Fetisch Vielfalt

Differenzierte Sonderwege statt stereotyper „Meinungsvielfalt“?

ZITAT

Medialer Mainstream baut auf dem System der Massenmedien auf. Allgemein kann er den gedruckten Publikationen, Zeitungen und Magazinen attribuiert werden, welche die höchsten Leserzahlen aufweisen. Für Radio- und TV-Programme kommt demgegenüber die höchste Einschaltquote in Betracht. Medialer Mainstream steht dementsprechend im Gegensatz zu unabhängigen, teilweise auch als Indie-Medien bezeichneten Veröffentlichungen. Vor allem das Internet und im Besonderen die Blogosphere treten dem medialen Mainstream mittlerweile entgegen.

Quelle Wikipedia-Artikel Mainstream

Um es genauer zu sagen: Die irreführende Demonstration von Meinungsvielfalt besteht darin, dass man einer radikalen These ausgleichend eine andere gegenüberstellt, die genau dem Mainstream entspricht, wobei diese Herkunft sorgfältig verschleiert wird. Um doch die geheime Tendenz jedes Menschen zu bedienen, der im allgemeinen erfreut reagiert, wenn er auf Resonanzen stößt.

Nehmen wir die sich zwingend verbreitende positive Haltung gegenüber verschiedensten Glaubensrichtungen, inklusive einem inflationären Gebrauch des Wortes Toleranz. Gewiss: da kann man nichts falsch machen. Problematisch wird es  aber, sobald ich sage: Man muss gar nichts glauben. Das Wort Glauben hat ja seit Jahrtausenden eine positive Propaganda erlebt, man hat es nur nicht so genannt. Werbung. Reklame. Schönfärberei. Ich kann einem ehrenwerten Mitmenschen, der mir mit leuchtenden Augen seine Gläubigkeit demonstriert, nicht einmal im sanftesten Ton zum Einhalt bewegen: Mein Lieber, ich glaube das alles nicht, warum sollte ich? Lass uns lieber das Thema wechseln.

Sage ich „Religionssehnsucht ist einfach Mainstream“ – schon bin ich Ketzer. Oder Schwätzer. Zu meiner Freiheit aber sollte es gehören, Fragen offen zu lassen, ohne dass dies als Schwäche gebrandmarkt wird. Ich will gar nicht stark sein. Darum bin ich noch lange nicht schwach.

Bevor ich nun die Medien schelte, sollte ich erwähnen, wie oft ich bei der Zeitungslektüre sage: dieser eine Artikel – oder nur dieser winzige Hinweis – hat für mich den Kauf der Zeitung gelohnt. Heute zum Beispiel ist es eine ganze Seite der Süddeutschen, die doch von manchen Freunden Mainstream-Sprachrohr genannt wird.

Alarmiert wurde ich allerdings erst, als mein Blick in einem Ukraine-Beitrag als erstes auf die Buchstaben ARD fielen, dann auf den nächsten Absatz, der so begann:

Wer sich ein vollständiges Bild machen will, ist gut beraten, sich nicht nur auf die Mainstream-Medien zu verlassen, sondern auch andere Informationsquellen heranzuziehen (…)

Nun aber wieder eilends ein paar Zeilen zurückspringend:

Die Rüge, die der Fernsehrat der ARD der Ukraine-Berichterstattung der wichtigsten öffentlich-rechtlichen Anstalt erteilte, sollte eigentlich alarmieren. So etwas kommt nicht alle Tage vor und im Focus der Kritik stand nicht der eine oder andere Bericht, sondern das Tendenziöse der Berichterstattung als ganzer.

Wo finde ich das? Zum Beispiel Hier und hier.

Der Artikel beginnt mit einer Diagnose und einem Appell:

Dieses nun zu Ende gehende Jahr bot zahlreiche Gelegenheiten, über die Ursachen und Gründe nachzudenken, die zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges geführt haben. Auch wenn die Kriegsschuld-Frage vielen immer noch als ungeklärt gilt, kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass wechselseitige Fehleinschätzungen, Klischees, Propaganda und ein erschütterndes Maß an Naivität einen regionalen Konflikt zum Weltkrieg haben eskalieren lassen. Im Falle der Ukraine-Krise darf sich ähnliches nicht wiederholen.

Und später heißt es in Bezug auf diese Ukraine-Krise:

Wer sich ein vollständiges Bild machen will, ist gut beraten, sich nicht nur auf die Mainstream-Medien zu verlassen, sondern auch andere Informationsquellen heranzuziehen. In einem von Peter Strutynski herausgegebenen Buch („Ein Spiel mit dem Feuer. Die Ukraine, Russland und der Westen“) analysiert Eckart Spoo, was er als „Medienkrieg gegen Russland“ bezeichnet. Während Kommentatoren zu Beginn des Ukraine-Konfliktes daran erinnerten, „dass Russland bei der Vereinigung der beiden deutschen Statten unter Auflösung des Warschauer Paktes eindeutige Zusagen erhalten hatte, die Nato werde sich nicht nach Osten ausdehnen“, seien Informationen wie diese unterdessen aus der öffentlichen Debatte verschwunden, weil sie „die Absicht störten, die Ukraine ins westliche Bündnis zu integrieren“.

Weitere Details und Buch-Hinweise lese man an Ort und Stelle nach.

Quelle Süddeutsche Zeitung 2. Dezember 2014 (Seite 10) Gewaltige Geländegewinne Der Ukraine-Konflikt im Fokus der Meinungsmache: In den meisten Medien wird das russische Sicherheitsinteresse gegenüber der Nato heruntergespielt, da kommen ein paar andere Sichtweisen als nötige Ergänzung. Von Julian Nida-Rümelin.

Hier nur noch die wiederum sehr bemerkenswerten Schlusssätze des Artikels:

Die genannten Publikationen vermitteln ein einseitiges Bild der Geschehnisse. Aber da die Mainstream-Berichterstattung die journalistischen Gebote der Sorgfalt und Vollständigkeit, der Distanz und Objektivität verletzt, sind sie ein wichtiges Korrektiv. Politische Urteilskraft beruht auf der Abwägung von Gründen und Gegengründen. Publikationen jenseits des Mainstreams sind dafür unabdingbar. Audiatur et altera pars. (J. Nida-Rümelin)

Auf der eigenen Website des Autors http://www.julian.nida-ruemelin.de/ findet man als pdf eine ausführliche Darstellung seiner Sicht der Ukraine-Krise (veröffentlicht in den Frankfurter Heften).