Computerdenken

Gibt es eine digitale Gefahr?

Ich weiß ganz gut, in welcher Zeit es zunahm, darüber besorgt zu diskutieren. In den 50er Jahren kam das Gerücht auf, dass es denkende oder zumindest rechnende Computer gibt, die so groß seien wie ein Haus. Oder wenigstens wie ein Zimmer. Es interessierte mich nicht. Ein Kommilitone schrieb in den 60er Jahren zur gleichen Zeit wie ich an einer musikwissenschaftlichen Dissertation, und zwar über den Gebrauch des Computers bei der Analyse von Melodien (des Hugenottenpsalters). Wir unterhielten uns darüber bisweilen auf den Fluren der Kölner Universität, aber für mich stand fest, dass diese Ideen für meine Arbeit an arabischen Melodien ohne Bedeutung seien: da man diese nicht verstehen könne, ohne sie mit allen Sinnen verinnerlicht zu haben. Die andere Methode erinnerte mich an die unselige Notenzählerei in Bachs Werken, die gerade – wie ich meinte – von Leuten favorisiert würde, die Bach als kontrapunktischen Mechaniker missverstehen. Ich mache es kurz: noch als die Computer im WDR eingeführt wurden, habe ich mir gedacht: das ist nichts für mich, ich schreibe meine Sendungen weiterhin mit bunten Stiften auf große Bögen, verteile die Ideen übersichtlich und ergänze sie traubenförmig nach allen Seiten, ziehe Linien und lasse mich assoziativ inspirieren. Kollege Schortemeier im WDR wehrte sich sogar gegen die Abschaffung der Karteikarten-Systeme zugunsten digitaler Kataloge, indem er argumentierte, er brauche bei der Programmgestaltung die sinnlich-haptische Beziehung zu den Tonträgern bzw. ihren papierenen Statthaltern in den Schränken. Dieses Blättern in den ausgewählten und auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Karten, auf denen sich nicht nur die Titel der Musikstücke, sondern auch handschriftlich hinzugefügte Informationen befanden. Ich will mich nicht lange damit aufhalten, wie ich allmählich umgestimmt wurde, stattdessen das erste Buch hervorheben, das mich positiv beeindruckte. Zunächst hatte ich vermutet, dass es meine ablehnende Haltung unterfüttern würde. Ein Weihnachtsgeschenk meiner Kinder zum 24.12.1991, im Jahrzehnt vorher hatte bereits „Gödel, Escher, Bach“ eine Rolle gespielt.

Penrose vorn Penrose rück Über Roger Penrose !

Am 16.7.1998 war die Umstellung auf digitales Denken bzw. produktiven Computergebrauch im Beruf längst vollzogen, da bahnte das folgende Buch (wiederum ein Geschenk aus derselben Quelle) neue Wege und sorgte für ein grundsätzlich neue Übersichtlichkeit der Lage. Später fragte ich mich des öfteren: Wo ist eigentlich Florian Rötzer geblieben? D.h. zu einem unbeirrbaren Verständnis der digitalen Mittel war ich vielleicht doch nicht vorgedrungen, obwohl ich zuweilen Hinweise (z.B. auf die Website Telepolis) bekam oder auch einige Wege selbst entdeckte.

Rötzer Buch außen Inhalt:

Rötzer Inhalt 1 Rötzer Inhalt 2

Wie gesagt: die Zeit ist nicht stehengeblieben. Siehe unter Florian Rötzer, insbesondere das Werkverzeichnis, und vor allem auch heute TELEPOLIS. Oder gezielt a.a.O. HIER. Oder z.B. HIER. Oder z.B. über Medien HIER. Eine etwas willkürliche Auswahl, aber wandern Sie doch einfach auf eigene Faust durch das Angebot bei Telepolis. Oder durchstöbern Sie in diesem Sinn die Zeitungen. Man dürfte ohne weiteres auch scheinbar banale Aktualitäten unter die Lupe nehmen. (Jetzt habe ich „Sie“ als imaginäre Leserinnen und Leser angesprochen, meine aber viel nachdrücklicher mich selbst als bedürftigen Adepten.)

Ich habe zum Beispiel die Auswahl zum European Song Contest gesehen und habe gestaunt, was für eine absurde Qualitätsvorstellung dort zuhaus ist. Nachdem damals verkündet worden war, es sollten neue Kriterien und neue Auswahlverfahren gelten. Aber könnte nicht jeder Computer heute besseres Zeug herstellen? Nicht eine einzige Melodie, die diesen Namen verdiente („Song“). Stattdessen ein sinnloses Hin- und Herschaukeln der Töne, verbunden mit dem  flehentlichen Blick der Akteure: erkennt ihr denn nicht, wie authentisch ich bin?

Ein Schande wirklich, auch wenn man die Messlatte für Schlager besonders tief legt. Es ist die natürliche Folge einer Einstellung, die glaubt oder vorgibt, musikalischen Erfolg durch planvolle Zwischenteste und Volksbefragungen erzielen zu können. Heraus kommt eine Simulation von musikalischen Nichtswürdigkeiten. (Dagegen gehalten präsentiert Helene Fischer reihenweise Geniestreiche.)

Ich wende mich einem lesenswerten Artikel der aktuellen Wochenzeitung DIE ZEIT zu. Auch da geht es um Simulation, und es gibt kaum ein interessanteres Feld auf dem Gebiet der Kultur (und der Vortäuschung von Kultur). Wenn man einmal diesen möglichen Hintergedanken (als Prüfstein) erfasst hat. Mich reizt diese Vorstellung, seit ich vor vielen Jahren begann, die sogenannte „Volksmusik“ als Musik-Ersatz zu „lesen“  und irgendwie zu tolerieren, etwa so wie man die Groschenromane (vielleicht ist ihre Funktion inzwischen vom Smartphon aufgesogen worden) als Literatur-Ersatz sehen konnte. Oder sogar als „wirklicher“ Lebens-Ersatz (vgl. „Die Musik ist mein Leben“, „Fußball ist unser Leben“).  Aber das hat mit dem Artikel nur indirekt zu tun.

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„Als die Servolenkung zu perfekt wurde“, so heißt es, „beschwerten sich Fahrer, weil sie die Straße nicht mehr spürten. Folglich wurden Servolenkungen so ausgestattet, dass die Bodenbeschaffenheit wieder übertragen werden konnte.“ Das ist ein fast perfektes Gleichnis dieses Ersatzdenkens: noch perfekter wäre es, wenn solche schlagloch- oder schotterähnlichen Wirkungen erst wieder künstlich hergestellt und auf den realen Zustand der Straße abgestimmt würden. Per Hand.

Der ZEIT-Artikel geht aus vom Traum eines klavierspielenden Maschinenbau-Professor namens Brent Gillespie beim Anblick eines Steinways:

Der Ingenieur möchte in allen zehn Fingern das Gefühl erleben, so ein Instrument zu spielen – ohne einen Konzertflügel in sein Labor schaffen zu müssen. Dem Informatiker […] geht es um die sinnliche Erfahrung, welche die Mechanik einer Steinway-Taste in den Tausenden Tastzellen eines Pianisten-Fingers hinterlässt. Lässt sich dieses Empfinden künstlich so gut nachbilden, dass nichts fehlt im Vergleich zum Original? Gibt es das Steinway-Gefühl ohne den teuren Flügel? […] „Wir entwickeln Technologien mit audiovisuellem Feedback“, beschreibt Gillespie. „Das ist einfach, aber etwas Wichtiges fehlt: die Haptik.“ Interaktion mit Geräten beschränkt sich zunehmend auf Sehen und Hören. Von der Schreibmaschine über die Computertastatur bis zum Smartphone – die Geräte wurden komfortablerweise immer kleiner. „Aber wir haben etwas Großes verloren, als wir die Tasten weggenommen haben.“

Jedoch: mein Problem bei einer elektronischen Ersatzlösung für den Steinway wäre in erster Linie der Klang gewesen, erst viel später das Tastgefühl bzw. die manuelle Beziehung zur Gestaltung des Klangs. Natürlich auch das Bewusstsein, dass es ein wirkliches Hämmerchen ist, das die wirkliche Saite tangiert. Aber davon abgesehen. Hier geht es zunächst um die Tasten des Schreibgerätes.

Wer heute einen Text mittels Touchdisplay eingibt, spürt auf vielen Smartphone-Modellen eine winzige Vibration bei jedem Buchstaben. Schon dieser billige Ersatz erzeugt das beruhigende Gefühl, etwas ausgerichtet zu haben. Unser Gehirn übersetzt diese unbestimmte Vibration in das, was es erwartet: das Gefühl von Tastendruck.

Aber ist solcher Ersatz genau so gut? [… Gillespie sieht für den Flügel eine große Chance im Digitalen:]

Erst einmal arbeitet er in seinem Labor an einer aufwendigen Apparatur mit vielen kleinen Motoren, die das Empfinden beim Flügeltastendruck simulieren. Motoren, also echte Bewegungen, sind aus seiner Sicht der erste Schritt zum Ziel: „Eine gute Illusion“. […]

Seit der Jahrtausendwende ist den Forschern und Entwicklern wenig anderes eingefallen als Vibration, um das Spüren zurückzubringen. Sie ist ein einfaches und billiges Mittel, um eine Berührung zu imitieren. Am deutlichsten wird das Problem in der virtuellen Realität (VR), dieser radikalen Alternative zur physischen Welt, die dank moderner Videobrillen und detaillierter Computergrafik erstaunlich echt wirkt. Bis auf die Physik: Man kann dort Dinge anfassen, in die Hand nehmen, an andere weiterreichen. Aber sie wiegen nichts. Wer eine Wand berührt, spürt vielleicht eine Vibration, mehr nicht, dann gleitet die Hand hindurch. Spätestens in der VR wird klar, dass die Pauschallösung Vibration eine schlechte haptische Prothese ist, eine, die den Phantomschmerz verstärkt.

In dem Artikel wird von aufwendigen Experimenten berichtet, in denen mit Drohnen und Robotern gearbeitet wird, wobei sich vor allem zeigt, wie unfassbar die digitale Welt weiterhin ist. Doch es gibt auch andere Lösungsversuche, ohne Drohnen und Roboter. Sie nutzen keine realen Gegenstände mehr, sondern produzieren lediglich den Eindruck, dass sie da sind. Es geht letztlich um das Feingefühl, das im Umgang mit den realen Dingen Rückmeldung geben muss, sei es nun in der Chirurgie oder bei der Arbeit in einem unzugänglichen Schiffswrack. Was nicht fehlen darf, ist „das Gefühl, ob es mit dem Greifen geklappt hat.“

Da gibt es das Beispiel einer Spinne, einer haarigen Spinne, die mit ihren acht Beinen (die Zahl ist unwichtig) über die Hand der Versuchsperson läuft und diese kann jede ihrer Bewegungen spüren, „obwohl das Tier einzig virtuell existiert, als Bild in der Datenbrille und als Signal im zugehörigen Handschuh“, der entsprechend präpariert ist. [Die technischen Details erspare ich mir.]

Andere Versuche – zur Simulation der Schwerkraft einer anzuhebenden Kiste, – funktionieren über Elektroden auf der Haut, mit deren Hilfe durch Muskelstimulation immer der Gegenspieler jenes Muskels aktiviert wird, der aktiv gegen die Schwerkraft anarbeiten müsste, wenn sie denn vorhanden wäre. Und siehe da: „Die physisch nicht existierende Kiste fühlt sich real schwer an.“ – Wieder andere Versuche sollen es ermöglichen, mit einer winzigen Zange Metallteile oder eine Kette anzuheben. Man braucht das Gefühl, „dass es mit dem Greifen geklappt hat“. Wofür das gut sein soll? Wenn man z.B. aus einem unzugänglichen Schiffswrack eine historische Vase bergen, ohne das sie Schaden nimmt. Es geht nicht ohne den Einbau haptischer Qualitäten in das Gerät, die zum Protagonisten weitergegeben werden.

OP- und Tauchroboter, authentisches Pianogefühl, Reize aus Stiften, Luftdruckhandschuh und Muskelelektroden: So verschieden die Projekte und die Ansätze der Haptikforscher sind, eine Gemeinsamkeit haben sie alle. Bei typischer Computerarbeit, etwa mit Maus, Tastatur und Bildschirm, „da gibt es eine Grenze, wie gut du werden kannst“, so formuliert es Brent Gillespie. „Augen und Gehirn sind ausgelastet, der Körper ist stillgelegt.“ Wenige Sinne werden voll gefordert, andere vernachlässigt. „Das Tolle an unseren motorischen Fähigkeiten ist doch, dass wir nie aufhören zu lernen und immer besser werden“, sagt Gillespie und vergleicht es damit, wie es für einen Schüler ist, ein neues Instrument zu lernen. Der Körper macht es dann einfach. Computer verschenken diese Möglichkeit: Du musst immer denken.“

Endlich mal nicht denken zu müssen – das klingt wahrlich seltsam für eine technische Vision. Aber wenn es gelänge, die analoge Haptik zu übertragen in die digitale Welt, könnte das sinnliche Erfahrungen demokratisieren. So wie in Brent Gillespies Traum: Der Flügel wäre dann nicht mehr nur ein Instrument für die, die es sich leisten können. Ohne komplizierten mechanischen Aufbau wären viele Instrumente günstiger zu produzieren. „Alle Kinder könnten merken, wie viel Spaß es macht, immer besser zu werden.“ Diese Motivation hat ihn zur Musik gebracht – und über Umwege zu ihr zurück.

Quelle DIE ZEIT 22. Februar 2018 Seite 35 Zurück zum Spüren Computertechnik fordert Augen und Ohren, alle anderen Sinne liegen brach. Jetzt machen Forscher digitale Welten fühlbar / Von Eva Wolfangel. (Siehe auch hier.)

Ich muss gestehen, am Ende hat mich das Ziel des Artikels etwas enttäuscht. Kinder sind wahrscheinlich doch anders: gewiss ist für sie die Haptik der Tasten von großer Bedeutung, aber die wird allein durch das Treffen der richtigen Tasten wohl für lange Zeit ausreichend herausgefordert. Und mit ihrer am Keyboard trainierten Haptik könnten sie vielleicht keinen Steinway zum Singen bringen, aber immerhin an einer gewaltigen Kirchenorgel zu ganz passablen Leistungen kommen.

Es war ja nur ein Beispiel. Ich würde niemandem raten, jahrelang am Keyboard Klavier zu üben, es sei denn, man braucht es „nur“ für Pop-Musik und die Beschallung von Stadien. Dort bedarf es ja auch keiner Stradivari, Adapter am saitenbespannten Brett genügen. Oder der Keyboarder übernimmt den Part. Das klingt für halbtaube Ohren fast wie Geige. Ist das etwa eine digitale Gefahr?