Archiv der Kategorie: Kammermusik

Mozart (14)

Vollkommenheit

Statt der relativierenden Überschrift (die hervorheben soll, dass Mozart erst 14 Jahre alt war) hätte ich auch dieses zweite Wort wählen können, wohlwissend, dass man es nicht strapazieren darf. Ich glaube auch, es wäre mir nicht so unabweisbar in den Sinn gekommen, hätte ich nicht genau diese Interpretation in die Hände bekommen. In die Ohren! Ja, und auch das Auge hört mit. Ich musste mich in das Bild versenken, die Mischung aus geometrischer Anordnung und Zufälligkeit, die Abendsonne, das Hündchen. Wo und wann könnte es diese Szene gegeben haben? Nirgendwo gibt es einen Hinweis. (Es ließ mir keine Ruhe, ich habe bei MDG angefragt.) Nur dies einstweilen: der Hauptgegenstand fehlt!

Mozart Fürstliche Gärten

Beginnen Sie mit dem Track 2, hören Sie das Andante und sagen Sie das Wort „Konvention“, – es wird Ihnen nicht über die Lippen wollen. Hören Sie jedes Instrument für sich im Raum und in Verbindung mit anderen, wie es spricht und seufzt, antwortet und weiterspinnt, wie sich zwei in Oktaven zusammenfinden, spielerisch, nicht spektakulär. Es ist unaussprechlich.

Der (lesenswerte!) Booklettext beginnt mit dem Satz:

Als Wolfgang Amadé Mozart 1770 im Alter von 14 Jahren sein erstes Streichquartett KV 80 komponierte, stand noch keineswegs fest, was ein Streichquartett überhaupt ist.

Das genügt. Hören Sie nur die Quartette, als hätte es Beethoven nie gegeben, ja auch nicht den Mozart der 80er Jahre! Noch mehr: ich will auch dieses Leipziger Streichquartett nicht vergleichen mit dem gleichnamigen vorher.  Die frühen Klaviertrios allerdings kann ich nicht ausschalten und werfe einen kurzen Blick zurück. Und dann Schluss!

Die neue Welt ab 1770. Schöneres gibt es nicht. Und wie merkwürdig, wenn man gerade von Bachs Flötensonate BWV 1030 kommt… Die gleiche Schönheit in komplexester und in einfachster Gestalt!

Mir gefällt auch, wie die Produktionsfirma ihre Werbung gestaltet:

Mozart MDG Werbung

… und mich jetzt ganz nebenbei zu einer Korrektur der Altersangabe im Titel zwingt:

Mozart MDG Werbung Ausschnitt

Also – es muss lauten: Mozart (14-17). Um so interessanter, falls man eine Entwicklung ausmachen will. Am besten gleich auch unsere eigene mit.

In meinem Fall – ganz nebenbei – durch den Blick auf alte Schlösser und die Reaktivierung des Buches von Horst Bredekamp, das die französischen Gärten gegenüber den englischen in ihr Recht setzt, auch was „die Natur“ betrifft. Ein Luxus der Geistesgeschichte und unserer gegenwärtigen dazu! Und wenn ich Bach mit Mozart in Wechselwirkung setze, so darf ich auch die positiv kontrastierende Wertschätzung westlicher und arabischer „Klassik“ in Erinnerung rufen. Nur als eins unter vielen Beispielen.

Bredekamp Inhalt Bredekamp

Ein weiterer Luxus-Link HIER (Bild anklicken und Lupe benutzen!)

Wie komponierte Mozart?

Hartnäckig hat sich das Bild des mühelos schaffenden Götterlieblings Mozart in den Köpfen der unbegabteren (und vielleicht weniger arbeitsamen) Nachfahren festgesetzt: Er komponierte demnach mühelos im Kopf und musste die fertigen Werke nur noch niederschreiben. Eine verhängnisvolle Rolle spielte dabei ein Brief, den er geschrieben haben soll, der ihm aber offenbar untergeschoben ist, um genau jenen Geniekult zu stützen, der im Sinne der Zeit war.

… und das Ding wird im Kopfe wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, so daß ichs hernach mit einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen, im Geiste übersehe, und es auch gar nicht nacheinander, wie es hernach kommen muß, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen.“

Nachtrag 22.08.2018 Zu diesem Brief siehe hier.

Der Schaffensvorgang von der Idee zum fertigen Werk verlief in Wahrheit nicht ganz so irrational, – wenn man einmal vom unbegreiflichen Endprodukt absieht:

1.) Es begann selbstverständlich mit einer Werkidee, einem „Projekt“ und der darauf gerichteten Phantasietätigkeit. (Neben dem Ausprobieren und Improvisieren am Klavier war dabei durchaus die Anregung durch andere Komponisten von Bedeutung.)

2.) Bestimmte musikalische Sachverhalte wurden schriftlich skizziert, z.T. in Kürzeln, die nur dem Komponisten verständlich waren.

Zuweilen sind es bereits „Verlaufsskizzen“, mit denen die Gesamtdisposition eines Werkes oder eines Werkabschnitts angedeutet (oder im Detail ausgearbeitet) wird, z.B. die Gesangsspartie einer Arie.

3.) Niederschrift: „Mozart notierte den ihm in den konstitutiven Bestandteilen gegenwärtigen musikalischen Verlauf in einer ‚Entwurfspartitur’.“ Sie bildete die Vorstufe zu einer vollständigen Partitur und enthielt den ‚Hauptstimmensatz’, z.B. die melodieführende Oberstimme sowie einige substantielle Zusätze zum Basspart oder zum harmonischen und motivischen Verlauf.

Sobald diese Entwurfspartitur beendet war,– also keine „Partitur“ im strengen Sinn –, war das Werk aus Mozarts Sicht (und seinem Sprachgebrauch nach) „komponiert“.

4.) Es folgte der wichtigste Arbeitsgang: die Verwandlung der Entwurfspartitur in eine ausgefertigte Partitur, wobei der „Hauptstimmensatz“ durch den „Binnensatz“ ergänzt wurde, also durch den detaillierten harmonischen Satz und die Präzisierung des Klangbildes.

Genau diesen Arbeitsgang nannte Mozart das „Schreiben“. Wenn Mozart sagte, ein Werk sei bereits komponiert, aber „geschrieben“ noch nicht, so fehlte noch dieser letzte Arbeitsgang.

Es bedeutet nicht, dass das Werk bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich in seiner Vorstellung existierte. Es lag bereits in einer objektivierten Form vor.

Quelle: nach Ulrich Conrad, MGG 2004, „Mozart“, Sp. 723-724

Schallplattenpreis

Lesenswerte Infos über CDs aller Sparten

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Anzufordern wo? Siehe HIER. Unter „Kontakt“. Das Info-Heft (nicht die CDs), auch als nachträgliches Geschenk zu verwenden, – wenn z.B. Ihre Geschenk-CD darin behandelt ist.

Nicht zu verwechseln mit dem Echo-Preis oder anderen von der Industrie gesponserten Auszeichnungen, die nur den Verkaufserfolg betreffen. Hier geht es ausschließlich um Qualität.

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Schubert & Tod

Zweischneidige Höraufgabe

kopatschinskaja-schubert-vorn kopatschinskaja-schubert-rueck Alpha 265 (Foto Julia Vesely)

Dem Rätsel der runden Gebilde im Wald – ich denke sinnloserweise an „Arrival“, aber auch an ein geschmackvoll eingesetztes Soundsystem  – kann ich im Video nachgehen.

Seltsam: der Flirt (oder die Identifizierung) dieser Geigerin mit dem fiedelnden Tod. Es ist (nur) eine Verkleidung, die aus andern Gründen befremdet als der Tod mit seiner Knochenfiedel.

geiger-tod-kopatschinskaja Aus der Fotoserie im Booklet

geiger-tod-rethel Aus meinem Bücherschrank

Quelle Volksbücher der Kunst: Alfred Rethel / Velhagen & Klasings Volksbücher Nr. 22 / Bielefeld & Leipzig 1911 (Seite 32)

Der Eindruck, dass die Inszenierung des „Mädchens“ als Tod – eine bloße Performance-Idee – vor allem als Denkfehler ankommt. Was aber noch nichts über die musikalische Interpretation und Gesamtkomposition sagt. Trotzdem: Erlebt man denn die Szene von innen oder von außen? Ist es nicht eine einsame Konfontation? Wenn man Tr. 5 – die Variationen über „Der Tod und das Mädchen“ – hört, irritiert nicht die angestrengte Tendenz zur Aufhebung der Individualität, wenn die 1. Geigenstimme chorisch gespielt, die Divergenz sogar hörbar wird? Warum soll man die panische Akivität des verlorenen Ichs auf viele Schultern verteilen?

Ich vermute, dass die Live-Wirkung auf der Bühne eine ganz andere ist, die Gruppe, die sich einig ist, jederzeit das solistische Quartett gemeinschaftlich zu übernehmen, hin und wieder einzelne Stimmen nach Bedarf heraustreten zu lassen, Zerbrechlichkeit zuzulassen. Bei 10:45 bis über 11:00 droht es zu misslingen und klingt leicht schäbig. Man fragt, ob man so mit Schuberts Tod verfahren darf: schon im Solisten-Quartett geht es hart an die Grenze. Und wenn ein Schubert-Satz zum Ende kommt, eine Erwartungspause entsteht, darf da eine andere, schwer einzuordnende  Realität antworten, z.B. Gesualdo, der nur aus unserer Entfernung doppelt erratisch wirkt? Schuberts wildes Scherzo also mit Verzögerung, ja, gewiss, es büßt seine Wirkung nicht ein. Natürlich nicht. Und die Kammerorchester-Version passt gut zum rabiaten Tonfall. Ist ein gemeinsames Wüten gemeint?

Ich denke an den Abend mit dem Kelemen-Quartett zurück (hier). Entscheidend war die Live-Aufführung auf und jenseits der Bühne, die Licht-Regie, die Verteilung im Raum, aber das Haydn-Quartett blieb doch ein Ganzes. Ich glaube gern, dass auch der aufgeteilte Schubert in Berlin – samt Intermedien – ein erschütterndes Ereignis war (vielleicht ohne das kokette Spiel mit dem Knochenkostüm?) und man wusste, alle Sätze werden eintreten, der letzte gewissermaßen durch Kurtágs „Kafka“ (Tr.9) herbeigeschrieen.

Und man muss nicht die Litanei vom Ganzen des Werkes herbeten, das man erstens kennt und das sich auch innerhalb des neuen Ganzen herauskristallisiert. Schwierig ist nur, die großen Quartett-Versionen, die man (vielleicht) im Ohr hat, nicht zu vermissen. Der Nachhall am Ende der CD enthält doch eine Spur zuviel Kammerorchester?

Vielleicht ist die Performanz der Musik wirklich ein Weg, den man neuerdings immer wieder gehen muss. Hélène Grimauds „Water“, Igor Levits „Goldberg“-Stille mit Marina Marina Abramović und vieles andere. Vor allem führt er die Neue Musik zurück in die „Gemeinschaft“. Oder verwandelt Alte in Neue Musik. Nehmen wir Kai Schumann mit „Insomnia“ hier. Ich wette: im Konzert wenigstens mit dem Thema der Goldberg-Variationen kombiniert. Oder … haben Sie 10 Minuten Zeit? Ob mit freundlicher Zuneigung oder leisem Widerstand – mir kann es egal sein. Der Komponist ist anwesend und darf entscheiden.

Ein Wink mit dem …

… Tambourin (nicht mit dem Zaunpfahl)

tambourin   tambourin-st Solinger Tageblatt 15.10.2016

Man könnte meinen, ich sei der wichtigste. Das habe ich nicht gewollt! Ich bin nur der Vater und der Freund. Auch der freundliche Herr auf dem Foto ist ein anderer, nämlich der das Konzert empfehlende Redakteur. Und ich werde auf jeden Fall seiner Empfehlung folgen.

caix © s.u.

Dieses niedliche Bild verdanke ich der „Association Caix d’Hervelois“, auf deren Website es sich befindet, leider ohne Titel und Copyright-Hinweis. Ich bin nicht sicher, ob es sich um ein Gemälde aus der damaligen Zeit handelt oder um ein historisierendes „im Stil“.

Ein anderes Bild zeigt Louis de Caix d’Hervelois in späteren Jahren mit seiner Tochter, deren Bogenhaltung nun auch nichts mehr zu wünschen übriglässt.

caix_dhervelois

Louis de Caix d’Hervelois und seine Tochter Marie-Anne de Caix

Quelle: Unbekannt (Französische Kunst) – collection personnelle, 2006-11-29, SP, Gemeinfrei,  wikimedia commons.org / S.a. HIER

An dieser Stelle soll der Text der Moderation folgen, sofern sie einigermaßen gelingt. Vorweg – nicht ohne Grund – eine Erinnerung an Rudolstadt. ABER – es ist nicht das Wohnhaus, hier stand es nur; der Rotary Club wird alles andere wissen. Übrigens befinden sich im Parterre jetzt sinnvollerweise die Räume des Kantorats. Im Fenster (bitte vergrößern!) hängt ein rotes Schild, darauf geschrieben stehet: „Singen macht glücklich“.

erlebach-in-rudolstadt-haus erlebach-in-rudolstadt-tafel Foto: E.Reichow

Erlebachs Vorrede:

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Der Beginn der Moderation im Industrie-Museum:

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Kennen Sie Erlebach?

Es gibt eine Tatsache, die ihn mir schlagartig nähergebracht hat, ich habe im Lexikon nachgeschaut: er wurde geboren und ist auch gestorben.

Nein, das allein war es nicht: fast so lange ich denken kann, fahre ich jährlich einmal durch seinen kleinen Geburtsort, ohne davon zu wissen, und in diesem Jahr besuchte ich auch die Stadt, die ihn zu allerletzt, aber immerhin für 30 Jahre beherbergte, und wir haben sein Haus mit der Gedenktafel geknipst: in Rudolstadt. In den Jahren vor seinem Tod, 1714, hätte er Joh. Seb. Bach in Weimar zu Fuß besuchen können. Aber Sie raten nicht, wo er geboren ist: in Esens, Ostfriesland, der letzten Station vor Bensersiel, der letzten Station vor Langeoog (am Ende der Welt).

Dass der begabte Junge dort nicht ewig bleiben konnte, ist klar, und nichts lag offenbar näher als der Weg nach Rudolstadt in Thüringen. Denn die kunstliebende Witwe des Fürsten Enno Ludwig von Ostfriesland war niemand anders als eine Schwester der ebenfalls kunstliebenden Gräfin Aemilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt, an deren Hof der 21jährige Philipp Heinrich Erlebach ab 1679 nachweisbar ist. Er begann als gräflicher Musiker und Kammerdiener und stieg alsbald auf zum Kapelldirigenten, mit der Verpflichtung, fleißig zu komponieren und eigene wie fremde Werke aufzuführen. Er sorgte für ein geradezu internationales Programm. Über 1000 Werke aller Sparten hat er selbst geschrieben. Er wurde ein bekannter Mann auch über den mitteldeutschen Raum hinaus. Das eigentliche Trauerspiel, abgesehen von seinem frühen Tod, – er wurde nur 57 Jahre alt -, ereignete sich 20 Jahre später: der musikalische Nachlass, den seine Frau für 450 Reichstaler an den Hof verkauft hatte, das ist mehr als das Jahresgehalt eines Kapellmeisters in Köthen, also … an den Hof verkauft, wo die Schätze auch gelagert wurden: und dort fielen sie im Jahre 1735 fast vollständig einem Schloßbrand zum Opfer. Nur etwa 70 Manuskripte haben das Feuer überstanden.

Und dazu gehören Gottseidank auch die 6 Triosonaten, von denen Sie heute die letzte als erstes hören.

Ich bin gebeten bzw. mir ist erlaubt worden, wenig Worte zu machen, und wenn dann doch noch Zeit übrig bleibt, können Sie ja Erlebachs Vorwort lesen, das im Programmheft steht. Vielleicht auch stillschweigend etwas kürzen. Die Überschrift z.B. bedeutet einfach: „Hallo!“ Mit seinen Worten: „Hoch- und viel geneigter Musik-Liebhaber!“

Der erste Absatz sagt in etwa, die Zeiten sind übel, viel Trouble allenthalben, der Kunst geht’s schlecht, der Musik aber prima. Wie kommt das? Jetzt zitiere ich mal etwas wörtlicher: „Sie blühet und grünet mit Gottes Segen in kaiser- und königlichen, kur- und fürstlich- auch gräflichen Höfen und genau so in hoher Herren Herzen und Häusern: Welch hohe Glücksbeständigkeit allein ihrer von Gott verliehenen Magnetkunsrt zuzuschreiben ist, wodurch sie nicht nur Ihre affektierten Gemüter durch allzusüßen Zwang an sich zieht, nein, sie macht sich die notorischen Liebhaber verbindlich und die schon verbundenen erhält sie sich in unaufhörlicher Hochachtung.“

Nun wissen Sie’s, jetzt folgt der Dank und die Eigenwerbung: Im vorigen Jahr 1693 sind seine Ouvertüren erschienen, d.h. Orchesterwerke, der Verkauf ist gut gelaufen. Und der ganze Freundeskreis hat ihm geraten [Zitat], „um ein mehrers meiner geringfügigen Arbeit der musikliebenden Welt zu kommunizieren. Weshalb ich dann meiner obligaten Schuldigkeit sonderlich gemäß befunden, solcher liebwertesten Musikfreunde geneigtes Ansinnen unverzüglich zu gratifizieren: So habe ich aus dienst-bereitwilligstem Gemüte diese 6 Sonaten und Partien auszufertigen weiters nicht umgehen wollen.“

Und dann kommt noch der nachdrückliche Hinweis, – ganz nebenbei verkaufsfördernd -, dass in vielen Ensembles „ein Mangel an spielenden Personen sich ereignet.“ Sonst hätten wohl noch viel mehr meine Ouvertüren bestellt!

Und sollte uns jetzt auch noch ein Gambist fehlen – eine Vorstellung, die in diesem Saal einen Schock auslösen könnte – halb so wild, meint Erlebach, denn an seiner Stelle darf eine zweite Geige spielen und der Cembalist kann für einen gewichtigen Bass sorgen und die meisten Töne in der rechten Hand weglassen, also „die anderen Zeichen und die darunter stehenden Claves in Stille praeteriren.“ Ich danke Peter Lamprecht, dass er heute abend Zeit hatte und mir Zeit gegeben hat, werde jetzt in Stille verfallen oder präterieren, um mit Ihnen frohgestimmt zu erleben, dass die wunderschöne Musik Erlebachs im Unterschied zum Vorwort wirklich nur das sagt, was unbedingt nötig ist, samt einigen Tanzsätzen, bei denen wir uns, wenn wir nicht in einer anderen Zeit lebten, geradezu beschwingt von den Sitzen erheben könnten.

(folgt MUSIK Erlebach)

Vom alten Erlebach zum ganz jungen Bach, – Erlebach ist fast 30 Jahre früher geboren als dieser, und als er diese Sonaten glücklich im Druck herausbrachte, – das war 1694 -, ereilte den Knaben Bach, der gerade 9 Jahre alt geworden war, ein großes Unglück: im Mai starb seine Mutter, der Vater aber – mit 7 von 8 Kindern im Haus – heiratete bald aufs neue, vielleicht in Panik, wir wissen es nicht, jedenfalls schon im November desselben Jahres, und dann starb er nur 3 Monate später. Johann Sebastian war ein Waisenkind. Glück im Unglück: Er fand Unterschlupf bei seinem ältesten Bruder, der schon Organist in Ohrdruf war. Zu Unrecht hat jemand die Geschichte in die Welt gebracht, dass dieser große Bruder dem Kleinen abends die Noten wegnahm und einschloss, und dass der sie heimlich nachts entwendet und bei Mondschein abgeschrieben habe, wobei er die Augen überanstrengte; daher – so hieß es später – rühre sein „von Natur etwas blödes Gesicht“. Unsinn! Noten gehörten für einen Organisten damals zu den kostbarsten Gütern, die überließ man nicht ohne weiteres den Kinderhänden. Ansonsten hat dieser Mann dem hochbegabten kleinen Bruder eine perfekte Musikausbildung zuteil werden lassen, seine Rolle kann gar nicht überschätzt werden. Andererseits war der junge Bach vom Furor des Lernens erfüllt: als er mit 14 Jahren nach Lüneburg ins Internat kam, wurde er mit einer neuen Welt konfrontiert, dort herrschte ein französischer Musikgeist, aber auch Hamburg und Lübeck waren nicht allzu weit, die berühmte norddeutsche Orgelschule – Stichworte: Buxtehude, Reincken.

Nachtrag 20.10.2016 Heute fühle ich mich auf wunderbare Weise bestätigt, was Bachs Bruder angeht (und Buxtehude!) angeht, während ich in dem neuen Buch von J. E. Gardiner („BACH Musik für die Himmelsburg“ Carl Hanser Verlag) lese: über die „beeindruckenden spieltechnischen Fortschritte, die Bach in seiner Zeit in Ohrdruf – mit Unterstützung seines Bruders – gemacht haben muss, war er doch offensichtlich entschlossen, eines der komplexesten Werke der norddeutschen Orgelliteratur seiner Zeit zu erlernen …. Wir müssen also die Rolle, die Christoph Bach im Rahmen der musikalischen Ausbildung des sehr viel jüngeren Bruders gespielt hat, neu bewerten.“ (Gardiner a.a.O. Seite 128).  

Die Worte „Waisenkind“ und „Internat“ lösen bei uns gern Mitleid aus. Aber man muss sich das arme Kind eher als Frühstufe jenes ungestümen jungen Mannes vorstellen, der es mit den Vorschriften nicht so genau nahm, der seinen Urlaub nicht um Tage überzog, sondern um Monate, – ja, Sie vermuten wahrscheinlich richtig: um etwas zu erleben, aber was? Musik, Musik, Musik. Er anverwandelte sich alles, was er zu Gehör und in die Hände bekam, den machtvollen Orgelstil Buxtehudes, die französischen Manieren Lullys, das frische melodische Leben Vivaldis und anderer Italiener, und früher oder später wurde originalster BACH daraus. Wir haben das berühmte Bildnis des Alten vor Augen, dessen Blick Kurzsichtigkeit verrät, und in der Hand hält er den unbegreiflich kunstvollen Kanon, seinen kompaktesten Geniestreich, wir sehen die strenge Perücke, aber wir vergessen, dass er sie – wenn ihn die Wut packte – herunterriss, um sie einem Chorknaben an den Kopf zu werfen. Aktenkundig ist auch die Auseinandersetzung auf der Straße, fast kam es zur Prügelei, weil ihm ein Musiker, ein Fagottist, übel genommen hatte, dass er ihn einen Zippelfagottisten genannt hatte. Wir stellen ihn uns gern als Grübler auf der Orgelbank vor, aber erstens war er ein Virtuose, der bei Kollegen Angst und Schrecken auslösen konnte – der Musiker Schwanenberger meinte konsterniert: „ich habe sowas noch niemahls gehöret, und ich mus meine Spielart gantz anders ändern, denn es nichts zu rechen ist …“ -, ja, die Harmoniefolgen der Orgel in Arnstadt erzeugten sogar Unruhe in der Gemeinde, unvergessen ist auch die damit verbundene Beschwerde des Kirchenvorstands, der aufmüpfige Kantor habe einmal eine junge Frau neben sich auf der Orgelbank sitzen lassen. Nur nebenbei sei erwähnt: sie hieß Barbara und war sehr musikalisch.

Gewiss ist er im Laufe seines Lebens ruhiger geworden, er hatte ungeheuer viel zu tun, nur mit äußerster Disziplin war das Pensum zu schaffen, das er bewältigte, zumal er ein gefragter Mensch war. Sein Haus glich einem Taubenschlag, erzählte später sein Sohn, der auch Barbaras Sohn war. Andererseits hat er nie die Leidenschaft verloren, die seine frühen Werke auszeichnete, man muss nur bestimmte Stücke aus den späteren Passionen hören: „Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden!?“, so weiß man, zu welcher Wildheit er die Kontrapunktik und Fugentechnik steigern konnte. Natürlich, das ist für Chor und Orchester, das kann man nicht 1 : 1 aufs Cembalo übertragen, es sei denn, man ist bereit die Tasten zu zerschlagen. Aber wer Ohren hat, dergleichen auch im klanglich zurückgenommenen Maßstab wahrzunehmen, der braucht keinen Steinway für die Darstellung des Jüngsten Gerichtes oder die feinsten Phantasien der hoffenden Seele.

Die Toccata, die Sie jetzt hören, stammt aus der frühen Zeit, in der auch die berühmte Orgel-Toccata in d entstanden ist, die ja derartig aus dem emotionalen Rahmen fällt, dass man meinte, ein anderer müsse sie geschrieben haben, nicht unser guter alter Bach. Aber der war nie „gut und alt“. Er war ein Wilder und wurde später ein Gigant, aber vor allem ein Mensch, den es in 1000 Jahren nur einmal gibt, und der einen ganzen Stammbaum von Bach-Menschen wie in einem Brennpunkt zusammenfasst. (Überall in Thüringen gab es mit ihm verwandte gute Musiker!)

Die Toccata in e-moll BWV 914. Sie beginnt wie eine Einspiel-Übung, wie eine Toccata eben, die den Tonraum sorgfältig auf die Tasten tocciert und einkreist, dann folgt ein erstes Fugato im strengeren 4stimmigen Satz, und dann, vor der furiosen Schlussfuge, steht da ein Adagio, das zu den expressivsten Stücken des jungen Bach gehört. Ich sage das, weil man die Ohren einstellen muss, es darf nicht einfach so an uns vorbeitönen…

(folgt Bach Toccata)

Also, zu meiner Zeit –

wenn mein Vater früher so anfing, wusste man, dass für uns nichts Gutes dabei heraussprang. Und ich versichere Ihnen: heute wird alles gut.

Also, zu meiner Zeit – als ich klein war – war es äußerst uncool, mit einem Geigenkasten herumzulaufen. Wer auf sich hielt, spielte Gitarre. Das ist heute ja noch so ähnlich, nur das Wort cool ist neu.

Ich habe keine Konsequenzen daraus gezogen und weitergeübt, allerdings habe ich mit dreizehn – vielleicht aus Gründen der Coolness – auch noch Klavier dazugenommen, da musste ich auch gar nichts mehr tragen außer Noten.

Natürlich hatte ich keine Ahnung, dass ich einfach nur 250 Jahre zu spät dran war, um 1720 hätte der Geigenkasten in meiner Hand allen Menschen echte Lebensfreude versprochen, die neuesten französischen Tänze zum Beispiel, Rigaudon oder Tambourin, die beide aus der Provence kamen, wie auch einer der drei Großen aus der Opern- und Popszene: Lully, Rameau und eben Campra, – André Campra, geboren in Aix-en-Provence, wo man heute noch das Festival du Tambourin erleben kann. So genannt nach einer Trommel, während man das handliche Tamburin mehr mit Italien, speziell Venedig, verband. Auch in Gestalt des Tamburello. Oder mit dem Baskenland, dort Tambour de Basques. Na ja, in jedem Fall: Rhythmus, und vielleicht ein ganz bestimmter.

Und auch die Geige stand für Rhythmus und Tanz. Sie war ein Aufsteiger, ein Emporkömmling aus dem Volk, erst allmählich war sie in die feineren Bereiche vorgedrungen, zum Adel gehörten von Haus aus die Gamben aller Couleurs.

Was für ein Tänzer hätte ich also mit meiner Geige in Frankreich werden können!

Jean-Marie Leclair hätte mein großes Vorbild sein können, er erlernte das Tanzen und das Violinspiel, seine berufliche Laufbahn begann er als Tänzer und Ballettmeister in Lyon. Später kam er in gleicher Funktion nach Turin, wo er auch sein Violinspiel bei italienischen Meistern vervollkommnete. Dann Paris, und wieder Turin und wieder Paris, schließlich landete er in den Niederlanden, wo er eng mit Locatelli zusammenarbeitete, der ihn sehr beeindruckte.

Man bezeichnete ihn auch schon als den französischen Corelli, man verglich ihn als Komponisten mit Vivaldi, und er war maßgeblich an der Mischung des französischen und des italienischen Stils beteiligt.

Merkwürdig der soziale Abstieg dieses bedeutenden Mannes in seinen 60er Jahren, die Frau verließ ihn, obwohl er wieder in Paris lebte, glanzlos, in einem unsicheren Viertel, in einer Absteige, sagte man.

Am frühen Morgen des 23. Oktober 1764 fand man ihn im Hausflur, in einer Blutlache liegend und von drei Messerstichen tödlich verletzt. Der Fall blieb unaufgeklärt, verdächtigt wurde laut Polizeiakten sein missgünstiger Neffe, der aber vorher kaum hervorgetreten ist, weder als Geiger noch als Mörder.

Die Sonate, die Sie hören, eine von insgesamt 12 Sonaten des Opus IX, stammt aus einer glücklicheren Zeit, 1743, da war Leclair gerade wieder aus den Niederlanden nach Paris zurückgekehrt, ein paar schöne Jahre lagen vor ihm. Die Sonate endet mit dem Tanzsatz Tambourin, wie übrigens auch das letzte Werk des heutigen Abends, von Rameau. Daher unser Konzerttitel, der Ihnen insgesamt eher ein leichtes, beschwingtes Leben suggerieren soll. Deshalb steht dort auf den Tischen für die Pause auch schon Wein und Sekt in Hülle und Fülle bereit, dazu Backwaren, Canapés und diverse Spezereien, nicht zu vergessen die klingenden Kostbarkeiten, die hinten am CD-Tisch angeboten werden. Das eine gratis, das andere zum Sonderpreis, der den reinen Materialwert kaum übersteigt. Oder höchstens um das Fünffache. Peter hat getan, was er konnte. Und der ideelle Wert ist unschätzbar.

Doch nun Leclair, der real und ideell Lebende!

(folgt: Musik Leclair und PAUSE)

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Meine Damen und Herren,

ich habe gestern im Tageblatt einen Hinweis auf dieses Konzert gesehen (siehe ganz oben) und bin etwas erschrocken: abgesehen von den Komponisten war nur ein einziger Name angezeigt, nämlich meiner, und übrigens auch wieder mit dem Titel, d.h. wohl: ich soll als Musikwissenschaftler sprechen. Aber das ist ein zweischneidiges Omen, man könnte es nämlich so verstehen: ich habe die Lizenz zur Langeweile.

Dabei bin ich schon zufrieden, wenn ich erstmal den Namen des Komponisten richtig auf die Reihe bringe: Louis de Caix d’Hervelois.

Meine Recherchen haben allerdings ergeben, dass die Daten falsch sind: er lebte von 1677 bis 1759, das sind unterm Strich 2 Jahre mehr als im Programm stehen, – in meinem Alter wäre man schon sehr froh darüber…

Ich weiß das, weil es eine „Association Caix d’Hervelois“ gibt, mit einer lesenswerten Internet-Präsenz, die Sie leicht finden, wenn Sie in meinen Blog gehen (das ist jetzt Eigenwerbung à la Erlebach!) mit dem Hinweis auf dieses Konzert: die letzte Eintragung enthält einen Link zur „Association“, ist übrigens auch sonst ganz lustig mit den Bildern seiner Tochter, einmal als 4-Jährige mit kleiner Gambe und großem Vater im Kreise begeisterter älterer Herren, dann als etwa 35-Jährige mit dem trotz Perücke deutlich gealterten Vater, sie eine adäquate Gambe spielend, während er ihr zeigt, um welche Töne es geht.

Aber als erstes findet man dann bei der Association die Info: Qui est Caix d’Hervelois? WER IST DAS? Und dann folgen wahrhaftig nur dreieinhalb Zeilen. Er war vor allem der Schüler des berühmten Marin Marais. Und dann stößt man auf die bange Frage: Ein Musiker OHNE eigene Biographie? Was weiß man denn über ihn? In der Tat: fast nichts!

Danach jedoch kann man dann Forschungsergebnisse lesen, seitenweise! … die ich Ihnen aber erspare, – zugunsten eines vagen Gerüchtes, dessen alleiniger Urheber ich bin. Gleich!

Sie hören eine Gamben-Suite, die aus einem Prélude und den gängigen Suiten-Tanzsätzen besteht, Allemande, Sarabande, 2 Menuette. Und dann folgen drei Titel, die vielleicht Fragen aufgeben: „L’inconstant[e]“, die oder der Wechselhafte. Instabil, cjangierend also. Was will er damit sagen? Von Marin Marais, dem Lehrer, gibt es eine Gigue mit dem gleichen Titel, und sie schwankt unberechenbar zwischen Dur und Moll. Hier aber habe ich nichts Instabiles gefunden. Vielleicht spüren Sie etwas?

Dann kommt „Le Pap[p]illon“, mit einem p, das heißt Schmetterling, und das Stück hat offensichtlich den schwankenden Flug des Schmetterlings zum Vorbild, wunderbar in die Luft gezeichnet. Aber was bedeutet das nächste: „Vaudeville“? Manche sagen, das Wort komme von „vauder“ = drehen plus „virer“ = übertragen, andere sagen von „Voix de ville“ = Stimme der Stadt. Es war jedenfalls seit dem 15. Jahrhundert der Begriff für ein Schlagerlied, gleiche Melodie, wechselnde Texte, sehr oft Spottlieder. Wer weiß, ob man so etwas bei Hofe vortragen konnte? Und den Leuten gingen dabei die wildesten Strophen durch den Kopf – unkontrollierbar!? Das ist jetzt mein Gerücht! Wir befinden uns ja im Zeitalter des Absolutismus, der allmächtigen Herrscher. Hier unversehens dem geheimen Spott der Leute ausgesetzt?

Wer weiß, ob wir nicht dem Grund auf der Spur sind, weshalb man von diesem hochmusikalischen Mann und seiner Tochter nie mehr etwas gehört hat…

Nur diese wunderbare Suite nach rund 3 Jahrhunderten…

Louis de Caix d’Hervelois!

(folgt Musik Caix d’Hervelois)

Ein Hinweis (nach dem Applaus): Peter Lamprecht ist übrigens ein sehr vielseitiger Künstler: er hat die Suite von Caix d’Hervelois wohltönend in diesen historischen Lagerraum gesetzt, und er hat nicht nur die Programme und das Foto gestaltet, auf dem man seine Gambe vor dem Eisenwaren-Regal sieht, sondern er hat dieses Instrument in monatelanger Arbeit auch selbst gebaut. Er ist ein perfekter Hand-Werker im weitesten Sinne des Wortes.

Jean-Philipp Rameau, das kann man unverblümt sagen, war einer der größten Musiker Frankreichs und hat sein Leben lang Stücke für sein Instrument geschrieben, das Cembalo, eine veritables Ideen-Sammelbecken; dann aber – mit 50 Jahren – trat er plötzlich mit einer Oper hervor, es ist überliefert, dass ein Zeitgenosse sagte: „da steckt Musik drin für 10 Opern“ – ja, und so kam es dann auch, er schrieb nicht nur 10, sondern über 30, und die meisten waren anspruchsvoll und genial, oft heiß umstritten, weil man es gern simpler gehabt hätte, – Hauptgegner war der Philosoph und Hobbymusiker Rousseau -, aber je mehr man sie begriff, desto höher stieg Rameaus Ruhm, sogar Ludwig der XV. stimmte zu und erhob ihn in den Adelsstand. Schon 1722, gerade als er aus Dijon nach Paris umsiedelte, war sein epochales theoretisches Werk „Traité de l’Harmonie“ (Abhandlung über die Harmonie) erschienen, – mit deutschen Gegebenheiten verglichen, ist das so, als wären die Kollegen Telemann und Mattheson ein und dieselbe Person gewesen – , und dann schuf er Werk um Werk, Schauspielmusiken, Ballettmusiken, Opern. Wie bedeutend und zeitlos sie waren, wurde durch die Renaissance dieser Werke auf den Bühnen der Gegenwart nachdrücklich bestätigt. Übrigens konnte ich die Vorbereitung dieser Rameau-Renaissance hautnah miterleben, als das Collegium Aureum, in dem ich mitspielte, 1967 „Les Indes galantes“ bei Harmonia Mundi aufnahm, die galanten Inder: damit waren allerhand verliebte Exoten gemeint, in der Türkei, in Persien, in Peru und bei den Indianer Nordamerikas; Rameau hatte selbst die Vorführung zweier Indianer in Paris beobachtet. Kurz vor der Schluss-Chaconne erklingt – wild genug für die Zeit – der provencalische Tanz – „Tambourin“, Es ging sozusagen um die phantastisch erweiterte Idylle des imaginären Landlebens. Eine Projektion städtischer Wünsche. Angefangen hatte damit übrigens der gebürtige Provencale André Campra, der 1697 „L’Europe galante“ als Ballett-Oper auf die Bühne gebracht hatte, und zu diesem Traum-Europa gehörten Frankreich, Italien, Spanien und die Türkei.

Trotz all dieser Sensationen und Perspektiven, war es erstaunlich, dass es einer ganz simplen Anregung aus nächster Nähe bedurfte, um Rameau auf dieses einzige Kammermusik-Opus zu bringen, aus dem Sie heute die Suite in A-dur hören, wenn man so will, die Geburtsstunde der Idee des Klaviertrios, eine Kombination dreier wirklich gleichberechtigter Instrumente, mit Geige und Gambe. Eine Geschäftsidee, strenggenommen. Ein Kollege namens Mondonville hatte 1737 Cembalostücke veröffentlicht, die mit einer hinzugefügten Geigenstimme aufwarteten: sie war also derart komponiert, dass man sie dazu spielen konnte, aber es fehlte auch nichts Gravierendes, wenn man sie wegließ. Das vergrößerte automatisch den Kreis der Käufer dieser Noten. Selbstverständlich war das nicht, denn im Paris jener Tage galt die Geige immer noch als ein Wirtshausinstrument: laut, kreischend, vulgär. Vornehme Leute, vor allem aber vornehme Damen, zögerten, sie anzurühren. Um so erstaunlicher der Erfolg.

Rameau erwähnt diesen Erfolg seines namentlich allerdings nicht genannten Kollegen ausdrücklich in der Vorrede zu seinen „Pièces de Clavecin en concerts“, in denen er nun noch darüber hinausgeht. Dem vollständig beidhändig ausgearbeiteten Cembalo-Part fügte er eine Geigenstimme und eine Gambenstimme hinzu, die bei der Aufführung nicht fehlen sollen, wobei die Geige jedoch dann auch noch durch eine Flöte, die Gambe durch eine zweite Geige ersetzt werden konnte. Daraus lässt sich jederzeit eine sehr bunte Musik zusammenstellen, die dennoch an keinem Punkt beliebig klingt. Den Einfällen und der Struktur nach handelt es sich um hervorragende Kompositionen, auf ein kleines und kompetentes Publikum zugeschnitten, einen Kreis von Auserwählten, die Rameau „Hommes de goût et de metier“ nennt, Leute mit Geschmack und vom Fach. Etwa so wie hier…

Manchmal gab es im Titel einzelner Stücke Anspielungen auf Freunde und Gönner, wie z.B. auf das Ehepaar LaPoplinière, – das zusätzliche „La“ davor bedeutet „la Pièce“ – es handelte sich um Rameaus Gönner, in deren Palais er jahrelang lebte, ein Privatorchester leitete und Honorar bekam. Auf wen das Stück von der Schüchternen „La Timide“ gemünzt ist, verrät er uns nicht. Zweimal „Rondeau gracieux“ steht da in den Noten: die Schüchternheit tut ja der Grazie keinen Abbruch. Im Gegenteil.

Das krasse Gegenteil haben wir allerdings im abschließenden „Tambourin“: Ich sagte schon, dass der Tanz vom Lande kommt, aus der Provence, Sie erkennen das sofort an dem stampfenden Bass, man hört, wie die Füße auf den Tanzboden aufschlagen, man kann sich das auch als eine Phalanx von Spielleuten mit Trommel und Einhandflöte vorstellen, wie beim Festival du Tambourin in Aix-en-Provence. Wobei dieser Trommel-Rhythmus weltweit auf ganz unterschiedliche Art erzeugt werden kann, in manchen Gegenden schlug man die Saiten einer Bordunzither mit dem Stock, in der Gascogne zum Beispiel, da hieß es Tambourin à cordes, in Italien gab es das auch: Altobasso genannt, und hier bei uns muss eben die Gambe samt Cembalo herhalten, manchmal sogar die Geige, wenn man sozusagen die Sau rauslassen will.

Es ist ja immer interessant, wenn die Musik der feinen Leute sich zu „erden“ sucht mit Hilfe der Volksmusik, und das lief nicht nur über die Musik, sondern auch über die Dichtung und die Malerei, die bukolische Idylle, die Schäferspiele, denken Sie an den Maler Antoine Watteau. Es soll nach Natur aussehen, aber städtische Raffinesse suggerieren, es sollte etwas nach Stall riechen, aber doch zum Parfüm passen.

Nicht umsonst bieten wir hier als Kulisse für Cembalo mit Viola da Gamba und nobilitierter Violine – ein uriges Scherenlager. Die rechte Akustik für genialste Musik der höfischen Zeit. Im Industriemuseum idealerweise abschließend mit dem Stampfschritt des provencalischen „Tambourin“. (Zumal fast alle Maschinen des Museums stillgelegt sind.)

(folgt Musik Rameau)

tambourin-letzte-seite

Text ©Jan Reichow

ensemble-sg-161016 Marc, Almuth, Peter

Solinger Echo HIER

Den Geiger Arzberger nicht vergessen!

Das Leipziger Streichquartett damals:

Leipziger Str-quartett 1

Leipziger Str-quartett 2

Leipziger Str-quartett Foto

Fabelhafte Haydn-Aufnahmen, diese vom 13.-14. Januar 2014

Meldung in Musik heute :

Stefan Arzberger verlässt Leipziger Streichquartett

07. Dezember 2015 – 12:19 Uhr

New York/Leipzig – Das Leipziger Streichquartett hat eines seiner Mitglieder und die GbR einen Gesellschafter verloren. Der seit Monaten in New York City unter Verdacht des Mordversuchs festsitzende Geiger Stefan Arzberger scheidet aus. Das schleppende Verfahren der US-Justiz zwinge ihn dazu, wie er der Deutschen Presse-Agentur am Montag per E-Mail mitteilte. Er wolle seinen Kollegen Planungssicherheit und eine sichere Zukunft ermöglichen. Der Künstler war Ende März während einer Tournee festgenommen worden. Ihm wird vorgeworfen, eine Amerikanerin fast erwürgt zu haben. Arzberger weist die Vorwürfe zurück.

Stefan Arzberger JETZT (ZDF-Sendung gestern)

Arzberger Screenshot 2016-05-18 21.46.25

Bittte das Video anschauen, das in der Mediathek abzurufen ist: HIER 

Nächste Anhörung: 31. Mai 12.00 Uhr (so benannt in 27:38 des Filmes).

Nachtrag 31. Mai 2016

In der Tat: er wird nicht vergessen. Selbst im Solinger Tageblatt gibt es einen großen Bericht:

Arzberger ST Bericht

Am Ende ein Hinweis auf die Website support-for-arzberger.com/de – auch hier anzuklicken.

Nachtrag 1. Juli 2016

Arzberger frei

Auch dies ein Bericht im Solinger Tageblatt, der bestätigt, dass der „Fall“ nun wirklich die breite Öffentlichkeit erreicht hat. Genaueres erfährt man wahrscheinlich in dem vor diesem Nachtrag gegebenen Link. Der psychische Schaden, den die Justiz angerichtet hat, ist damit nicht aus der Welt geschafft. Aber meine Berichterstattung ist hiermit beendet.

***

Erst kürzlich habe ich bemerkt, dass der Herausgeber des Bärenreiter-Taschenbuches „Ludwig van Beethoven – Die Streichquartette“ 20079 , Matthias Moosdorf, der Cellist des Leipziger Streichquartetts ist (und war), und zwar zu einer Zeit, als der Primarius noch Andreas Seidel hieß (bis 2008); ab 2015 Conrad Muck, in der Zwischenzeit – wie bekannt – Stefan Arzberger. Ob es eine „Zwischenzeit“ war, bleibt eine schwierige Frage.

Das Büchlein enthält eine kleine DVD mit der Großen Fuge op. 133 als „Ein musikalischer Bilderrausch“, den ich hier vermerke, weil mich alle Versuche der Visualisierung von Musik, die dem direkteren Verständnis dienen sollen, interessieren. Siehe auch unter dem Stichwort „Konzert, Performance, Ritual“ hier.

Nachtrag 19.10.2021

Jahre sind vergangen, – zu Matthias Moosdorf gebe ich inzwischen – wohl oder übel – den Wikipedia-Link ein: hier !

Zu Stefan Arzberger einen ausführlichen ZEIT-Artikel von Christine Lemke-Matwey aus dem Dezember 2016 hier , sowie einen darauf bezogenen Podcast von Sabine Rückert und Andreas Sentker, 2. November 2020, hier.

Raketenstation scharf einstellen

So kann es doch nicht bleiben:

Hombroich Pfingstmontag

Die Werke sind uns nicht unbekannt, aber reicht das, um im Konzert ganz bei der Sache zu bleiben?

Anton Webern: Fünf Sätze für Streichquartett op. 5 mit dem Alban-Berg-Quartett hier.

Wo steht bei Adorno – bezogen auf Anton Webern – das Wort „Der Rest ist Schweigen“ (Shakespeare)? Hat er wirklich einmal geglaubt, mit Weberns Moment-Formen  sei das Ende der Musikgeschichte erreicht? Op. 5 dauert „immerhin“ noch 10 Minuten…

Adorno:

Der Begriff des musikalischen Sinns ist nicht so fraglos, daß er stets den Text eindeutig durchwaltete. Während jede Musik der Tradition, zu der auch Schönberg und Webern noch zählen, als notwendig erscheint, ist diese Notwendigkeit nicht die der Kausalität der Dingwelt und nicht die der diskursiven Logik, sondern hat einen Aspekt des ästhetischen Scheins. Ihn meint Nietzsche mit dem Satz, im Kunstwerk könne alles auch anders sein – während es doch so klingen muß, als ob es nicht anders sein könnte. Bei vielen Werken des Wiener Klassizismus lassen, neben den einmal gefundenen, andere Lösungen sich vorstellen, von denen es schwer fiele zu sagen, ob sie minder richtig sind.

Quelle Theodor W. Adorno: Der getreue Korrepetitor (1963) Seite 150

Schönberg betrachtet in der Tat die Zwölftontechnik in der Komponierpraxis als bloße Vorformung des Materials. Er „komponiert“ mit den Zwölftonreihen; er schaltet mit ihnen überlegen, doch auch, als ob nichts geschehen wäre. Dabei ergeben sich ständige Konflikte zwischen der Beschaffenheit des Materials und der ihm auferlegten Verfahrensweise. Weberns späte Musik zeigt das kritische Bewußtsein dieser Konflikte. Sein Ziel ist es, den Anspruch der Reihen mit dem des Werkes zur Deckung zu bringen. Er strebt danach, die Lücke zwischen regelhaft disponiertem Material und frei schaltender Komposition auszufüllen. Das aber bedeutet in der Tat den eingreifendsten Verzicht: Komponieren stellt das Dasein der Komposition selber in Frage. Schönberg vergewaltigt die Reihe. Er komponiert Zwölftonmusik, als ob es keine Zwölftontechnik gäbe. Webern realisiert die Zwölftontechnik und komponiert nicht mehr: Schweigen ist der Rest seiner Meisterschaft. Im Gegensatz der beiden ist die Unversöhnlichkeit der Widersprüche Musik geworden, in welche die Zwölftonmusik unvermeidlich sich verstrickt. Der späte Webern verbietet sich die Prägung musikalischer Gestalten. Diese werden bereits als dem Reihenwesen äußerlich empfunden. Seine letzten Arbeiten sind die in Noten übersetzten Schemata der Reihen.

Quelle Theodor W. Adorno: Philosophie der Neuen Musik (1958) Seite 106

Maurice Ravel: Streichquartett (Quatuor à cordes) mit dem Hagen Quartett: Satz 1 / 8:00

Zur Form: 1.Thema (Anfang), 2.Thema ab 2:07, Durchführung ab 2:37, Reprise ab 4:36 (rit 7:04)

Satz 2 / 6:27

Ravel II Noten

ZITAT Thomas Kabisch:

Im zweiten Satz wird Satztechnik zum Movens des Tonsatzes. Zwei Gedanken stehen zunächst in unvermitteltem Kontrast gegeneinander (fast könnte man von zwei Musikarten sprechen): ein Pizzikato-Thema, das wie eine in Unordnung geratene, etwas chaotische Gitarre klingt (T.1), ein gesangliches Thema in differenzierter Satzweise mit fundierendem Baß und die Harmonie ausführenden Mittelstimmen (T.13).

Das gesangliche Thema Takt 13 ist nicht unmittelbare Erfindung, sondern Ergebnis einer Entwicklung, die im ersten Gedanken wurzelt und einen einzelnen Ton zum Gegenstand hat. Die Tonrepetition auf e‘ im Innern der Takte 1ff. entsteht durch die alternierende Verschränkung von Tief- bzw. Hochton der beiden Mittelstimmen. In Takt 8/9 wird die Repetition gespreizt über zwei, dann drei Oktaven und erzeugt so den Raum, der den Eintritt des zweiten Gedankens verlangt. Der Triller der 1. Violine macht die Öffnung deutlich und ist Vorbereitung für Oberstimme wie für die Mittelstimmen des zweiten Gedankens (T.13).

Quelle MGG (neu) „Ravel“ Personenteil Bd. 13 Sp. 1352 (Thomas Kabisch)

Satz 3 / 9:03  Vorweg: Bitte beginnen Sie erst bei 1:53 bis 2:15 ! (Blickkontakt Cello-Viola) und darüber hinaus bis 3:55 ! Sie können nicht aufhören! Gehen Sie zurück, fangen Sie von vorn an! All dies gehört vielleicht zu den schönsten Momenten, die man in der Kammermusik erleben kann! So war es Odysseus bei den Sirenen zumute. Hören Sie später auch den Schluss des Satzes mehrmals, beobachten Sie den Gestus der Interpreten. So überträgt sich Konzentration.

Satz 4 / 7:06 (ab 4:56 Beifall)

Ravel Titel Quatuor Ravel Quatuor

Interessant der Hinweis bei Arbie Orenstein (Reclam Stuttgart 1978 S.170), dass Ravels Werk (1902-03), obwohl „eine eigenständige, reife Leistung“, dem Streichquartett (1893) von Debussy nachgebildet sei.

Robert Schumann Klavierquintett op. 44 mit Daniil Trifonow und dem Ariel Quartet (Beginn bei 1:32) Satz 1 ab 1:32 bis 8:21 // Satz 2 ab 8:37 / 12:18 / Ende 16:17 // Satz 3 ab 16:38 / Ende 21:27 // Satz 4 ab 21:47 / Fu… 26:05/27:22/28:10 …ge / Ende 29:05 //

Martin Geck:

[Der] Kopfsatz beginnt mit einem Allegro brillante ebenso furios, wie der Schlusssatz mit einer Doppelfuge endet, die den Hauptgedanken des Finales mit demjenigen des ersten Satzes kombiniert – nicht ohne auch noch eine Episode aus dem langsamen Satz zu zitieren. Diesem „in modo d’una marcia“ in düsteren Farben gehaltenen Herzstück des Quintetts ist das nachfolgende Intermezzo VI gewidmet.

Quelle Martin Geck: Robert Schumann / Mensch und Musiker der Romantik / Biografie / Siedler München 2010 (Zitat Seite 191 f)

Martin Geck hat völlig recht: der „Trauermarsch“ ist das Herzstück des Werkes, und wenn ich eine Interpretation des Werkes aussuche, muss ich als erstes das Tempo dieses Satzes hören. Empfinde ich es als falsch, – zu langsam oder zu schnell, zu bedeutungsvoll oder zu leichtfertig -, verzichte ich auch auf alles andere. Wenn es „richtig“ ist, wird das sanfte Trio von niederschmetternder Wirkung sein… (Ich bin nicht ganz sicher, ob der Satz nicht auch in der oben gegebenen Version eine Spur zu langsam und in der Klage-Melodie der Streicher zu vordergründig ist.)

hier (mit Martha Argerich u.a.) plus mitlaufender Notentext!!! Interpretation: hektisch, exaltiert.

hier (mit Hélène Grimaud u.a.) nur „marcia“, wenig poetisch, 1.Trio espr.verfehlt (überdeutlich)

Haben Sie beim letzten Satz des Geck-Zitates einen Moment gestockt? Gemeint ist das Intermezzo in seinem Buch, und in der Tat führt es an einen wesentlichen Punkt des Schumannschen Denkens. Es lohnt sich, auch den Aufsatz hervorzusuchen, auf den sich Geck bezieht; auch hier die Feststellung: „Das inhaltliche Zentrum des Klavierquintetts von Schumann ist der langsame Satz.“ Was für ein wunderbares Licht fällt doch zuweilen durch eine angemessene Wort-Analyse auf ein geniales Musikwerk! Und wie froh bin ich, Triftiges zu hören über eine Melodie, die mich schon oft bis in den Schlaf verfolgt hat:

Schumann Marcia Trio

Schumann Kohlhase Zitat Martin Geck a.a.O. S.204

Quelle Martin Geck wie oben / von ihm zitiert: Hans Kohlhase: Robert Schumanns op.44 / Eine semantische Studie / Musik-Konzepte Sonderband Robert Schumann I / Herausgegeben von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn / edition text + kritik 1981 ISBN 3-88377-070-1 (S.148-173)

„…sondern erkennbar Seufzer loslässt…“ – wie wahr – die geliebte Sekunde, die schon am Ende der Arabeske unauslotbar schien. Bis endlich die Dur-Terz am Himmel steht, auf der die Vögel einruhn nach langem Flug (frei nach Benn).

Schumann Zum Schluss Schluss der Arabeske op.18

Zum Cuarteto Casals hier! Das folgende Foto stammt nicht aus dem (phantastischen) Konzert in der Veranstaltungshalle der Raketenstation Hombroich, sondern ist ein Screenshot aus der DVD, die es dort zu kaufen gab:

Cuarteto Casals Screenshot 2016-05-16 16.33.07

Cuarteto Casals Schubert (bitte anklicken)