Archiv der Kategorie: Natur

Was mich warum ergriff

Draußen, das Blühen?

SZ 17./18.06.2ß23

Also: warum? Niemand würde es erraten. Als erstes das zitierte Lied, dessen Zeile mich ansprang, dann der gut geschriebene Artikel, die vermutete politische Rehabilitation der Deutschen Romantik um 1848. Vorsatz, das Museum zu verlinken. Hier ist es. Ah, ich verstehe, weshalb Johan Schloemann so inspiriert geschrieben hat… Aber da ist noch etwas:

Die Noten von damals, mit den sparsamen Einzeichnungen zum Vortrag (Schrift: Franz Müller-Heuser), wie haben wir an dem Takt auf Seite 195 2. Zeile geübt: „alles, alles wenden“. Die Examenskandidatin, deren Kehle sich mit diesem Ornament schwer tat, und ich am Klavier. Übrigens: sie war schwanger, nach ihrem Examen im Oktober 1965 heirateten wir. Ein Konglomerat ungeordneter Gefühle, ich plante nicht, mein Studium abzubrechen. „… das Blühen will nicht enden, es will nicht enden“. Allenthalben schwelten schon die linken Ideen der zukünftigen 68er. In der Musikhochschule rebellierte nur Klaus der Geiger. 1967 Violinexamen und Orient-Tournee, 1970 Abschluss der Dissertation über Arabische Musik. Weiter im WDR.

Wie ich zu „meiner“ Zeit politische Geschichte nachholte

Das letzte Kapitel in demselben Buch: Epimetheus statt Prometheus / Hoffnung?

Quelle Imanuel Geiss: Geschichte im Überblick / Daten und Zusammenhänge / Rowohlt Reinbek bei Hamburg 1986

Wie die politische Utopie bei den beiden Romantikern endete:

Süddeutsche Zeitung 17./18. Juni 2023 Seite 49 „Das Blühen will nicht enden“ Waren deutsche „Dichter und Denker“ 1848 zu verkopft und haben die Revolution verspielt? Ludwig Uhland und Jacob Grimm bewisesen das Gegenteil / Von Johan Schloemann

Nochmals: das Museum! Hier finden Sie es.

Gräser, Unkraut, Moos

Ein anderer Fokus: in Bodennähe

Es fing an damit, dass mich die Geschichte aus Santiago de Compostela ansprach, ohne eine Wallfahrt heraufbeschwören zu wollen. Oder doch? Auf die Knie, in der spanischen Sonne, auf den heißen, unkrautbewachsenen Steinplatten vor der Kathedrale!

Das Thema hatte ich doch heute schon mit meiner Enkelin? Sie legte mir gleich danach einen Link ans Herz gelegt. Danke an Titus Arnu, der dem Thema gleichzeitig Gewicht verlieh.

SZ 10/11.06. 2023 Seite 10

Der Link allerdings führte zur FAZ ( ohne Bezahlschranke) HIER. Zitat:

Die kanadische Biologin Robin Wall Kimmerer, einem großen Publikum bekannt geworden durch ihren Bestseller „Geflochtenes Süßgras – Von der Weisheit der Pflanzen“, verfolgt deshalb mit ihrem neuen Buch ein hochgestecktes Ziel. Es gilt, den Ruf der Moose aufzupolieren. Das Buch, in moosgrüner Farbe gedruckt, führt den Leser auf verschlungenen Erzählpfaden zu der Frage, wie es kommen konnte, dass man diese Pflanzen so konsequent übersehen und ihnen nicht schon immer höchste Wertschätzung entgegengebracht hat.

Wer ist diese Frau? Siehe Wikipedia hier

Alte Erinnerungen werden wach, ein schmales Buch, das ich Ende der 80er Jahre kaufte und dann doch nicht las, von Klaus Modick,1984 bzw.1987. Ich habe es jetzt nachgeholt.

 

Wer hat es warum eine Novelle genannt? Seite 92 Eine Handlung schimmert durch, besonders wenn recht spät eine Liebesgeschichte samt Akt (im Moos) angedeutet wird (S.107f). Oder die zeitnahe Anspielung auf die Rolle der Grünen, Verwunderung, „daß man aus der größten Selbstverständlichkeit der Erde eine Partei machen könne“ (S.92). Wer bei dieser Gelegenheit einen Ausflug in deren Geschichte machen will: siehe hier. Es lag auch ein übler Verriss des Schriftstellers K.M. von Hubert Winkels (Stern)  hinterm Cover, anlässlich des späteren Romans „Weg war weg“, unter dem Reißertitel „Postmoderne Windelwitze“.

Moos und Geflochtenes Süßgras hier oder saure Gräser dort?

Von meinem Großvater habe ich ein Buch verwahrt, das aus dem Jahr 1935 stammt. Darin lag als Lesezeichen, von ihm beschriftet, ein Kalenderblatt vom Montag 22. Januar 1951: „Saure Gräser“. Ihm ging es um die kostbare Nahrung seiner Kühe auf der Lohe, für die er eine Wiese in der weit entfernten Flutmulde der Werre (Bad Oeynhausen) betrieb. Mein Bruder und ich haben ihm manchmal in den Sommerferien dabei geholfen, man musste sehr sorgfältig mit seinen Gräsern umgehen. Ein harte Arbeit.

  Opa bei der Arbeit (Blick auf die Porta Westfalica)

„Wo wir auch in unserem Vaterlande wandern“ – überall dieser verführerische Ton (→ „Ernting“).

Hauptberuf: Holzverarbeitung (meine Bäume spiegeln sich)

Unten: Ausblick (JR in die Bäume, Eos in der Spiegelung, ein bei Lichteinfall dirigierender Miniatur-Beethoven, nebenbei im Fernsehen: André Rieu)

↓Eos bei der Arbeit, etwa 20 Jahre vorher, Foto in gleicher Blickrichtung wie heute ↓

Ich erinnere mich und hole die Bücher von Emanuele Coccia hervor, lasse ein Zitat über „Dinglichkeit“ auf mich wirken:

Seltsame Koinzidenzen

Goethe und Gorilla

und weiter schreibt Goethe:

Hierbei ergab sich der merkwürdige Unterscheid zweier Charaktere und Tendenzen; indeß mein Sohn mit der Leidenschaft eines Sammlers die Vorkommnisse aller Art zusammentrug, hielt Eduard, ein Sohn Blumenbachs, als geborner Militär, sich bloß an die Belemniten [«Donnerkeile», fossile Schalenteile von Tintenfischen] und verwendete solche, um einen Sandhaufen als Festung betrachtet mit Palisaden zu umgeben.

Quelle: Stephan Oswald: Im Schatten des Vaters. August von Goethe; C.H.Beck, München 2023 / Seite 65f (siehe auch hier)

Karte DDR 28.08.1981

Minerale einschätzen (Goethe und Sohn)

Mitmenschlicher Kontakt (Gorilla und Kind)

Foto ©GG Schöngeising 2013

Süddeutsche Zeitung 28.02.2016

Der entscheidende Punkt ist die ungewöhnliche Perspektive, zu der man sich gedrungen fühlt: auf den Sohn August statt auf den prominenten Vater zu schauen, während wir erfahren, wie dieser die Situation beurteilt. Oder wir blicken mit dem Kind auf den Gorilla, denken aber darüber nach, wie das Tier den kleinen Menschen einschätzt. Die alte Frage, die der amerikanische Philosoph Thomas Nagel folgendermaßen verschärfte: What Is It Like to Be a Bat? (deutsch: „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“).

Freud zur Frauenverachtung

Die neue ZEIT hat wieder einiges aufgerührt. Ich wurde früh konfrontiert mit der Frage, weshalb der „traditionelle“ Mann oft schwankt zwischen Anbetung und Herabsetzung einer Frau; ich glaube, an Baudelaire fiel es mir zuerst auf (oder ich las es irgendwo), entweder Heilige oder Hure, fühlte mich ertappt, im täglichen Leben ähnliche Denkvorgänge: die Mutter, die eine Reinheit des Geistes propagierte, die nicht zu den niedrigen Begierden passte, die im eigenen Innern wühlten, Befremden darüber, wie schnell der Übergang von der Anbetung zur Herabsetzung geht, zur Verächtlichmachung. Der Fuchs und die Trauben! Männliche Tendenz zur Demütigung der Frau, besonders der nicht mehr schönen, gealterten Frau. Erinnerungsfetzen: wie ein Mann einer schönen Frau, die an ihm vorübergeht, zuruft: „Sie haben krumme Beine!“ Wie ich mich als Mann schämte. Denn ich verstand irgendwie die Tendenz zur Rache für die Beunruhigung, die jede schöne Frau den Männern zuzumuten scheint. Durch ihre bloße Existenz. Und: ihre absolute Unverfügbarkeit! Brutale Abreaktion durch herabsetzende, reduzierende Worte als Strafe für eine (mutmaßliche) Zurückweisung. Oft auch verhaltener, wenn sie alt sind, und sich für wohlfeile Verherrlichung nicht mehr eignen. Warum denke ich wieder an meine Mutter?

Übrigens stieß ich ebenso früh wie auf Romano Guardinis „Sokrates im Gespräch“ auf Sigmund Freuds „Abriss der Psychoanalyse“ (Fischer-Bücher). Aber 1966 war es tatsächlich schon meine Mutter, die als Mitglied der „Deutschen Buchgemeinschaft“ mir (ahnungslos) den Sammelband „Das Unbewußte“ zu Weihnachten (!) schenkte. Ich las sehr aufmerksam die „Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens“, ohne aber wirklich reif zu sein für eine Selbstanalyse nach diesem Muster; ich war noch auf dem Wege, die Mutter auszuklammern. Nachträglich gab es nichts einzuklagen. „Damals war doch Krieg!“ Ja, und davor war es ihr streng autoritärer Vater, von dem sie sich lebenslang lösen musste, der letztlich auch erst durch die Enkel weicher wurde… Daher hat er auch hier den rechten Platz als Denkmal der väterlichen Güte.

Quelle Sigmund Freud: Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens (1918), in: Das Unbewußte / Schriften zur Psychoanalyse / Deutsche Buchgemeinschaft Berlin, Darmstadt, Wien 1965 / vorher S.Fischer 1940 etc.

Seltsam, wie sich alles zusammenfügen will, sobald man diese Zeitung liest, – es ist eine neue Zeit, die dafür sorgt. Oder die es erzwingt. Nicht diese zwanghafte Gegenwart, sondern die Abwesenheit des Vaters, der Vaterfigur, könnte ebenso ein Thema für viele Menschen sein (siehe „Eisenherz„). Und wieder lautet die Antwort: „Es war ja Krieg!“ – Meine nächste Lektüre:

DIE ZEIT 16.02.23 Seite 48

Zwei Zitate aus der ZEIT-Rezension (Golo Maurer):

Vielleicht ist es erst unseren, für jede Form des Machtmissbrauchs sensibilisierten Zeiten möglich zu erkennen, dass auch die verweigerte körperliche wie seelische Nähe eine Form des elterlichen Missbrauchs, ja der Gewaltanwendung sein kann, eine besonders grausame, wo sie mit der rücksichtslosen Inanspruchnahme subalterner Dienste einhergeht. Es kommen einem die Tränen, wenn man lesen muss, wie verzweifelt August jahrzehntelang um die bloße Aufmerksamkeit des Vaters mehr bettelte als warb, um sich ihm gleichzeitig in immer neuen Steigerungen der Unterwerfung anzubieten.

(…) Hochinteressant dann die aus heutiger Sicht haarsträubenden Umstände des beruflichen Werdegangs des Helden: Das klassische Weimar erscheint dabei als Bananenrepublik, Vetternwirtschaft pur, wo man schaltet und waltet, wie es gerade passt.

Altvater Reichow

Mühlenbesitzer

 

Was nützt es mir, den „Altvater“ zu kennen? Auch „Stammvater“. Er erinnert mich allerdings an meinen alten Freund Uli. Der hier im Bergischen viel Land besaß, – aber eine Mühle wohl nicht.

Das Wort Mühlenbesitzer ist mir nur insofern wichtig, als dieser Vorfahr im Sterbejahr von Franz Schubert geboren wurde, in dessen Leben die Mühle eine besondere Rolle spielte.

Auf der Rückseite des Fotos wird das beglaubigt von Ruth, der Schwester meines Vaters Artur, alles weitere ergab meine Recherche in Familien-Dokumenten.

Friedrich Hermann August Reichow geb. 19.02.1828 in Altbelz, gest. daselbst 17.07.1902, verheiratet am 16.06.1856 mit Wilhelmine Auguste Johanne Lassahn, geb. 02.12.1833, gest. 24.11.1896 (Altbelz).

Sohn: Karl Bernhard Robert Reichow geb. 16.05.1871 in AltBelz gest. 20.12.1922 in Belgard

Enkel: Artur Viktor Gerhard Reichow geb. 07.12.1901 in Roggow Kreis Belgard gest. 31.08.1959 in Bielefeld

Urenkel: Jan Friedrich Artur Reichow geb. 05.12.1940 in Greifswald

Jan Reichow mit Tante Ruth, Dez.1989, an der Wand ein Ölbild ihrer Mutter, unserer Oma: Margarete Reichow geb.Paske (1871-1961) verh. mit Bernhard Reichow (1871-1922).

   die Eltern von Hans Bernhard, Artur und Ruth u.a.

P.S. Von dem Ölbild (oben, an der Wand) wurde allerdings gesagt, es habe zu wenig Ähnlichkeit! Ich habe hier in unserm „Klavierkeller“ – mit Blick auf den Flügel – noch ein zweites. Meine Oma war immerhin der erste Mensch unserer Familie mit nachgewiesener musikalischer Begabung. Lieblingsstück: „Die diebische Elster“ von Rossini; bei jedem Besuch musste mein Vater es für sie spielen. Mein Bruder und ich hingegen (Klavier und Geige) den „Faust-Walzer“ von Gounod.

Und Freund Uli? Ich vergesse nie, wie er mir half, im Garten zwei mittelgroße Bäume umzulegen.

(Fotos: E.Reichow)

Grabstein als Last

Als mein Vater am 31. August 1959 gestorben war, ging es zunächst gar nicht um den Grabstein. Niemand hatte es damit eilig. Fest stand aber schon, dass darauf Platz sein sollte für den Namen und die Daten unserer Mutter. Niemand ahnte – am wenigstens sie selbst – dass sie noch fast ein halbes Jahrhundert vor sich hatte.

Schon zu Weihnachten präsentierte ihr ein seit alters befreundeter Künstler als Geschenk einen Grabsteinentwurf, der in der engeren Familie auf einhellige Ablehnung stieß. Erstens: dieses harfenähnliche Instrument, vielleicht in Erinnerung an ein weihnachtliches Schulkonzert meines Vaters, das er selbst zu unser aller Befremden betitelt hatte: „Zwingt die Saiten in Kythera“, – oder Cythara? niemand kannte den Choral oder die Bach-Kantate BWV 36, in der er vorkommt. Was soll das Wort „zwingt“? Und das andere: hieß es vielleicht korrekt Kythara? Natürlich, siehe hier. Eine altgriechische Zither oder Leier? Aber mein Vater sah sich doch lebenslang am Flügel, nicht einmal eine Gitarre rührte er an, die unter Schülern plötzlich hoch im Kurs stand. Für sie hatte er sogar Gershwin geübt. Aber – was ist das: feixte dieser Grabstein nicht ungehörig?

Der Entwurf hatte keine Chance. So peinlich er uns war, wie sollte man es begründen? Der eigentliche Grund lag tiefer, aber niemand kam drauf. Nicht das Altgriechisch-Zopfig-Musische störte, sondern das Soldatische, das meinem Vater immer unsympathisch gewesen war. Ein Heldengrab? Es ist dem alten vaterländischen Orden nachempfunden. Eine Art Eisernes Kreuz für musikalische Verdienste posthum? Am Ende der fünfziger Jahre?

Und heute, nach weiteren 60 Jahren fällt es mir auf, was genau uns damals widerstrebte:

Quelle Wiki hier

In meiner Sammlung familiärer Erinnerungsstücke befindet sich auch das folgende Verdienstkreuz (für Onkel Ernst, den Bruder unsrer Mutter, der seit 1943 dann im Osten „vermisst“ war).

Was für ein Formenspiel, was hat das alles zu bedeuten? Ich lese hier. Im folgenden Zitat geht es um die Ordensstiftung im Jahr 1813 (alles weitere siehe im Link):

Auch die Form des neuen Ehrenzeichens war symbolisch aufgeladen. Bewusst wurde die Anlehnung an das Balkenkreuz des Deutschen Ordens gesucht: ein schwarzes Tatzenkreuz mit sich verbreiternden Balkenenden auf einem weißen Mantel, wie ihn die Deutschritter schon seit dem 14. Jahrhundert tragen. Damit sollte der nun beginnende Krieg in die Tradition der Kreuzzüge gerückt und so sakralisiert werden. Im Mittelpunkt der Symbolwelt um das Eiserne Kreuz stand die Ehefrau Friedrich Wilhelms III., Königin Luise. Seit ihrem Tod 1810 hatte sich um sie ein Mythos als vorbildliche Gattin, liebende Mutter, preußische Madonna und Märtyrerin gesponnen, an den der König mit dem Eisernen Kreuz anknüpfte.

All dies hat mit meinem Vater nichts zu tun. Die 50er Jahre waren auch für uns mit seinem Lebensende vorbei… Sein Grabstein sollte abgerundet sein. Ich fuhr im April 1960 nach Berlin, um dort zu studieren, wo auch er studiert hatte. Wichtiger war allerdings: Ich wollte so weit wie nur möglich fort von zu Hause.

Mehr von Busoni, bitte!

(also sprach:) Meine innere Stimme (5.2.23)

Voraussetzungslos (nur hören!), Bild nach Beginn wegschalten. Nur Musik: Sarabande etc :

und … ein weiteres Mal (ernsthaft) hören, nichts unbeachtet lassen…

Der Pianist:

Content:

Ferruccio Busoni, piano LP, International Piano Archives, IPA 104, 1976 Rec. February 27, 1922, London studios of British Columbia Records

00:00 Bach: Prelude & Fugue in C major, WTC, Book 1 04:00 Bach-Busoni: Organ Prelude „Rejoice, Beloved Christians“ 05:51 Beethoven-Busoni: Ecossaises 07:53 Chopin: Prelude in A major, Op. 28 No. 7 — Etude in G-flat major, Op. 10 No. 5 10:44 Chopin: Etude in E minor, Op. 25 No. 5 14:08 Chopin: Etude in G-flat major, Op. 10 No. 5 (alternate version) 16:01 Chopin: Nocturne in F-sharp major, Op. 15 No. 2 19:41 Liszt: Hungarian Rhapsody No. 13 (abbreviated)

Lesen:

Frank Hentschel über Busoni und seine „Faust-Oper“: HIER.

Abstract:

Before its completion, Busoni once referred to one of his operas he was then composing, either Arlecchino or Doktor Faust, as an „opera (that won’t be an opera).“ The article takes this phrase as a point of departure to gain insight into some of the aesthetic and poetic features of Doktor Faust. Rather than focusing on the history or theory of genre, attention is given to Busoni ’s idea of opera, his dramaturgical intentions, his relationship to expressionism, and his use of independent forms.

Insbesondere zu beachten: 3. Keine Erotik S.314

,,Ein Liebesduett auf offener Bühne“ nannte Busoni „völlig falsch und verlogen und überdies lächerlich“. Er veranschaulichte dies durch die Absurdität von Bühnenkonstellationen, wie man sie durchaus kennt: ,,Nichts Schlimmeres zu sehen und zu hören als ein kleiner Mann und eine große Dame, die einander in Melodien anschwärmen und sich die Hände halten“. Aber hinter Busonis erregtem Wortschwall verbarg sich mehr: Er nannte das Liebesduett auch „schamlos“ (MO, 22), und darin dürfte der eigentliche Schlüssel zu Busonis Problem mit dem Liebesduett liegen. Jemand, der in der Oper überall das Wunderbare, Unwahrscheinliche suchte und der den Verismus ablehnte, konnte das Liebesduett nicht ernsthaft deswegen zurückweisen, weil es unwahr sei. Doch Busoni ging es eben um diesen anderen Aspekt – den der Schamlosigkeit. ,,Erotik“ sei „kein Vorwurf für die Kunst, sondern eine Angelegenheit des Lebens“, erklärte er daher auch und nannte die Situation eines Publikums, das einem Liebesduett zuhört, ,,peinlich“. Die Alten hätten
demgegenüber noch Geschmack besessen (MO, 23).

Wohlgemerkt: „eine Angelegenheit des Lebens“.

Kurz-Exkurs zur Schamlosigkeit: (folgt)  (JK Otello im Beifall Baden-Baden)

Zum Studium der Partitur

Lese ich (oder träume ich)?

Bin ich (bei) ein Bewusstsein? Oder habe ich es nur?

Kaum hatte ich die Überschrift erfasst, wandte ich mich zur Vergewisserung um: ist das Buch noch griffbereit? meine Instanz seit 1995. Als man noch „Bewußtsein“ schrieb.

Doch unser Traum beginnt so (nach Thomas Nagel):

Geht also nur alles von vorne los? Auf einer neuen Ebene? Der oben plakatierte ZEIT-Artikel wird folgendermaßen eingeleitet: „Ein Google-Entwickler glaubt, ein Computerprogramm des Konzerns sei zum Leben erwacht. Die Maschine rede und fühle wie ein Mensch. Als er seine Beobachtung öffentlich macht, wird er gefeuert. Doch was, wenn er recht hat?“ Ein Artikel von Ann-Kathrin Nezik.

Ich will diese Geschichte nicht unbedingt im Detail memorieren, von Black Lemoine, dem Senior Software Engineer bei Google, der dort rausflog, aber immer noch mit dem Computerprogramm LaMDA redet, das er folgendermaßen kennzeichnet: es ist „empathisch und wissbegierig, wenn auch manchmal etwas unbeholfen. Wie ein Kind, das sich tastend durch die Welt bewegt. Er befürchtet allerdings, dass „sie der Maschine inzwischen alles Menschenähnliche, das sie entwickelt hatte, wieder genommen haben.“ Für ihn war es klar, dass der Computer Bewusstsein entwickelt hat.

Man kommt sicher bald auf das Leib-Seele-Problem, vermute ich, ja, und natürlich auf die Rolle der  Perspektive: schaue ich von außen auf diese lebendige Sache oder erlebe ich sie von innen.  Und da ist auch schon die berühmte Fledermaus:

Thomas Nagel (betr.: Fledermaus)

Damals (1995) war ein anderes System im Gespräch, am Ende des Buches „Bewußtsein“ (herausgegeben von Metzinger) gab es den großen Aufsatz von Daniel Dennett und das Stichwort COG:

Im Internet konnte ich damals noch nichts vertiefen, heute rate ich mir (und anderen), z.B. den Artikel aus Planet Wissen zu lesen, hier, dann hätten wir schon eine Art Zweitmeinung:

Aber im Prinzip ist heute noch nicht klar, was den menschlichen Geist oder menschliches Bewusstsein eigentlich ausmacht. Vermutlich ist es eine Meta-Ebene, die in der Lage ist, die Informationsverarbeitungsvorgänge in den einzelnen Gehirnzentren übergeordnet zu betrachten und zu bewerten.

Vielleicht kommt der Großhirnrinde diese Funktion zu. Sie erhält Informationen aus den sensorischen und motorischen Arealen, die hauptsächlich in den Tiefen des Gehirns liegen.

Andererseits verweisen viele Forscher auch darauf, dass es eben rein strukturell ein übergeordnetes Zentrum im menschlichen Gehirn nicht gibt, sondern dass alle Areale parallel miteinander verschaltet sind.

Oder:

Ohne Körper, meint der Vater des humanoiden Roboters „COG“, Rodney Brooks, kann sich keine Intelligenz entwickeln. Intelligenz ist nur dann nötig, wenn sich ein Wesen in seiner sich ständig verändernden Umwelt behaupten muss. Dies sei die Triebkraft für die Intelligenz-Entwicklung.

Ich hätte auch oben (im METZINGER bzw. Dennett) einfach umblättern und weiterlesen können:

Über die Jahrhunderte hinweg ist jedes andere Phänomen, das anfänglich als „übernatürlich“ und geheimnisvoll erschien, einer nicht mehr umstrittenen Erklärung unter dem weiten Rock der Naturwissenschaften gewichen. Thales, der vorsokratische Proto-Wissenschaftler, glaubte, daß der Magneteisenstein eine Seele besäße, aber wir wissen es besser; der Magnetismus ist eins der am besten verstandenen physikalischen Phänomene, wie merkwürdig seine Erscheinungsweisen auch sein mögen. Sogar die „Wunder“ des Lebens und der Vermehrung werden heutzutage in der molekularbiologischen Analyse mit bekanntermaßen verwickelten Analysen erklärt. Warum sollte das Bewußtsein eine Ausnahme darstellen?

Wäre ich glücklicher? (Darum geht es nicht!!!)

Weniger positivistisch klingt es im letzten Aufsatz des Buches, wenn Dieter Birnbach über „Künstliches Bewußtsein“ schreibt (Achtung: Fledermaus!):

[Es sind …..) Zweifel daran erlaubt, ob sich die Bedingungen des Bewußtseins jemals so eindeutig aufklären lassen, daß die entsprechenden psychophysischen Verallgemeinerungen Gesetzesähnlichkeit beanspruchen können.

Die epistemischen Schwierigkeiten, die wir heute bereits mit exotischen Bewußtseinswesen (wie Thomas Nagels Fledermäusen) haben, würden sich für Maschinen noch verschärfen. Auch wenn wir uns vorstellen, daß wir uns Hirntransplantate einbauen lassen könnten, die an unser Zentralnervensystem „angekoppelt“, uns das Innenleben anderer, heute noch hermetisch verschlossener Wesen aufschließen, wäre das Problem nicht aus der Welt, wie sicher wir sein können, daß das, was wir mittels dieser Transplantate erleben, tatsächlich das ist, was Fledermäuse oder Maschinen erleben.

Quelle Dieter Birnbacher: Künstliches Bewußtsein (Seite 728) in: Bewußtsein / Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie / herausgegeben von Thomas Metzinger (Verlag Ferdinand Schöningh Paderborn, München, Wien, Zürich 1995)

Übrigens kann man den Fledermaus-Text (1974) von Thomas Nagel vollständig im Internet nachlesen: und zwar hier. Des weiteren wäre empfehlenswert, auch wenn es vielleicht den aktuellen KI-Utopien zuwiderläuft:

Inhaltlich schön referiert→ hier.

Klappentext lesen: … ein Generalangriff auf die etablierte naturwissenschaftliche Weltsicht. Ihr Problem, so Nagels These, ist grundsätzlicher Natur: Das, was den menschlichen Geist auszeichnet, – Bewusstsein, Denken und Werte – , lässt sich nicht reduzieren, schon gar nicht auf überzeitliche physikalische Gesetze. Daher bleibt eine Theorie, die all dies nicht erklären kann, zwangsläufig unvollständig, ja, sie ist mit Sicherheit falsch.

Suhrkamp 2013

(Fortsetzung folgt: zurück zur neuen ZEIT)

Weiter im Artikel, aber mein Bewusstsein driftet ab: ich liebe es nicht, Wissensinhalte über Geschichten vermittelt zu bekommen (das hat Enzensberger schon früh als Charakteristikum des „Spiegel-Stils“ herausgestellt: im Erzählertonfall zu beginnen, um die Lesenden einzufangen, – captatio benevolentiae). Auf der zweiten ZEIT-Seite notiere ich mir das Wort „Simulation“, auch „Mimesis“ hätte als Merkwort dienen können: an den Körper und seine Imagination gebundene Vorstellungen. Die Assoziation, dass der Mensch durch seine Fähigkeit zu lügen vor den Tieren ausgezeichnet sei, wobei die Vorgeschichte der „Mimikry“ zu bedenken ist, Stichwort Signalfälscher. Dann die immer interessante Erfahrung der getäuschten Erwartung im Witz, quasi befreiend, und in der Tat – da kommt sie schon als Kriterium:

Als Witz erinnert das an die Kinderseite der Tageszeitung, wo bis zum Gehtnichtmehr, die Doppelbedeutung von Worten ausgenutzt wird, die keinem gewieften Wortspieler ein müdes Lächeln abringt. Leicht vorstellbar wie man diese minimalen Lacheffekte einprogrammiert. Und auf der nächsten Seite folgt auch erwartungsgemäß, aber spät, das Stichwort „Simulation“, die Anthropologie stand Pate:

Der Zweifel nistet sich ein, kaum abzuweisen: bin ich es, der schreibt? Verhalte ich mich wie ein künstlicher Mensch, der Bewusstsein simuliert?  Ich nehme mir die Freiheit, zurückzuspringen, zu unterstreichen, zu assoziieren, ganze Blöcke zu überspringen:

An dieser Stelle könnte die Geschichte zu Ende sein. Es wäre die Geschichte eines Computerprogramms, das zweifellos ein erstaunliches Maß an Intelligenz erreicht, ohne dass man zweifelsfrei sagen kann, ob damit so etwas wie ein Bewusstsein einhergeht. Allerdings wäre es eine unvollständige Geschichte, weil die Frage nach dem Bewusstsein nicht die einzige Frage ist, die sich hier stellt. Es geht auch um etwas anderes: darum, ob LaMDA womöglich gefährlich ist. (…)

In seiner Wohnung in Montreal malt er sich Szenarios aus, die er durchaus für realistisch hält: Autokraten und Demokratiefeinde könnten mit Charbots wie LaMDA Propaganda wie am Fließband produzieren. »Es reicht, dem Programm zu sagen: Schreib mir eine Studie, warum Impfen schlecht ist. Oder warum Weiße allen anderen Menschen überlegen sind.« Jeder könnte mit LaMDA und vergleichbaren Programmen Wähler täuschen, Märkte manipulieren, Leute betrügen. Für Menschen mit bösen Absichten sei die Entwicklung von Chatbots wie die Erfindung des Maschinengewehrs für den Krieg. (…)

Quelle DIE ZEIT Dossier Seite 13 ff 12. Januar 2023 HAST DU EIN BEWUSSTSEIN? Ich denke schon, antwortet der Rechner / Ein Google-Entwickler glaubt, ein Computerprogramm des Konzerns sei zum Leben erwacht. Die Maschine rede und fühle wie ein Mensch. Als er seine Beobachtung öffentlich macht, wird er gefeuert. Doch was, wenn er recht hat? Von Ann-Kathrin Nezik

Das Virus wirkt weiter, verbreitet sich, auch in harmlosen Musikkritiken oder- Abschiedsartikeln, wandert in die Musiken selbst hinein. Wer hat da gesprochen, wenn man Schumann hört? Es spricht so zehrend und so menschlich, man kann alles hineinlegen. In der Musik verschwinden steht drüber, an den chinesischen Maler erinnernd, der in sein selbstgemaltes Landschaftsbild hineinsteigt und in der Ferne verschwindet. Hier zu Barenboims Abschied oder Weiterwirken- „am Ende allen Dauerkonzertierens, für das er berüchtigt war. Premiere in Berlin, rein in den Flieger, Konzert in Chicago, rein in den Flieger, Proben in Paris, Mailand oder Wien, so ging das ein Leben lang.“ Und weiter:

Herrlich, ja aufregend, wie Barenboim in Schumanns Klavierkonzert das Geschehen nun weitgehend Argerich und den ersten Philharmoniker-Pulten überantwortete, die prompt alles virtuose Rauschen und Gedonner fahren ließen. Ein seiner Außenhaut entkleideter Romantiker trat so zutage, mal störrisch, mal fahrig, mal feinster Gesang. Frei von eigenen Sentimentalitäten ließ sich das kaum miterleben, die Generation Argerich / Barenboim steht für eine Hochzeit der klassischen Musik, die es so wohl nie wieder geben wird.

Armer Schumann! Ohne Außenhaut! Mit ihm lässt sich alles behaupten, er spricht immer unüberhörbar, aus weiter Ferne ebenso tönend wie aus unserm eigenen Innern. Da muss man den ersten Philharmoniker-Pulten rein gar nichts unterstellen, nicht einmal die eigene Trauer über den Untergang einer Ära. Das würde kaum mit Reger oder Pfitzner funktionieren, bei denselben Interpreten, vielleicht geht das wirklich nur mit Schumann und Brahms.

Das zu feiern stärkt und erfreut. Nach der Pause, in Brahms‘ 2. Symphonie, macht Barenboim faktisch nichts mehr, kleine, kleinste Gesten genügen, oft ruht sein Taktstock ganz, wie bei vielen großen Alten vor ihm. Denn das ist die höchste Kunst: in der Musik zu verschwinden. Selbst die Blumensträuße, die man ihm am Ende reicht, rupft er und verteilt sie so akribisch an die Damen des Orchesters, bis von der floralen Pracht nur mehr Gemüse übrig ist.

Quelle DIE ZEIT 12. Januar 2023 Seite 43 In der Musik verschwinden Daniel Barenboim ist wieder da – mit Martha Argerich (von Christine Lemke Matwey).

Der letzte Satz allerdings könnte auch von einem LaMBDA-Programm stammen, das den eingestreuten Witz als Reiz anzuwenden gelernt hat. Für das Leser-Bewusstsein bleibt vorrangig die Erinnerung an das Wort „Gemüse“ und will und will nicht mehr verschwinden.

(Vorläufiges Ende)

Aktueller Hinweis: WDR 3 Hörfunk 17.01.23 HIER (abrufbar bis 22.05.23) (https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/wdr3-forum/audio-kulturelle-herausforderungen-des-posthumanen-zeitalters-100.html hier)

Und noch etwas: Was ist ChatGPT? Ich hatte Zweifel, ob der junge Mann, der hier mit uns spricht, real oder virtuell vorhanden ist (in der Welt da draußen), aber mir wurde klar, dass dies in der Schönen Neuen AI-Welt wirklich von nachrangiger Bedeutung ist.

Noch etwas: Hier (ein Grundkurs mit 5 Beispielen für die Verwendung des Chatbots)

Des weiteren hier (ein Testgespräch mit einem Open AI Chatbot)

Zu KI (oder AI =Artificial Intelligence) wie immer nützlich (auch betr. Für und Wider) nachzulesen bei Wikipedia HIER

Urtext mit geheimen Zeichen?

Wie der Praktiker zur wissenschaftlichen Arbeit kommt

Für angehende Musiker[innen] gehört es schon früh zu den selbstverständlichen Fragen, ob die in den Noten – als Achtel, Viertel oder wie auch immer – scheinbar eindeutig dargestellten Töne kurz oder lang, markiert oder leichtfüßig wiederzugeben sind. Alles, was nicht ausdrücklich in den Noten steht – und das ist viel -, kann zu einem Problem werden. Viele Details, die den Vortrag betreffen, werden im lebendigen Unterricht vermittelt, manches, was um 1800 selbstverständlich war, gerät in einer anderen Epoche in Vergessenheit. Es muss gesagt und vorgemacht werden, es kommt nicht von selbst. Auch neue, groteske Missdeutungen werden regelrecht eingeübt. Ich nenne nur ein Beispiel: im Laufe des 19. Jahrhundert wurde es selbstverständlich, dass ein guter Musiker über den Taktstrich hinwegdenkt, dass er eine Melodielinie partout über mehrere Takte hinwegspannt. Dies nicht zu tun, war geradezu ein Zeichen für unmusikalisches Verhalten. In meiner Lernzeit (50er Jahre) gab es dementsprechend die geigerische Manie, den Schluss eines Taktes immer zu crescendieren und in die Eins des nächsten Taktes hinüberzuziehen. Ein Markenzeichen dieser nicht abbrechenden Intensität war auch das Dauervibrato, das man zur Schau trug, als dürfe es keine entspannteren Phasen geben.

Insofern musste erst wieder gelernt werden, dass vieles z.B. in der Barockmusik ganz anders zu handhaben ist; dass es einen rastlos wandernden Bass gab, dass andererseits die Tanzmusik bestimmte Betonungen – auch taktweise – vorgab und die Musik trotzdem nicht langweilig wird, sondern gerade dadurch erst ihren hinreißenden Drive bekommt.

Heute wundert sich kein musikalischer Mensch mehr, dass über solche Fragen der Artikulation, Betonung und Phrasierung endlos gestritten werden kann. Dass es – auch nach jahrzehntelanger bewährter Orchesterpraxis – niemals überflüssig wird, nachzufragen, wie genialische Menschen denn wohl selbst ihre Werke einem Publikum dargeboten oder mit Schülern ausgearbeitet haben. Und was sie dabei in die Noten eintrugen, um ja nicht missverstanden zu werden. Jeder Hinweis wäre nützlich. Ich erinnere nur an den Vortrag der Mazurken von Chopin: wie nah oder wie fern stehen sie noch der Praxis der polnischen Volksmusik? – oder dem, was der Komponist selbst als „Nationalcharakter“ empfand, aber schon als hauptstädtische Modifikation betrachtet werden könnte (siehe hier).

Ich hatte mich in den 60er Jahren relativ früh mit „Aufführungspraxis“ beschäftigt, dank meinem Lehrer Franzjosef Maier, erst recht seit er uns im Kurs für Alte Musik Köln Georg Muffats Vorrede zum „Florilegium secundum“ studieren ließ (die wohl auch für ihn neu war) und wie man mit solchem Rüstzeug nicht nur „Terpsichore“ von Praetorius adäquat erarbeiten konnte, sondern entsprechend auch die genuin französische Musik: Suiten von Lully, Rameau oder Campra. Damals eine neue Welt! (Maiers Name fehlt übrigens in den Annalen der Stadt Köln, siehe hier ab Seite 6, Dr. Alfred Krings war die treibende Kraft.)

Die praktizierenden Musiker begannen erfolgreich ins Gehege der Musikwissenschaft einzudringen und machten ungeahnte klangliche Entdeckungen. August Wenzinger, Fritz Neumeyer, Gustav Leonhardt, Nikolaus Harnoncourt und viele andere. Concentus musicus Wien, Cappella Coloniensis, Collegium Aureum, La Petite Bande. Am Anfang ahnte niemand, dass eine musikalische Revolution bevorstand. Für mich war es eine Offenbarung, als ich im Musikhaus Tonger zufällig diese Abhandlung entdeckt hatte und all die Zeichen zu hinterfragen begann, die mir eigentlich aus der Violinschule von Leopold Mozart schon seit den 50er Jahren (Musikbücherei Bielefeld) vertraut sein mussten. Aber der Fall liegt so: man kennt es in der Schriftlichkeit, als archaisches Faktum, aber man realisiert es nicht, die Bedeutung erreicht uns erst auf einer ganz anderen Ebene.

Bielefeld 50er Jahre

Neu war in den 60er Jahren, dass die Zeichen uns auf den Leib rückten, wir schafften uns auch das Material an, die Bögen, um die gemeinten Stricharten auch „taktil“ zu erleben. Wir versuchten es zumindest. Wie geht ein Springbogen, ein Spiccato, mit solchen Bögen?

Entwicklung des Bogens (nach David D. Boyden 1971)

Soviel – so knapp wie möglich – zu meiner Vorgeschichte des (Kennen-)Lernprozesses der „Aufführungspraxis“ oder der „historisch informierten Spielweise Alter Musik“ oder wie auch immer Sie es nennen wollen, wobei die Spannweite der Impulse, die von der „Alten Musik“ ausgingen, sich kontinuierlich über Klassik, Romantik in Richtung Moderne erweiterte, wo wir mit Leibowitz, Kolisch, Adorno zugleich wieder bei Beethoven gelandet sind… Man lese nur Thomas Seedorf über die Erweiterung des Repertoires hier. Ein Zwischenstopp bei Ravel, dessen Bolero hier nicht als Beitrag zur Geschichte der Aufführungspraxis gedacht ist: eine Melodie-, Harmonie-, Monotonie- und Instrumentationslehre ohnegleichen…

Ist es ein Wunder, dass auch heute noch ein Buch mit neuen Erkenntnissen zu Beethovens Aufführungspraxis uns in Aufregung versetzen kann? Nein, es ist kein Wunder, zumal es von diesem Dirigenten stammt, einem Mann der Praxis: Uroš Lajovic, aus der Schule der Praktiker Bruno Maderna und Hans Swarowsky. Und mit besonderer Sympathie habe ich unter dem beflügelnden Vorwort des Buches den Namen eines ehemaligen WDR-Kollegen gelesen, – mit dem entsprechenden berufsbezogenen Zusatz: Michael Schwalb, Cellist und Musikjournalist.

(Fortsetzung folgt)

Beethoven-Link betr. Punkt und Keil hier , siehe Schwalb Seite 10

(Fortsetzung oder Ergänzung folgt)