Jahres 1773. Gleich im Frühjahr komponiete Mozart sein erstes eigenhändiges Konzert, das Konzert KV 207 in B-Dur für Violine. Es figuriert chronologisch falsch im Köchelverzeichnis, steht hinter den später entstandenen Konzerten für Klavier KV 175, Fagott KV 191 und dem Concertone KV 190, da sowohl Vater als auch Sohn an den ursprünglichen Datierungen manipuliert haben, so auch bei den Autographen der vier folgenden Konzerte, die wohl alle in einer Tour de force zwischen Juni und Dezember 1775 komponiert wurden.

Dann spricht Goebel vom Gebrauch „kriminaltechnischen Methoden“, die bei der Ermittlung der Datierung zur Seite standen. Da strecke ich die Waffen…

… zwischen Juni und Dezember 1775…, ja, wenn ich mit dem KV 211 beginne, aber da gerade von dem KV 207 die Rede war – da schien doch der 14. April 1773 gesichert – nach Wikipedia und wohl auch nach Goebel („Frühjahr“).

Worum es mir geht – und wo ich genau das lernen will, was Goebel so plausibei entwickelt, und was bei mir unter dem Stichwort Entwicklung der „Ereignisdichte“ haften blieb, das finde ich im Booklet ab Seite 7 rechte Spalte und betrifft die Anlage der Kopfsätze . . . – „ein wenig bieder noch im Konzert KV 211, stets riskanter, übermütiger und buffonesker dann in den Folgewerken.“ Ja ! wunderbar !

Aber irgendetwas war ja schwer zu begreifen, an der formalen Anlage der Kopfsätze, und Goebel gibt sich alle Mühe, den dramaturgischen (!) Aufbau dieser Sätze plausibel zu machen, nicht ohne die üblichen Fehlversuche zu brandmarken. Ich zitiere:

Um die formale Anlage dieser Sätze hat man lange weniger gerungen als vielmehr herumgeredet, entziehen sie sich doch aufgrund ihrer Kleinteiligkeit der klassischen Sonatensatz-Diskussion und dem damit verbundenen Wortschatz. Konrad Küster wies 1991 darauf hin, dass in einzelnen Bravour-Arien des Mailändere Lucio Silla aus dem Jahr 1772 das dem Wort der Dichtung verpflichtet folgende Form-Vorbild der Violinkonzert-Kopfsätze zu finden sei. Atmosphärisch war dieser repräsentative, darstellende, ja fast poykinetische Bühnen-Gestus wohlbekannt, aber anstatt ihn „auszuspielen“, wurde lange Zeit alles daran getan, dem zerklüfteten Material Glätte und Klassizität nicht nur einzuhauchen, sondern mit Gewalt aufzuoktroyieren: eine Quadratur des Kreises, die zu den wunderlichsten Verspannungen geführt hat.

Bezeichnet man Vivaldis Opern-Arien als gesungene Violinkonzerte, so sind Mozarts Violinkonzerte also „gegeigte Szenen“, die ein deutlich anderes Verhältnis zwischen Solist und Orchester fordern, als es beim „echten“ Violinkonzert der Fall ist. Im „solistischen“ Idealfall kann ohne Punkt und Komma durchgefiedelt und das Accompagnement von allenfalls zwei Violinen ohne Viola und Basso, geschweige denn Blasinstrument bis zur völligen Unhörbarkeit zurückgedrängt werden. Hingegen muss es selbst in den vokalen Hauptteilen einer Arie kurze, wohlgemerkt gesungene Ruhestellen geben, in denen das Orchester thematische Aktivität übernimmt, entfaltet und wieder zurückspielt:  es sind also immer wieder meist zweitaktige Einschübe mit Rollentausch zu finden. Ökonomischer und kunstvoller noch ist bisweilen die lang ausgehaltene Note, die mit einem messe di voce bzw. einem Triller verziert gleich zum Ereignis, vor allem aber auch zum Einstiegspunkt von höchstem dramaturgischen Effekt ist.

Autor: Reinhard Goebel im Booklet zu „MOZART 6 Concerti per il Violino“ mit Mirijam Contzen und der Bayerischen Kammerphilharmonie. OEHMS CLASSICS OC 862

Machen Sie die Probe aufs Exempel: die Oper „Lucio Silla“, und  daraus eine groß angelegte Sopran-Arie, die derartig von Leidenschaft und wechselnden Affekten überquillt, dass man kaum der Idee nachgehen mag, dass sie als Vorbild eines Konzertes für die feinsinnige Geige dienen könnte. Aber wieso eigentlich nicht? Wenn ein ganzes Orchester ihr Schützenhilfe leistet und im steten Wechselspiel die lebhaftesten Phantasien entfesselt. Hören Sie von 9:20 bis 16:40 und denken Sie sich eine durchdringende, aber edle Violine im Vordergrund, die alle hören wollen, weil sie wirklich etwas zu sagen hat… Nicht um die Lautstärke geht es, – es geht um Ereignisdichte.

Und dann hören Sie bitte in das Violinkonzert  KV 211, danach wieder die Arie, anschließend das Violinkonzert KV 218. Erkennen Sie, wie das vielteilige Gewebe entsteht und wächst?

Zu allem Überfluss muss ich noch zwei weitere Aufnahme heranziehen, mit dem (für mich unvergesslichen) Andrew Manze (2006), den ich an anderer Stelle schon ausgiebig gewürdigt habe, und mit der wahrhaftig unvergleichlichen Geigerin Isabelle Faust (2016). Obwohl ich keinen Augenblick versucht bin, ihr zuliebe das Mozartspiel von Mirijam Contzen zurückzustufen.

Was mich an der CD von vornherein besticht, ist die Beteiligung eines kompetenten Geistes, der in diesem Fall auch verantwortlich für die Kadenzen zeichnet, nämlich Andreas Staier. Bei Mirijam Contzen finde ich keinerlei Hinweis, – soll das heißen, dass sie selbst tätig wurde? Das wäre erstaunlich. Darüberhinaus gibt es hier auch einen in aller Kürze (!) lesenswerten und zuverlässigen Text von Florence Badol-Bertrand.

Andrew Manze