Archiv der Kategorie: Interpretation

Gutes vom Geigenspiel

Was ich gerne höre

die neueste CD

Man sollte aber diese CD besitzen, nicht nur um die hinreißende Musik zu hören, sondern auch um den klugen Text zu lesen. Reinhard Goebels besonderer Blick auf das herrliche Instrument fasziniert, – auch wenn man durch den medialen Abstand ohnehin immunisiert ist gegen eine Fetischisierung der bloßen Klang-Eigenschaften. Es ist die alte Geschichte: warum gerade dieses Instrument (und nicht etwa die Gambe), warum wird man des neutraleren Charakters nicht überdrüssig und verlangt nach anderen Mischungen?

Ich könnte ein Loblied singen auf den sehnsüchtigen Klang der Hörner, auf die melancholische Kantilene der Klarinette, auf die rührende Unschuld der Oboe, – aber etwas Schwärmerisches über den Geigenton??? Ich denke an Kolisch und sein spöttisches Wort über „die Religion der Streicher“, an das nervende Dauer-Vibrato , und an das mickrige Pizzicato und sonstwas, ich höre Leute verzückt vom Cello reden, vom Zauber der Bratsche, die sie dann auch lieber Viola nennen. Nein, ich übertreibe: aber wenn es um die Geige geht, rede ich von Musik: vom „Adagio molto e mesto“ aus Beethovens op. 59 Nr.1, vom Siciliano einer Bach-Solosonate, vom Anfang des Sibelius-Konzertes.

Ja, aber dann gibt es auch noch Janine Jansen mit den 12 Stradivaris. Da ändert man leichtfüßig die Meinung und achtet geduldig auf den Unterschied der Klangfarben und der Saitenübergänge.

Ach, ist es möglich, dass ich im Begriff bin, mich peinlich zu wiederholen? Dann will ich lieber nur nachlesen, welcher Meinung ich wirklich bin: hier.

Dann hätte ich aber auch noch ein anderes Beispiel, von dem ich weiß, dass mich beim Hören der reine Geigenklang begeistert hat. Es mag auch an der genial-idiomatischen Schreibweise des Geigers Eugène Ysaÿe legen, ebenso an der bestechenden Technik und Musikalität der beiden Interpretinnen, in meinem Fall kommt die Erinnerung an den Lehrer Wolfgang Marschner hinzu, dessen Unterricht ich 1961/62 genoss: seine suggestive Art, eine französische Spielweise als Ideal zu vermitteln: eine gewisse Glätte und Eleganz, die er unnachahmlich etwa an der „Havanaise“ von Saint-Saëns exemplifizierte, während er sie bei Bachs Solo-Partiten selbst völlig vermissen ließ. Und ich glaube ihm aufs Wort, wenn er von dieser Aufnahme meint:

Das Violinduo Penny-Starkloff setzt die Tradition und Verkörperung eines besonderen Klangbildes gepaarter Violinen nicht nur fort, sondern belebt es in exzellenter Weise. Dies war der Hauptanreiz für mich, für diese Kombination meine „Sinfonischen Variationen“ zu schreiben.

Bezaubernd „französisch“ sind seine Bagatellen für zwei Violinen, – aber natürlich ist es eher die fast 30minütige Sonate von Eugène Ysaÿe, an deren Klangbild ich mich nicht satthören kann. Es ist nämlich nicht nur das Klangbild – diese beiden (mir unbekannten)  Geigerinnen spielen einfach unglaublich  gut. Wenn ich die Aufnahme beim Blindhören einordnen müsste, würde ich sagen: Weltklasse! Marschner muss ein guter Lehrer gewesen sein!

Coviello Classics hier

Man merkt wohl, dass mein Lob der größeren Marschner-Komposition, die er „Sinfonische Variationen“ nennt, irgendwie nicht rüberkommen will.

Stimmt, ähnlich wie er es damals mit mir gehalten hat, als er merkte, dass ich „die Karten meines Lebens“ nicht vollständig auf das Geigenspiel setzen mochte, sondern dass mir nebenbei noch andere Ziele vorschwebten, etwa: mehr Bach und Alte Musik und schließlich auch arabische und indische Musik – dass ich z.B. ihm, dem Pädagogen Marschner, nicht nach Freiburg folgen wollte, als er dorthin berufen wurde. Seine etwas zurückhaltend verklausulierte Beurteilung sollte ja eigentlich nur dazu dienen, dass die Firma Oetker in Bielefeld mein Musikstudium weiterhin mit monatlich 230.- DM unterstützte. Während er mir abschließend nochmal seine Meinung „geigen“ wollte…  Es reichte allerdings auch so:

Nicht immer verlaufen Geiger-Sympathien so früh im Sande, – kaum zu glauben, fast genau 60 Jahre später: die neueste CD von RG kommt wie eh und je auf dem geradesten Weg:

DANKE, so ist es uns recht, scherzando aus Solingen, Dein JR

Bloch über Bach

Schwer zu ertragen

Achtung, es geht um „eine in Bachs Musik verborgene Latenz„:

In Ernst Blochs „Geist der Utopie“ spielt die Musik eine besondere Rolle, – für mich allerdings immer unersprießlich. Wobei mir nicht klar wurde, warum: zu wenig konkret, zu hymnisch, zu „expressionistisch“. Gerade zu der Zeit, als ich systematisch Adorno las, auch Herbert Marcuse, und Blochs Kontakte zu Rudi Dutschke und den linken Studenten eindrucksvoll im Fernsehen erlebt hatte. Ich hatte die Erstausgabe geschenkt bekommen und wusste sie nicht recht zu schätzen. Schon in der Schule hatten wir rühmend vom „Prinzip Hoffnung“ gehört (im Fach Religion!!!), ich hatte auch etwas positiv Getöntes in Erinnerung behalten. Dazu ein schlechtes Gewissen, sooft ich dem interessanten Inhaltsverzeichnis ins Innere des Werkes gefolgt war:

Und nun finde ich prägnant beschrieben, warum es so kommen musste. Schließlich hatte ich auch Adornos „Jargon der Eigentlichkeit“ gelesen…

Das Buch von Nicola Gess über das Staunen muss ich nun aus eben diesen aufklärerischen Gründen hervorheben, hier ein winziger Ausschnitt:

Quelle Nicola Gess: Staunen Eine Poetik / Wallstein Verlag Göttingen 2019

Ein staunenerregendes Buch, – wollen Sie es entziffern? Es ist klar geschrieben, aber auch keine ganz leichte Lektüre. Ich möchte es nicht mehr missen:

Was stört am Tiefsinn? Präziser kann man es nicht sagen!

Quartett als Duo

Geht nicht. Oder doch?

Hören Sie die Musik über YouTube, – kehren Sie hierher zurück und versuchen Sie synchron die Noten im Duo-Text mitzulesen: 1 Kadenztakt vorweg (fehlt im Duo), ab 2:08 Wiederholung der Exposition, also wieder zurück an den Anfang der Notenseite:

(Quelle: hier)

Die Duo-Noten stammen so nicht von Haydn, entsprechen aber (reduziert) ziemlich genau dem Ablauf des originalen Quartett-Satzes, von dem hier noch vier weitere Seiten wiedergegeben sein sollen, incl. der Doppelstrichseite, von der aus wieder der Sprung zurück an den Anfang erfolgt:

Des Rätsels Lösung (Zitat Nachwort der Duo-Edition):

Die vorliegende Sammlung ist eine Bearbeitung für zwei Violinen von Werken Joseph Haydns. Der Verfasser war ein Zeitgenosse Haydns, Näheres ist jedoch nicht bekannt.

Die Sammlung wurde zunächst bei dem Wiener Verleger Giovanni Cappi herausgegeben, kurz danach erschien sie bei Bernard Viguerie in Paris. Der Verlagszeichnisnummer Vigueries nach war dies im Jahre 1798.

Alle Sätze sind Kombinationen von verschiedenen Sätzen aus Streichquartetten, Symphonien und Klaviertrios.

(Offenburg 2004 / Mihoko Kimura)

(JR) Die Kombinationen erscheinen uns heute reichlich unbekümmert, wenn etwa der erste Satz aus einem Klaviertrio stammt, der zweite und dritte Satz aber aus der Sinfonie mit dem Paukenschlag. Andererseits ist es ein interessantes Dokument der (suggerierten) Praxis: wie nämlich die Musikliebhaber der Zeit mit den beliebten Originalen umgehen. Eine Potpourri-Technik, – wobei aber die „Ganzheit“ der ursprünglichen Sätze weitgehend gewahrt bleibt (nicht die der Werke). Erwähnenswert, dass z.B. das Rondo von Duo I eine Transposition des berühmten „all’ongarese“ aus dem Klaviertrio G-dur nach F-dur darstellt. – Ob insgesamt der Verkaufstitel im Jahre 1798 korrekt ist oder einen Raubdruck verschleiert, wage ich nicht zu entscheiden.

Natürlich gibt es großformatige Duos zwei Violinen „sui generis“ (für Violine und Cello sowieso – Kodaly! -, Violine und Bratsche sowieso – Mozart!), etwa von Spohr oder gar Ysaÿe, aber es ist nicht befriedigend, wenn man sie unterhalb eines virtuosen Niveaus zu bewältigen sucht (Intonation!). In diesem besonderen Fall ist es aber reizvoll, die Haydn-Quartett-Sätze im Ohr zu haben – also Musik in ihrer anspruchsvollsten Form -, aber nun in ihrer reduzierten Version zu realisieren,  ohne dass die formalen Blöcke verkindlicht erscheinen. Man spürt: „da fehlt was“ , aber trotzdem ist es kein „best of“, keine Sammlung „schöner Stellen“, – man ahnt den „Zugzwang“ der großen Form und ist glücklich trotz des defizienten Wahrnehmungswinkels. Es ist nur eine Ohren-Übung, fühlt sich aber an wie der (musikalische) Ernst des Lebens. Mehr davon!

Ich denke mit Sympathie an die Laienmusiker:innen jener Zeit, die noch keine Kassettenrecorder und keine Handys kannte. Und mit Trauer an Kinderzimmer unserer Zeit, in denen das Handy als wichtigstes und allgegenwärtiges Spielzeug  bereitliegt. Jämmerliche Ersatztätigkeit der Finger, die dazu da sind, reale Welt zu be-greifen..

Edition Offenburg als Beispiel.

Kritik kritisieren?

Das ist im Mediengeschäft nicht nur erlaubt, sondern dringend geboten

Denn: da steht nicht einfach Meinung gegen Meinung, und alle haben recht (Recht), Stichwort Meinungsfreiheit. Sie stehen gleichberechtigt nebeneinander, sind aber deshalb noch längst nicht gleichermaßen richtig. Und sind auch nicht alle gleich „wirkungsmächtig“. In den Medien zum Beispiel sitzt man einfach am längeren Hebel und kann auch großen Künstler:innen – auf der bloßen „Meinungsverbreitungsebene“ –  realen Schaden zufügen. Denn diese Ebene unterscheidet sich oft kaum von der normalen „Gerüchteküche“ oder vom „Stammtisch“, wo jede/r als wichtig weitergeben kann, was er irgendwo aufgeschnappt hat oder was ihr gerade so eingefallen ist.

Ich stelle mir auch schon mal vor (habe es sogar miterlebt), wie eine hochverdiente Lehrkraft versucht, einem Violinschüler die Kunst der Melodiegestaltung zu vermitteln, und dieser beginnt sofort zu entgegnen: Das sehe ich anders, ich würde hier kein Crescendo machen und dort deutlicher absetzen und dergleichen mehr. Unvermeidlich: in einer solchen Situation kann es nur eine Autorität geben und keine Diskussion. Da gilt das Wissen, die künstlerische Erfahrung, die Fachkompetenz.

Ein Beispiel, das mir gestern begegnete: da ich weiß, dass Andreas Staier (endlich) Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ eingespielt hat, und da mir auch bekannt ist, auf welchem Niveau er seit Jahrzehnten spielt, bin ich ganz Ohr, wenn er plötzlich im Autoradio zum Thema wird. Es kann mir nicht darum gehen, sein Angebot wie die Leistungen einer Küchenmaschine zu überprüfen: ich bin bestenfalls ein Lernender. Selbst wenn ich seit 50 Jahren selbst das „Wohltemperierte Klavier“ spiele, brauche ich Zeit und Geduld, um erfassen zu können, was ein wirklicher Meister in den zahllosen Winkeln dieses unerschöpflichen Werkes erkundet hat und wie er es zum Klingen bringt. Und weiß, dass in 5 Minuten Sendezeit davon nichts, aber auch wirklich nichts an ein – vielleicht nichtsahnendes – Publikum übermittelbar ist: nur ein Hauch, und der Wunsch, sich damit weiterzubeschäftigen. Was mich aber überhaupt nicht interessiert, ist die unbedarfte Meinung einer einzelnen Person, die sich durch keinerlei Privilegien auszeichnet außer dem Recht, sich öffentlich zu äußern, – als habe man Triftiges zu sagen, sobald man die Plattform hat. Die fortlaufend eingestandene Subjektivität („ich, ich, ich“) gibt keinen Freibrief, Plattitüden zu verbreiten. In den öffentlichen Medien müsste sogar eine Fachredaktion das Schlimmste verhindern. So war es früher. Nicht anders als in politischen Sendungen, die ja kein Übungsplatz für Auszubildende sind, sondern für Profis, die ihr Handwerk gelernt haben: und das besteht nicht zu allererst in ungehemmter Meinungsproduktion, sondern in der klaren mündlichen Darstellung mühsam erworbener Sachkenntnis. Man nennt es auch Studium.

In aller Kürze: Ein negatives Beispiel HIER 5:11

31.01.23 Titel: Herausfordernd: Das „Wohltemperierte Klavier“ mit Andreas Staier

ZITAT

… auch wenn ich mir sicher bin, dass Staier aus guten Gründen bestimmte Register gewählt hat, ist das für mich aus klanglicher Sicht wenig nachvollziehbar. Das hört sich spitz an, intonatorisch unsauber und klingt fast wie ein Handy-Klingelton (Musik: 3:35 bis 3:49 aus Fis-dur-Praeludium). Mit seiner Phrasierung kann Andreas Staier mich auch nicht immer überzeugen. Einige Melodiebögen schwirren wie aufgeschreckte Insekten umher, dann setzt er wieder Noten scharf voneinander ab, wodurch Phrasen aber löchrig werden. Andere Stücke aber wiederum spielt er so erzählerisch, manchmal meditativ, oder mit packender Dramatik, wie ich sie noch nie vorher gehört habe. Das ist herrlich! (Musik: 4:14 bis 4:28). Was mir sehr gefällt, ist, dass der Zyklus bei Staier trotz historischer Aufführungspraxis nicht staubig klingt. Er lässt die Musik erfrischend und fröhlich aus seinem Cembalo sprudeln (Musik sprudelt von 4:37 bis 4:42). Das Album lässt mich mit zweigeteilter Meinung zurück. Technisch (usw.usw.) …

Ich benote die kritische Leisung (JR): unbedarft bis kleinkariert, ahnungslos, klippschülerhaft. Ungenügend (6).

Empfehlung an die Autorin: nicht nur die gerade zu besprechende Ton-Aufnahme mit den persönlich festgebrannten Vorurteilen abzugleichen (Aufführungspraxis = staubig), sondern zum allerersten Wissenserwerb auch mal das Booklet der CD lesen! Ich vermute, dass darin sogar die Tonart Fis-dur behandelt wird. Ebenso wäre zu erfahren, was es wohl mit dem Begriff „wohltemperiert“ auf sich hat. Oder man fragt vorher mal in der Redaktion, ob es dort Geschriebenes über Musik auszuleihen gibt. Hörer/innen hätten behauptet, man könne als Dilettant/in nicht alles aus den bloßen Tönen erfahren, was man zu lernen versäumt hat.

*    *    *

Und ein positives Gegenbeispiel: HIER (mit Skript, leicht abweichend vom gesprochenen Wort) Sehr kurzer, bildkräftiger Text, dafür instruktiv lange Beispiele (E-dur-Praeludium !!!) 4:43

13.01.23 Bachs Wohltemperiertes Klavier mit Andreas Staier

ZITAT

Andreas Staier, Experte für historische Aufführungspraxis, hat die 24 Präludien und Fugen des ersten Teils des „Wohltemperierten Claviers“ konsequenterweise auf seinem Cembalo eingespielt. Staier ist bekannt für seine ebenso fundierten wie mutigen Interpretationsansätze. SWR2-Kritiker Thilo Braun ist beeindruckt von Staiers „so empfindsamem wie technisch brillantem Spiel“.

Wie eine alte metallene Spieluhr schnarrt das E-Dur Präludium in Staiers Interpretation. Immer wieder verblüfft es, was für unterschiedliche Klänge Staier aus dem Cembalo zaubert. Einerseits durch die Wahl der Registerzüge und Manuale, andererseits durch seine abwechslungsreiche Artikulation. Er verharrt genüsslich in dissonanten Spannungen, wechselt im Akkordspiel zwischen eleganten Arpeggien und kantigen Brocken, garniert seine Melodien geschmackvoll mit Verzierungen.

Herrlich, wie sich rechte und linke Hand gegenseitig die Melodien zuspielen. Staier verwandelt das mathematische Konzept auf dem Papier in eine sehnsüchtige singende Fantasie. Trotz Ruhe tritt die Musik dabei niemals auf der Stelle, sondern spinnt sich natürlich und elegant, ja wie von selbst, vorwärts.

Man beachte, wie am Ende das in beiden Rezensionen gebrauchte, emotional gedachte  Wort „herrlich“ seine Glaubwürdigkeit verspielt bzw. gewinnt.

Natürlich weiß man nach beiden Rezensionen, dass 5 Minuten Sendezeit für die Vermittlung einer qualifizierten Musikerfahrung nicht ausreichen kann, aber im ersten Fall wendet man sich verärgert wichtigeren Themen zu, im zweiten Fall überlegt man, – egal wieviel Gesamtaufnahmen davon man schon besitzt – ob man nicht baldmöglichst auch diese erwerben sollte. Ein vorläufiger Ausweg: man hört die 24 Beispiele des Überblicks unentgeltlich bei jpc: hier

Ausblick

Mehr über den Interpreten?

Andreas Staier – Pour passer la Mélancolie…

hier hier Andreas Staier in Wort und Ton: Vimeo HIER

„Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen?“ Mit dieser Frage beginnt ein Aristoteles zugeschriebener Traktat. Die Lehre von den Vier Temperamenten (Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker, Phlegmatiker) assoziiert den Melancholiker mit höchst unterschiedlichen Phänomenen: dem Planeten Saturn, dem Herbst – auch dem Herbst des Lebens -, der Dämmerung, der Kälte, dem Geiz, aber auch dem Genie, der Geometrie und dem grüblerischen Tiefsinn. In größter motivischer Verdichtung fasst Dürer diese Vielfalt in seinem berühmten, rätselhaften Stich „Melencolia I“ von 1514 zusammen. „Du siehst, wohin Du siehst nur Eitelkeit auf Erden.“ Die Eröffnungszeile des bekannten Gedichts von Andreas Gryphius kann als Motto gelten für eine spezifisch barocke Interpretation des Melancholie-Themas. Vanitas-Darstellungen gehören zu den Lieblingsthemen der Maler: Eine blühende junge Frau betrachtet mit gesenktem Haupt eine verglimmende Kerze (Georges de La Tour), eine andere hält einen Totenschädel in ihren Händen, über den sie einsam versunken meditiert. Ihr Gesicht liegt im Schatten, im Hintergrund ist eine Ruinenlandschaft zu erkennen (Domenico Fetti). Mein Programm widmet sich den musikalischen Umsetzungen der Vanitas im Frankreich und Deutschland des 17. Jahrhunderts. Das Tombeau (Grabmal) und die Plainte (Klage) sind typische Gattungen der französischen Lautenmusik, die Eingang ins Repertoire der Cembalisten fanden. Der style brisé, der arpeggierte Stil der Lautenisten, wurde durch Jacques Champion de Chambonnières und Louis Couperin auf das Cembalo übertragen. Das sanfte Brechen der Akkorde, das Innehalten, Zögern, Untertauchen der Melodie standen von vornherein der Affektlage des Lamentos nahe. Der Stillstand, das Aussetzen der rhythmischen Kontinuität, des Pulses rücken diese Musik schon satztechnisch in die Nähe des memento mori. Meditative Räume öffnen sich, die Stille, Leere oder Einsamkeit symbolisieren; Sterbeglocken läuten. Umgekehrt stehen regelmäßige Abläufe oft für das Vergehen der Zeit, das Fließen und Verrinnen des Wassers wie des Lebens, oder für den feierlichen Schritt des pompe funèbre, des Begräbniszuges. Der Topos der Dämmerung und Dunkelheit findet seine musikalische Entsprechung in absteigenden melodischen Linien (Katabasis) oder der Bevorzugung von chromatisch eingetrübten tiefen Lagen. Schließlich können die ostinato-Konzeptionen mancher Chaconnen und Passacaglien ohne Weiteres als Sinnbilder unentrinnbarer Schicksalhaftigkeit gehört werden. – Schon der einzelne Cembalo-Ton kann in seinem Verklingen an die Vergänglichkeit alles Irdischen gemahnen. Daran erinnert der Antwerpener Cembalo-Bauer Andreas Ruckers, wenn er mehrere seiner Instrumente mit der Inschrift versieht:
„Sic transit gloria mundi“.

© Andreas Staier, 2012 (siehe Website hier)

Nach Einführung: 6:05 / ab 11:36 Staier über die Musik („Verweilen“), ab 15:25 Musik I Froberger (bis 24:55) Moderation Staier, die Fugen von d’Anglebert (Bezg. zu Bach!), ab 27:15 Musik II d’Anglebert (bis 30:08), Moderation Staier, ab 32:20 Musik III Passacaglia Fischer,

Johann Jacob Froberger:
Plainte faite à Londres pour passer la Mélancolie, laquelle se joue
lentement avec discrétion (1652)

Jean-Henry d’Anglebert:
Pièces de Clavecin. Livre premier (1689)

Johann Caspar Ferdinand Fischer:
Musicalischer Parnassus (1738). Aus Uranie sowie Ariadne Musica (1702)

Louis Couperin:
Pièces de clavecin (um 1650)

Louis-Nicolas Clérambault:
Aus 1er Livre de Pièces de Claveçin (1704)

Georg Muffat:
Aus Apparatus Musico-Organisticus (1690)

Mittwoch, 25.06.2018, Wissenschaftskolleg zu Berlin

Dank an JMR !

Wang‘ an Wange

Wo Beethoven am schwierigsten ist

Zugegeben: es begann mit einem ziemlich albernen Wortspiel, über das ich keine nähere Auskunft geben will. Metaphern der Nähe, einer mimetischen Illusion von Nähe.

Zumindest diese Sonate ist „auf Anhieb“ keine zum Wohlfühlen. Sagen wir, wie die Mondscheinsonate, deren erster Satz – wie alle wissen – durchaus so aufgefasst werden konnte, weshalb man ihn ja auch gern herausgetrennt hat. Ohne den Schock des zweiten Satzes. Im vorliegenden Fall, der Sonate op.31 Nr.3, müsste man sofort zur Operation schreiten: man sollte einmal die Takte 3 bis 6 weglassen, diese Zögerlichkeit, diese Spaßbremse, dann auch 12-15, und alles wäre im Lot. Oder?

Ich weiß, wie es mir in der Jugend ging, als ich mich mit Beethoven nach Noten befasste: ich verliebte mich (so sagt man heute) in das zweite Thema, man muss es auskosten, dachte ich, bloß nicht zu schnell, ich glaubte: dann wird es zickig, in Wahrheit ist es doch so, die Zickigkeit hat der Komponist ja schon vorher eingeführt mit dem vorwitzigen Getriller und mit dem Rhythmus in Takt 20. Ich muss damit leben!

Man kann sich dieser Musik nicht vorbehaltlos hingeben, sie verlockt und stößt ab. Man gibt sich nicht bedenkenlos hin, um im nächsten Moment die Ironie zu durchschauen und witzig zu werden, dann wieder lieb und wieder heftig oder glanzvoll. Hat das mit dem Neuen Weg ztu tun, von dem Beethoven laut glaubwürdiger Zeugenaussage (Czerny) gesprochen haben soll?

Ich denke an mein Jahr 1989, als ich eine Gewalttour durch das Beethovensche Sonatenwerk anstrebte, Vorsatz:  nicht mehr bei Lieblingswerken zu verweilen. Gerade hatte ich die „Mondscheinsonate“ hinter mir (Begeisterung von A-Z), da kam die D-dur op. 28. Ich beschäftigte mich gleichzeitig mit analytischen Interpretationen, Z. B. mit den sehr detaillierten von Jürgen Uhde. Und dann schrieb ich mir über den Beginn der Reprise Uhdes Hinweis, den ich als Ermahnung verstand:

Die Interpretation des ganzen sehr bedeutenden Stückes macht besondere Schwierigkeiten, weil alle pianistischen Sensationen fehlen, weil für einen Virtuosen keine Betätigungsfelder gegeben sind, und weil, wie im späten Werk, man nicht einfach einen eindeutigen Ausdruck anstreben kann.

Ich war am Klavier nie ein Virtuose, obwohl ich mich auch an ein paar Stücken virtuosen Charakters „bewährt“ habe (Schumann, Chopin), auch bei Beethoven hatte ich allerhand Lieblingsstellen, die „nach pianistischer Sensation“ klangen. Trotzdem verstand ich früh, dass es darum nicht gehen konnte. Aber worum dann?

Philipp Reclam jun. Stuttgart 1974,1991

Hat es was mit dem „neuen Weg“ zu tun, der oft beschworen wird, den Beethoven hier irgendwann (?) – wie Czerny berichtet –  eingeschlagen haben will? Vielleicht: weil die Musik selbst zum „Arbeitsmaterial“ wird: nicht nur be-arbeitet wird, sondern auch „zerstört“ wird. Ohne große Friedenspassagen, oder umgekehrt: wenn wie hier der pure Pastorale-Frieden entfaltet wird, für einen langen Satz, der mir beim Üben einfach zu lang wurde. Um so verbissener suchte ich ihn zu entschlüsseln (probates Allheilmittel: Jürgen Uhdes Analyse-Werk, das solche Probleme nicht ausklammert). Und nicht selten flüchtet man sich in Beethovens eigene Aussage, als sei das, was mich befremdet, zugleich das, was er als neuen Weg einschlug. Als hätte ich damit auch nur einen Zipfel von kompositorischer Einsicht erhascht. Ein großer Irrtum! Aber nicht nur ich irre mich.

Was konnte Czerny wissen?

Quelle Joel Shapiro in: „Beethoven. Interpretationen seiner Werke“ / Herausgegeben von Albrecht Riethmüller, Carl Dahlhaus, Alexander L. Ringer / Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1996 / Bd. I Seite 259-263.

Wie ich drauf kam (durch Widerspruch):

https://www.3sat.de/kultur/musik/klavierabend-yuja-wang-100.html

HIER (abrufbar bis 13. Februar 2023)

Beethoven ab 36:29 bis 53:06 / Brahms ab 1:11:42 / Gluck: Zugabe ab 1:19:10

2.Satz ab (Appl.! ab 42:52) 42:58 bis 46:42

3.Satz ab 46:24 bis 49:26

4.Satz ab 49:26 bis 53:06

Und nun: alle folgenden Anfänge bzw. ganze 1. Sätze studieren und vergleichen:

Gilels HIER

Rubinstein HIER

Backhaus (1969) HIER

Gould HIER nur 1.Satz

Barenboim Hier

Brendel Hier u HIER

Gulda Hier

Exposition bis kurz vor zweitem Thema

Die Lösung:

Levit https://www.youtube.com/watch?v=6rYm7NTv-kU Hier

Die Einzelsätze zum sofortigen Anspielen: 1)0:17 2) 7:29  3) 11:58 4) 15:21

Die (?) oder besser: eine Lösung, die mir sofort einleuchtet. Im zügigen Tempo, zielgerichtet, ohne geschmäcklerische Verzögerungen.

Zur Relativierung der eigenen Eindrücke wiederum sehr gut: die Podcast-Analyse Hier

https://www.br.de/mediathek/podcast/der-klavierpodcast-mit-igor-levit-und-anselm-cybinski/die-hochfliegende-musik-gewordene-glueckseligkeit-18-32/1795115

Urtext mit geheimen Zeichen?

Wie der Praktiker zur wissenschaftlichen Arbeit kommt

Für angehende Musiker[innen] gehört es schon früh zu den selbstverständlichen Fragen, ob die in den Noten – als Achtel, Viertel oder wie auch immer – scheinbar eindeutig dargestellten Töne kurz oder lang, markiert oder leichtfüßig wiederzugeben sind. Alles, was nicht ausdrücklich in den Noten steht – und das ist viel -, kann zu einem Problem werden. Viele Details, die den Vortrag betreffen, werden im lebendigen Unterricht vermittelt, manches, was um 1800 selbstverständlich war, gerät in einer anderen Epoche in Vergessenheit. Es muss gesagt und vorgemacht werden, es kommt nicht von selbst. Auch neue, groteske Missdeutungen werden regelrecht eingeübt. Ich nenne nur ein Beispiel: im Laufe des 19. Jahrhundert wurde es selbstverständlich, dass ein guter Musiker über den Taktstrich hinwegdenkt, dass er eine Melodielinie partout über mehrere Takte hinwegspannt. Dies nicht zu tun, war geradezu ein Zeichen für unmusikalisches Verhalten. In meiner Lernzeit (50er Jahre) gab es dementsprechend die geigerische Manie, den Schluss eines Taktes immer zu crescendieren und in die Eins des nächsten Taktes hinüberzuziehen. Ein Markenzeichen dieser nicht abbrechenden Intensität war auch das Dauervibrato, das man zur Schau trug, als dürfe es keine entspannteren Phasen geben.

Insofern musste erst wieder gelernt werden, dass vieles z.B. in der Barockmusik ganz anders zu handhaben ist; dass es einen rastlos wandernden Bass gab, dass andererseits die Tanzmusik bestimmte Betonungen – auch taktweise – vorgab und die Musik trotzdem nicht langweilig wird, sondern gerade dadurch erst ihren hinreißenden Drive bekommt.

Heute wundert sich kein musikalischer Mensch mehr, dass über solche Fragen der Artikulation, Betonung und Phrasierung endlos gestritten werden kann. Dass es – auch nach jahrzehntelanger bewährter Orchesterpraxis – niemals überflüssig wird, nachzufragen, wie genialische Menschen denn wohl selbst ihre Werke einem Publikum dargeboten oder mit Schülern ausgearbeitet haben. Und was sie dabei in die Noten eintrugen, um ja nicht missverstanden zu werden. Jeder Hinweis wäre nützlich. Ich erinnere nur an den Vortrag der Mazurken von Chopin: wie nah oder wie fern stehen sie noch der Praxis der polnischen Volksmusik? – oder dem, was der Komponist selbst als „Nationalcharakter“ empfand, aber schon als hauptstädtische Modifikation betrachtet werden könnte (siehe hier).

Ich hatte mich in den 60er Jahren relativ früh mit „Aufführungspraxis“ beschäftigt, dank meinem Lehrer Franzjosef Maier, erst recht seit er uns im Kurs für Alte Musik Köln Georg Muffats Vorrede zum „Florilegium secundum“ studieren ließ (die wohl auch für ihn neu war) und wie man mit solchem Rüstzeug nicht nur „Terpsichore“ von Praetorius adäquat erarbeiten konnte, sondern entsprechend auch die genuin französische Musik: Suiten von Lully, Rameau oder Campra. Damals eine neue Welt! (Maiers Name fehlt übrigens in den Annalen der Stadt Köln, siehe hier ab Seite 6, Dr. Alfred Krings war die treibende Kraft.)

Die praktizierenden Musiker begannen erfolgreich ins Gehege der Musikwissenschaft einzudringen und machten ungeahnte klangliche Entdeckungen. August Wenzinger, Fritz Neumeyer, Gustav Leonhardt, Nikolaus Harnoncourt und viele andere. Concentus musicus Wien, Cappella Coloniensis, Collegium Aureum, La Petite Bande. Am Anfang ahnte niemand, dass eine musikalische Revolution bevorstand. Für mich war es eine Offenbarung, als ich im Musikhaus Tonger zufällig diese Abhandlung entdeckt hatte und all die Zeichen zu hinterfragen begann, die mir eigentlich aus der Violinschule von Leopold Mozart schon seit den 50er Jahren (Musikbücherei Bielefeld) vertraut sein mussten. Aber der Fall liegt so: man kennt es in der Schriftlichkeit, als archaisches Faktum, aber man realisiert es nicht, die Bedeutung erreicht uns erst auf einer ganz anderen Ebene.

Bielefeld 50er Jahre

Neu war in den 60er Jahren, dass die Zeichen uns auf den Leib rückten, wir schafften uns auch das Material an, die Bögen, um die gemeinten Stricharten auch „taktil“ zu erleben. Wir versuchten es zumindest. Wie geht ein Springbogen, ein Spiccato, mit solchen Bögen?

Entwicklung des Bogens (nach David D. Boyden 1971)

Soviel – so knapp wie möglich – zu meiner Vorgeschichte des (Kennen-)Lernprozesses der „Aufführungspraxis“ oder der „historisch informierten Spielweise Alter Musik“ oder wie auch immer Sie es nennen wollen, wobei die Spannweite der Impulse, die von der „Alten Musik“ ausgingen, sich kontinuierlich über Klassik, Romantik in Richtung Moderne erweiterte, wo wir mit Leibowitz, Kolisch, Adorno zugleich wieder bei Beethoven gelandet sind… Man lese nur Thomas Seedorf über die Erweiterung des Repertoires hier. Ein Zwischenstopp bei Ravel, dessen Bolero hier nicht als Beitrag zur Geschichte der Aufführungspraxis gedacht ist: eine Melodie-, Harmonie-, Monotonie- und Instrumentationslehre ohnegleichen…

Ist es ein Wunder, dass auch heute noch ein Buch mit neuen Erkenntnissen zu Beethovens Aufführungspraxis uns in Aufregung versetzen kann? Nein, es ist kein Wunder, zumal es von diesem Dirigenten stammt, einem Mann der Praxis: Uroš Lajovic, aus der Schule der Praktiker Bruno Maderna und Hans Swarowsky. Und mit besonderer Sympathie habe ich unter dem beflügelnden Vorwort des Buches den Namen eines ehemaligen WDR-Kollegen gelesen, – mit dem entsprechenden berufsbezogenen Zusatz: Michael Schwalb, Cellist und Musikjournalist.

(Fortsetzung folgt)

Beethoven-Link betr. Punkt und Keil hier , siehe Schwalb Seite 10

(Fortsetzung oder Ergänzung folgt)

Mazurken-Spiel (2010)

Es geht immer noch um das Rubato (JR©2010)

Der ergänzende und erweiternde Vortrag vom 18. Juni 2010

„Pastorale“ Scherzo

JR Korrektur (?)

Die Titel Tr. 10 und 11 der CD, transkribiert nach der im Interview vorgetragenen Version.

Ein Blick in Chopins Jugendzeit auf dem Lande, beginnt hier inmitten eines Briefes aus den Ferien in Szafarnia an die Familie vom 28. August 1825.

Quelle Tadeusz A. Zielinski: Chopin / Sein Leben, sein Werk, seine Zeit / Gustav Lübbe Verlag Bergisch Gladbach 1999

Es ist wohl falsch, aus der Volksmusik spektakuläre Ergebnisse für die Aufführungspraxis der Mazurken von Chopin zu erwarten. Auch die rhythmischen Verhältnisse liegen nicht immer so vertrackt, wie sie bei Janusz Prusinowski erscheinen. Dort ist es ja vor allem die rhythmische Unabhängigkeit der Melodiestimme, und der Dreier-Grundschlag ist vor allem eins: tanzbar und verlässlich, aber nicht stereotyp. Vielleicht sucht man vergeblich nach der berühmten Abweichung einer Zählzeit, weil es so selbstverständlich klingt. Um so schöner, diese CD als Ganzes zu hören, die Chopins Mazurken in das Kontinuum der Volksmusik einbezieht, wobei sie einen sehr besonderen Charakter annehmen, – was nicht besagt, dass der Komponist irgendeine Melodie 1:1  übernommen hat. Wer sich auf die Suche nach diesen Aufnahmen begibt, könnte hier beginnen.

Um den interessanten Text leichter lesbar zu machen, habe ich die englische Version abgeschrieben:

In spite of intense efforts of musicologists have not been able to solve the problems of the use of folk music quotations in the works of Chopin. The composer did not refer directly to folk tunes but composed in the characteristic mood of this music. The main factor of identifying Mazurkas as musical pieces growing out of the Polish folk music was the mazurka rhythm. Heard in the Ukraine, Moravia, Lusatia and all over Scandinavia nowhere is it as wide spread as in central and western Poland. The mazurka rhythm is considered as a determinant of Polish character in music. It is used in the whole familiy of dances in triple meter which roots back in the Polish Renaissance and Baroque time.

This family consists of dances of different choreotechnic structures and tempo of performance, the slowest being the chodzony (walking dance), faster Kujawiak, followed by mazurka and finally the fastest of them all – oberek.

Distinction of the last two dances is often a difficult task. In some regions of Poland (e.g., the voivodship of Radom) the name commonly used is „oberek“ while „mazur“ is used as an alternative term for „sung oberek“ generated from vocal background. To simplify matters it is acceptable to consider the fastest of the round dances as oberek. The slower ones can be locally qualified as either oberek or mazurka.

Separate from the folk tradition but growing out of the folk mazurka a national mazur came to being. In comparison with the folk one, the national mazur is characterised by a much higher accumulation of dotted rhythms. From the end of 18th C. Mazurka entered into a canon of piano and stage music finding fulfilment in the compositions of Chopin.

However having taken a closer look at Chopins Mazurkas it is possible to discover a mixture of different traditions with a stress on the national mazur and the old Kujawiak. The name „Kujawiak“ appeared the first time in 1827. This widespread dance takes its region of Kujawy but the name is probably not a folk name. During the 19th C. a certain style of Kujawiak was formed and popularised. During that period of time, due to the moderate tempo and domination of minor scale a stereotype of a Kujawiak as a melancholic tune was formed.

Traditional folk Kujawiak is a pair round dance, however in comparison with other Polish round dances it lacks spontaneity. It exists in two versions differing from one another by its tempo and the direction of the turn. Ksebka is a left turn dance which is also sometimes called a „slow“ Kujawiak. Odsibka is a right turn dance, a bit faster and often considered to be the „proper“ Kujawiak. Both of theses dances were a part of the traditional cycle of triple meter dances with a progressively growing tempo which were called in the region of Kujawy „okragly“ (the round one). This cycle, often based fully on one medlody was formed by chodzony (walking dance), slow Kujawiak (called also the „sleeping“ one), the proper Kujawiak, mazur or obertas. Lyrical load present in Chopins Mazurkas seems to have its source precisely in the folk Kujawiak.

In our view Mazurkas are closely connected to pure folk music, so the mixture of both groups of repertoire and their performance by the some group of instruments has been considered by us as a natural way of things.

Ewa Dahlig / Maria Pomianowska

Erst jetzt habe ich einen im Internet abrufbaren Text von Dr. Ewa Dahlig-Turek entdeckt, in dem viele Probleme behandelt sind, die man ohne kundige polnische Hilfe nicht lösen kann. An dieser Stelle zunächst nur das Abstract, alles weitere dort.

Although Chopin’s music is continually analysed within the context of its
affinities with traditional folk music, no one has any doubt that these are two separate musical worlds, functioning in different contexts and with different participants, although similarly alien to the aesthetic of mass culture. For a present-day listener, used to the global beat, music from beyond popular circulation must be “translated” into a language he/she can understand; this applies to both authentic folk music and the music of the great composer.
In the early nineties, when folk music was flourishing in Poland (I extend the term
“folk” to all contemporary phenomena of popular music that refer to traditional mu-
sic), one could hardly have predicted that it would help to revive seemingly doomed
authentic traditional music, and especially that it would also turn to Chopin. It is
mainly the mazurkas that are arranged. Their performance in a manner stylised on
traditional performance practice is intended to prove their essentially “folk” character. The primary factor facilitating their relatively unproblematic transformation is their descendental triple-time rhythms.
The celebrations of the bicentenary of the birth of Fryderyk Chopin, with its
scholarly and cultural events of various weight geared towards the whole of society,
gave rise to further attempts at transferring the great composer’s music from the
domain of elite culture to popular culture, which brings one to reflect on the role that
folk music might play in the transmission and assimilation of artistic and traditional
genres.

1810 * Chopin. „Bicentenary“. Ob mir das überhaupt klar war? Jetzt dürfte also posthum die Lektüre der ganzen Original-Arbeit folgen, die ich damals (2010) verpasste, als ich mich aufs neue für das Mazurka-Thema begeisterte. Sie soll mich eine Weile beschäftigen, ebenso wie die CD, von der ich nicht weiß, wie sie schon viel früher den Weg zu mir fand.

(Fortsetzung folgt: siehe die schon angegebenen Links: hier und nochmals dort)

*    *    *

Wann war es nun? Wo begann es? Mit der Tacet-CD gewiss und dann … im Juni oder November 2010, womöglich sogar zweimal? Deutlich in Erinnerung jedenfalls: der anschließende, spannende Vortrag von Prof. Brzoska (Stichwort Einführung der Gasbeleuchtung im Theater). Er gehörte auch zu meinen wenigen Zuhörern und sagte, er habe nicht gewusst, dass man an Chopin noch musikethnologische Studien betreiben könne. Jedenfalls empfand ich es als Lob.

Brzoska s.hier

Varianten der Mazurka. Der heutige Tag wurde gekrönt durch Varianten eines Abendrots, das mich vom Schreibtisch an  das Fenster des Arbeitszimmers und hinaus auf den Balkon zog. Ich möchte mich daran in Zukunft erinnern, wenn ich wieder gutgelaunt im Keller sitze und … die einschlägigen Chopin-Mazurken am Flügel durchgehe. Oder sogar wieder ernsthaft übe. Mit der letzten beginnend.

Der Abend kommt ab 17.08 Uhr (10. November 2022)

ZITAT (Zielinski)

Die letzte Komposition, die Chopin überhaupt geschrieben hat, ist die Mazurka f-moll (op-68 Nr.4). Allerdings war der Komponist nicht mehr imstande, sie zu vollenden, und hinterließ sie in einer recht unklaren, mit vielen Streichungen versehenen Skizze. Zunaächst meinte man, das Manuskript sei nicht mehr zu entziffern und nur für den Komponisten verständlich gewesen, doch gelang es Franchomme unter Aufwendung großer Mühe, das Werk zu entschlüsseln, und trotz einiger nicht mehr zu klärender Details erschloß er damit ein Werk von außergewöhnlicher Schönheit und Ausdruckskraft. (Ein neuer, von der Skizze des Komponisten ausgehender Rekonstruktionsversuch wurde 1965 von Jan Ekier vorgenommen, der sich in vielen Details von der Version Franchommes unterscheidet. Er fügte auch die Sektion in F-Dur hinzu, die der Cellist ausgespart hatte, da er sie für wenig interessant erachtete.)

Quelle Tadeusz A. Zielinski: Chopin / Sein Leben, sein Werk, seine Zeit / Gustav Lübbe Verlag Bergisch Gladbach 1999

Chopin, erstes (und letztes) Foto 1849

  letzte Mazurka

Koroliov spielt genau die kürzere (2:29) Fassung, die in meiner Ausgabe des Fryderyk Chopin Instituts (Paderewsky) 16. Edition Cracow 1979 steht. Rubinstein spielt die Version, die einen – den –  F-dur-Mittelteil enthält (3:15).

das zu deutende Manuskript… („F-dur“!)

Slavoj Žižek

Ein unorthodoxer Denker zur Lage unserer Welt

Es ist mir entfallen, warum ich dieses Buch damals nicht verschlungen habe, ich glaube, ich hatte es wegen „Così fan tutte“ gekauft, nie gehörte oder gelesene Gedanken, die ich gerade brauchte, weil ich immer wieder von der Mozart-Oper besessen war. Auch heute fesselt es mich sofort, – aber 80% des Buches, das ich seit 1. März 2007 besitze, sehen absolut ungelesen aus. Während spezielle Themen offenbar um so nachhaltiger wirkten (siehe hier). Heute z.B. erinnerte ich mich, weil ein Freund sich gerade für Sibelius zu interessieren beginnt, und schon droht uns Adornos uraltes Verdikt den Weg zu versperren, – da könnte vielleicht doch gerade der musikliebende linke Philosoph aus Slowenien zu einem probaten Gegengift verhelfen…

Doch es gibt noch mehr Gründe, sein Werk hervorzukramen und zu Rate zu ziehen. Er ist kein Denker von der ganz peniblen Art, er ist impulsiv, man glaubt ihm beim Vorgang des Denkens zuzusehen, und schon ist man persönlich eingebunden: wie sagt man doch? man ist involviert… und ich studiere – zumal als Musiker – aufs neue intensiv seine Themenliste von damals.

Nun traf alldies zusammen mit einem Werbeheft der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, und das Verhängnis nahm seinen Lauf: ich begann mir allerhand zu notieren, weils womöglich der Wahrheitsfindung dient. Ganz sicher war ich mir nicht, aber als erst ein Anfang gemacht war, musste ich immer weiterschreiben. Mich interessiert, wie eine linke Position heute argumentiert (nach Putins Wahnsinn).

Folgender Text ist – als eilige Abschrift – noch nicht gründlich Korrektur gelesen.

(Moderation: Die Philosophin Dr. Rebekka Reinhard, stellvertretende Chefredakteurin »Hohe Luft«)

Slavoj Žižek :

(auf deutsch beginnend) Es ist eine grroße Ähre für mich, hier zu sein. Leider muss ich jetzt ins Englische wechseln (wir folgen dem Übersetzer), – ich glaube, die Frage ist die alte Leninsche Frage: „Was tun?“ Eigentlich wissen wir, was zu tun ist, die Medien sagen es uns, – Globalisierung, Kooperation usw. – das Problem ist unsere Apathie. Wir wissen, was zu tun ist, aber wir tun es nicht. Ich bin froh, darüber mit Ihnen zu sprechen, denn Deutschland ist immer noch das Land des Denkens. Ich denke , und das ist meine erste Provokation für heute: Wir haben es vielleicht mit der elften umgekehrten These von Karl Marx zu tun: die Philosophen haben die Welt nur interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Vielleicht haben wir im 20. Jahrhundert versucht, die Welt zu schnell, zu stark zu verändern, ohne sie wirklich zu verstehen. Heute müssen wir vielleicht einen Schritt zurücktreten und nachdenken. Wir brauchen eine neue Interpretation, und das sage ich als radikaler Linker.

(Mod. Sie haben von Apathie gesprochen, seit Beginn der Pandemie, erst recht seit Beginn des Krieges in der Ukraine, frage ich mich mehr und mehr, wie real die Realität noch ist, bis hin zu dem Punkt, dass ich mich frage: bin ich eigentlich wach, wenn ich mich frage, ob ich wach bin, oder wenn ich mich frage, ob ich träume. Was ist realer: die Träume, die ich nachts habe, oder die Realität, in der ich jeden Tag neu und wieder anders erwache? Wie geht es Ihnen?)

Das ist eine sehr interessante Frage. Ich gehe nicht im Detail auf Freuds Interpretation ein, aber vielleicht ist es der ultimative Freudsche Traum, wenn ein Sohn zu seinem Vater kommt und sagt: Vater, siehst du nicht, dass ich verbrenne, und dann wacht der Vater auf. Wissen Sie: oft sind unsere Träume – und hier rede ich nicht von leeren Träumen, sondern von Träumen über das, was uns erwartet, so schrecklich, dass wir sogar bereit sind, in der Realität zu erwachen, um schlafen zu können. Denn die Realität scheint auf den ersten Blick noch normal: Okay, Krieg in der Ukraine usw., aber schau mal, die Blumen, da gehen Menschen, so schlimm ist es doch nicht, also ja, wir können auch in die Realität flüchten. Heute scheint mir, der ich mich als atheistischer Christ definiere, ein Bezug auf das Thema der Apokalypse sehr passend. Wissen Sie: die Offenbarung des Johannes am Ende des Neuen Testaments, die vier Reiter der Apokalypse, sind wir da nicht schon? Es gibt die Interpretation, dass der erste Reiter die Pest ist, den haben wir: die Pandemie. Der zweite Reiter ist der Krieg, den bekommen wir jetzt. Dann der Hunger, der wird kommen, wir kennen die Konsequenzen des Krieges und in der Ukraine, nicht nur globaler Krieg, es wird deswegen in der Ukraine und in Russland nicht genug Weizen, Dünger usw. geben.

Und, was mich besonders schockiert hat, als Philosoph versuche ich darüber nachzudenken, dieser Schock hat nicht, wie man erwarten könnte, gute Folgen, in dem Sinne, o.k. es ist ein Trauma, aber es weckt uns auf, es ermöglicht uns, Probleme zu vergessen. Erstens die Zeitlichkeit dieser Krise, erinnern Sie sich noch an den Beginn der Pandemie? Die üblichen Zeiteinheiten der Behördem und der Wissenschaft waren damals zwei Wochen. Hab noch 2 Wochen Geduld, dann wird das besser. Dann waren es zwei Monate, dann hieß es vor einem Jahr: nächstes Jahr, und jetzt weiß keiner mehr Bescheid. 6:10

Und noch etwas: ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber in meinem Land erinnern sich viele meiner Freunde fast nostalgisch an die Pandemie. Die Regeln waren klar, man hat ein bisschen gelitten, aber man hatte genug Zeit, alles war irgendwie unter Kontrolle. Und jetzt ist alles viel schlimmer. Und dabei sind wir wohl bei weitem noch nicht am Tiefpunkt angelangt.

Ein dritter Punkt ist extrem wichtig: was sind die negativen Folgen dieser Krise? Ich weiß wieder nicht, wie es in Deutschland ist, aber hier in Slowenien – und ich habe überall das gleiche gehört – feiern die Neokonservativen diesen Krieg. Und warum? Weil sie ihn so interpretieren: in den letzten Jahren haben wir in einer Ära der künstlichen Probleme gelebt. Feminismus zum Beispiel. Mal ernsthaft: die Lage ist doch gar nicht so schlimm für die Frauen. Oder Rassismus, das ist eine Randerscheinung. Politische Korrektheit: das ist doch lächerlich. JETZT sind wir wieder bei den harten Tatsachen angekommen. Auch die Geswchlechterrollen sind klar festgelegt. Das ist ein Lieblingsthema der heutigen Konservativen. Ukrainische Frauen fliehen ins Ausland und kümmern sich um die Kinder, das ist ihre eigentliche Arbeit, während die Männer in der Ukraine bleiben, um zu kämpfen. Sehen Sie, das ist die eigentliche Tragödie dieses Krieges,- er mag eine globale Katastrophe sein, aber dieser Krieg ist kein Moment der Wahrheit. It’s not a moment of truth! Er ist ein Moment, der uns brutal von den wirklichen Problemen ablenkt. Nicht, dass er selbst kein echtes Problem wäre, abewr erlenkt uns von großen Problemen ab, wahren Katastrophen, die uns erwarten.

Also ja, ich bin ein Pessimist.

(Damit sind wir schon genau bei dem Titel Ihres neuen Buches: Unordnung im Himmel. Es ist ein Buch buchstäblich über alles. Sie schreiben kleine, scharfe kurze Beobachtungen über die aktuelle Weltlage, es ist eine Kaleidoskop Sie beleuchten Was meinen Sie damit?)

Etwas sehr Einfaches! 10:00 Für Mao ist der Himmel noch in Ordnung, er will einen allgemeinen Überblick geben, wohin die Geschichte geht. Und Unordnung unter dem Himmel bedeutet hier nicht einfach Chaos. Wir Kommunisten, die wir wissen, wohin sich die Geschichte bewegt, können das Chaos ausnutzen, um unsere Ziele zu verfolgen. Heute glaube ich nicht, dass wir Linken immer noch den Anspruch haben können, einen globalen Blick zu haben. Die Karten sind so seltsam gemischt, dass Gescgehnisse, die einst typisch für die Linke waren, nun von der Rechten vereinnahmt werden. Nur ein Satz, ein bekanntes Beispiel, wir erinnern uns leider alle an den 6. Januar 2021, als die von Trump aufgehetzte Meute das Capitol stürmte, und wissen Sie was? Viele meiner linksgerichteten Freunde waren fasziniert und weinten, sie sagten: Wir hätten das machen sollen, die Linken wo waren wir? Selbst dieser ultimative, radikal linke Traum vom Volksaufstand wird nun von der radikalen Rechten vereinnahmt.

Der nächste Punkt ist diese Orientierungslosigkeit. Ich nutze gern diesen Begriff des kognitiven Mapping meines guten Freundes Fredric Jameson

es geht darum, einen allgemeinen Überblick über die Situation zu bekommen. Wie sind vollkommen desorientiert! Eine grundsätzliche Frage. Was ist China heute? Ist es noch kommunistisch? Oder eine neue Art von postautoritärer, neokkapitalistischer Gesellschaft? Undsoweiter. Oder wie ist es mit unseren eigenen Gesellschaften? Ich bin nicht ganz einverstanden mit manchen meiner Freunde, Yanis Varoufakis zum Beispiel behauptet, dass der Kapitalismus bereits in etwas anderes übergeht. Manche nennen das Technofeudalismus. Ich habe daran meine Zweifel. Aber Figuren wie Bill Gates, Elon Musk oder Jeff Bezos sind tatsächlich keine Kapitalisten alten Stils, die die Arbeiter ausbeuten. Sie sind eher Feudalherren über ein bestimmtes Gebiet, die Pacht kassieren.Ich weiß nicht, wem Zoom (?) gehört, aber wir sind wahrscheinlich irgendwie über Microsoft verbunden, also bekommt er Gebühren dafür. Es passiert soviel Neues, und wir haben nicht einmal eine grobe Orientierung. Wenn ich also kurz auf das von Ihnen eingangs Gesagte eingehen darf: Ich stimme Ihnen zu, dass man den Hintergrund, die Komplexität der Situation sehen muss, aber meinen Sie nicht auch, dass diese Komplexität oft nur eine Ausrede ist, um das Offensichtliche zu verleugnen? Z.B. haben einige meiner Freunde, nicht nur die rechtsgerichteten, sondern auch linksradikale, immer noch diese uneindeutige Haltung Putin gegenüber. Sie sagen okay okay, aber trotzdem ist er ein Stachel im Fleisch des amerikanischen Imperialismus, und der ist immer noch unser Hauptfeind. Also spricht auch manches für Putin. Deshalb sagen sie gerne, die Situation ist komplexer. Meine Antwort: ja natürlich. Aber das sollte uns nicht blind machen für die offensichtliche Tatsache, dass ein großer Staat einen anderen Staat brutal angegriffen hat. Diese grundlegende Tatsache darf man nicht weginterpretieren. 14:52

(Die Unordnung ist total, der Wunsch nach einer neuen Ordnung ist natürlich auch sehr dringlich ….Und die Medien )

16:08 Um Missverständnissen vorzubeugen, ich stehe trotz aller Komplexität ganz auf der Seite der Ukraine. In dem Sinne, dass ich voll und ganz für die ukrainische Verteidigung bin.Im übrigen gibt es soviel Absurdes in der russischen Argumentation. Ich bin nicht so drauf, dass ich sage: hören Sie sich die andere Seite an, Entschuldigung, aber zufällig verstehe ich russisch. Ich höre die ganze Zeit zu, ich folge ihren Podcasts usw. also bin ich durchaus informiert. Ist Ihnen das auch aufgefallen: laut russischer Propaganda ist die Ukraine ein Land von Neonazis. Es gibt da einen Typen, der ist der Horror in Person. Nicht Dugin, Putins offizieller Philosoph, sondern – merken Sie sich diesen Namen Timofei Sergeitsev, der schrieb in einem offiziellen Kommentar, der in einigen russischen Bulletins veröffentlicht wurde: dass der ukrainische Nazismus ungleich gefährlicher sei als der von Hitler. Das ist die wichtigste Botschaft: dass Russland uns alle rettet.Was ich sagen will – und das als Linker – denken Sie daran, welchen Namen Putin nannte, als er seine Abnsicht erklärte, in die Ukraine einzumarschieren, einen einzigen Namen hat er negativ erwähnt und angegriffen: LENIN. Und in gewisser Weise hatte er recht: vor der Oktoberrevolution war die Ukraine unterdrückt, die einzige wirklich goldene Ära für die Ukraine waren die zwanziger Jahre, als die Ukraine als Nation voll entwickelt war. 18:07 Gleichzeitig redete er aber über die Nazis. Also hat die Ukraine für Putin zwei Väter: Lenin und Hitler. Das macht es für mich ein bisschen verdächtig. Ja, all das stimmt. Ich bin aber trotzdem beunruhigt. Ich bin nicht für einen totalen Weltkrieg, der enorme Risiken birgt, trotzdem stört mich vieles an der westlichen Reaktion. Ich traue den großen Worten nicht, Sie wissen schon: Putin, Den Haag, Strafgerichtshof, aber viele Menschen wissen beispielsweise nicht, dass trotz des Krieges in der Ukraine immer noch russisches Gas durch die Ukraine in den Westen fließt. Gegen reguläre Bezahlung natürlich. Das wirkliche Grauen für mich ist das hier: in diesem Moment, wo wir hier – wie Sie sagen – die Russen so leicht als Barbaren, als unzivilisiert abtun, sollte sich der Westen an zwei oder drei Dinge erinnern: erstens, sagt Putins offizieller Philosoph Dugin, der Westen müsse akzeptieren, dass es nicht nur ein Wahrheit gibt, die europäische, somdern auch eine russische Wahrheit. Wir dürfen nicht dieselbe Sprache sprechen. Das stört mich. Auch wenn ich Selenski voll und ganz unterstütze, wenn er sagt, wir verteidigen hier Europa, aber wenn ich Selenski wäre, würde ich noch einen Schritt weiter gehen und sagen: in Wahrheit verteidigen wir hier auch alle Russen. Die Ukraine verteidigt das russische Volk vor der Katastrophe, in die Putin es treibt. Vergessen Sie nie den Terror, unter dem das russische Volk leidet, sie sind unsere Verbündeten!

Zweiter Punkt: diese Idee, es nicht Krieg zu nennen, sondern spezielle Intervention … manchmal verwenden die Russen sogar den Begriff „humanitäre Intervention“ um den Frieden zu erhalten. Kommt Ihnen das nicht bekannt vor? 20:48 Hat der Westen das nicht auch jahrelang getan? Immer wieder sehr brutal interveniert, mit genau der gleichen Argumentation?

Letzter Punkt. Hier liegt die westliche Heuchelei klar auf der Hand. Putin, Kriegsverbrecher, Bombardierung von Kiew, Katastrophe. Sorry. Aber Putin – erinnern Sie sich? – hat vor ein paar Jahren Aleppo bombardieren lassen, die größte Stadt Syriens, viel brutaler als sie es jetzt in der Ukraine tun, – bis jetzt, wer weiß was noch kommt. Abgesehen von Mariupol. Aber: wo ist hier die Ausgewogenheit, wir haben damals protestiert, aber nicht so richtig ernsthaft. Jetzt ist es auf einmal ernst, und das hinterlässt einen schrecklichen Eindruck. Die Menschen in Lateinamerika, Asien, Afrika, der Dritten Welt bemerken diese europäische Heuchelei, und wir sollten auch hier den Mut aufbringen, dies nicht zu akzeptieren, dass dies ein Konflikt der Zivilisationen ist. Nochmals: wir sprechen sonst die russische Sprache, – Dugin, Sergeitsev, und all die anderen sagen dasselbe, nur genau andersherum. Sie sagen: Russland ist dieselbe Insel der Zivilisation, Europa und der amerikanische Liberalismus fallen in die totale Barbarei zurück. Ich denke, die Lehre daraus ist, dass wir unbedingt universalistisch bleiben sollen, hier würde ich sogar Jürgen Habermas und seinem Universalismus zustimmen. Deshalb bin ich für Europa, denn, was auch immer man gegen Europa sagen kann, Sklaverei, das Schreckliche, was wir in der Moderne getan haben, – diejenigen, die das Vermächtnis Europas angreifen, die Sklaverei, die Unterdrückung der Frauen, usw., tun dies aber immer in Begriffen, die aus dem Erbe der europäischen Aufklärung stammen. Die Größe Europas besteht nicht darin, dass es keine Fehler macht, sondern darin, dass es immer noch die beste Quelle für begriffliche Instrumente ist, die uns helfen, uns selbst zu kritisieren.

(Ja, Sie plädieren immer wieder dafür, die Blickrichtung zu wechseln…) 24:35

Jetzt werde ich Sie wieder überraschen – erstens: lassen Sie uns nicht in Selbstzufriedenheit verfallen. Meine Formel, die ich vor Jahren auf der Grundlage meiner eigenen Erfahrungen in Ex-Jugoslawien oder in Ruanda vertreten habe, gilt meines Erachtens überall: Sie lautet: es gibt keine ethnische Säuberung ohne Poesie. Um ethnische Säuberungen zu verstehen, sollte man einen Blick auf die Dichter, die Intellektuellen und Philosophen werfen, die den Boden dafür bereitet haben. Bei uns hier ist es der berüchtigte Karadziz, aber das ist in allen Ländern so ähnlich. Z.B. war ich schockiert, dass in Irland William Butler Yeats, den Sie vielleicht auch kennen, 1936 die sogenannten Nürnberger Rassengesetze, die die Rechte der Juden einschränkte, voll unterstützt hat.

Wieviele große Dichter waren Rassisten, Faschisten, sie haben oft genug den Weg dafür bereitet, und deshalb sollte man Künstlern nicht zu leichtfertig vertrauen. Manche leisten Großartiges, wie Paul Celan, Samuel Beckett, aber man muss immer auf der Hut sein.

Ich sage nicht, dass wir jede Liebe zu unserem Heimatland verurteilen sollen, aber was wir von wirklich großen Schriftstellern und Dichtern lernen können, will ich anhand eines Beispiels aus Russland zeigen. Der größte russische Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts Andrej Platonow, der sich mit dem Schicksal dieses geringen, heimatlosen, primitiven Volkes beschäftigt hat, das es nicht geschafft hat sich einzugliedern. Und da berkommt man ein ganz anderes Bild von Heimat. Nicht diese große, nationalstaatliche Heimat, sondern eine wunderbare kleinteilige Heimat. Ich erinnere mich an einen Baum hinter meinem Haus, ich erinnere mich, wie im Wald der Wind wehte, usw. usf. Die Linke sollte sich das alles wieder zueigen machen. Überlasst dem Feind nicht das Gebiet, dass er besetzen will. Ich gehe noch weiter:

Warum sollte die Rechte das Recht haben, über Familienwerte zu sprechen, wo der neoliberale Kapitalismus alles getan hat, um die übermäßig ausgebeuteten Frauen und Familienwerte und kleine Gemeinschaften und die Solidarität effektiv zu zerstören.

Also noch einmal: machen Sie keine Kompromisse, indem Sie das Thema dem Feind überlassen. Wenn ich also sage: „ich liebe mein Land“, bin ich nicht gleich ein Nazi. 28:00

(Unordnung überall Mao – warum Kommunismus nicht ausgeträumt)

Ich habe hier ein klare, sehr kurze Antwort. Es geht wieder um Scheinheiligkeit. Erinnern Sie sich noch an das große Treffen in Glasgow vor ein paar Monaten? Mit Prince Charles, vielen Promis, Premierministern usw. sie forderten das Richtige, globale Zusammenarbeit, allgemeine Gesundheitsversorgung, und zwar international. Die ökologische Krise ist nicht lokal beschränkt. Erinnern Sie sich, dass im letzten Sommer im Südwesten Kanadas und dem Nordwesten der Vereinigten Staaten 50 Grad herrschten. Das ist die Folge einer Störung der Luftzirkulation in allen nördlichen Teilen der Erde, hier ist also unbedingt Zusammenarbeit erforderlich. Die globale Erwärmung birgt auch die Gefahr von Hungersnöten, viele Länder sind betroffen, auf dem Treffen wurde vor allem viel geredet, und ich würde sogar sagen: insgeheim machen sich alle bewusst, dass es keine ernsthaften Konsequenzen geben würde. Was mein kommunistisches Programm angeht, ich bewundere intelligente, ehrliche Konservative, die sich der praktischen Grenzen der Machbarkeit bewusst sind. Was man zusammen mit ihnen alles erreichen kann. Versuchen wir eine Ordnung zu schaffen, deren Programm darin besteht, das zu tun, worüber die großen Medien immer sprechen. Die großen Medien sprechen über die aktuellen Gefahren auf diese zwangsneurotische Weise, man redet viel und muss nichts tun. Mein kommunistisches Programm ist also das zu tun, was wir die ganze Zeit in den Medien lesen. Pandemien können nur durch globale Zusammenarbeit zumindest in Schach gehalten werden. Wir brauchen eine Art globaler, wenn nicht Gesundheitsvorsorge, so doch zumindest Selbstkontrolle, so dass wir wissen, wie das alles zusammengeht.

Was die Ökologie betrifft, sind wir sogar – würde ich sagen – zu besessen von der globalen Erwärmung. Wir schauen zuviel nach oben, schauen wir auch nach unten: was zum Teufel geht in den Tiefen unserer Ozeane vor, das ist dann beunruhigend, und wenn das ein Regime bedeutet, das ein bisschen autoritärer ist, natürlich nicht im faschictischen Sinn, nicht in dem Sinn, dass wir eine Weltregierung bekommen sollten, das würde totale Korruption bedeuten, aber eine Art von internationalem Gremium, das souveränen Ländern verbindlich Entscheidungen auferlegen kann. Wenn wir diesen Schritt nicht machen, habe ich große Angst um unsere Zukunft. Und ich meine das sehr ernst. Ich spreche nicht von unseren Enkeln, ich spreche davon, wie es in 20 bis 30 Jahren ausgeht, wenn die gegenwärtigen Tendenzen weitergehen.

(Wenn Sie, die uns hier zuschauen, Slavoj Zizeks neues Buch : Slavoj, hätten Sie denn noch eine Buchempfehlung? )

Ich tue etwas Paradoxes und lege Ihnen ein Buch ans Herz, dessen Grundthese ich nicht teile, das aber eine wunderbare alternative Sicht auf die Geschichte vermittelt, es handelt sich um David Graebers und David Wengrows Buch „The Dawn of Everything“, in der deutschen Übersetzung „Anfänge“. Es ist eine Art alternative Geschichte, die mit dem Mythos aufräumt, die übrigens auch der marxistische Mythos ist, dass die Ausbeutung der Frauen und das Patriarchat automatisch mit der Entstehung von Staaten begonnen hätten. Den großen Übergang zu Siedlungen und ortsgebundener Landwirtschaft, und sie beweisen das ziemlich überzeugend. Ein Beispiel ist das Inkareich, ein Aspekt dieses Reiches waren Kinderopfer, Autorität, ein anderer Aspekt war eine außergewöhnliche Form gleichberechtigter Zusammenarbeit. Ich glaube nicht, dass wir heute etwas direkt Vergleichbares tun können, aber deshalb mag ich alternatives Science Fiction, das ist die Lektion, die ich von Hegel gelernt habe. Deshalb hat Hegel verboten, Pläne für die Zukunft zu machen. Es ist gut, sich vor Augen zu halten, dass, wenn etwas passiert, es immer andere Möglichkeiten gibt, und dass die Dinge auch eine andere Wendung hätten nehmen können. Die Notwendigkeit ist immer eine rückwirkende Notwendigkeit. Wir können nur einen einigermaßen logischen Überblick darüber geben, wie es den Menschen bisher ergangen ist. Die Zukunft ist offen. Und dieses Buch gibt Ihnen das Gefühl dafür.

Verlag Klett-Cotta (s.a. hier)

(Ich stelle nochmal eine Frage…Sachbuchempfehlung WBG?)

Ich habe eine traurige Empfehlung, ich mag diese absolut pessimistischen Bücher, die eine Alternative aufzeigen, und dann darstellen, wie wir bei einem Versuch, eine Katastrophe zu vermeiden, die Welt noch verschlimmern würden. Z.B. gibt es ein Buch von Steven Fry, dem britischen Schauspieler, „Geschichte machen“ – „Making History“ , kein großartiges Buch, aber die Idee gefällt mir. Ein jüdischer Wissenschaftler erfindet nach dem Zweiten Welktkrieg eine Möglichkeit, wie man die Vergangenheit ein wenig modifizieren, also nicht komplett verändern kann. Da Hitler die Katastrophe war, führte er rückwirkend Chemikalien in den Bach des Dorfes ein, in dem Hitler geboren wurde. So dass in den Jahren, in denen Hitler hätte geboren werden sollen, alle Frauen dort unfruchtbar waren. Dadurch wird Hitler also nicht geboren. Was passiert? Die Nazis tauchen trotzdem auf, aber ein anderer, viel intelligenterer Kerl, der sich in Atomphysik auskennt, übernimmt die Führung. Deutschland entwickelt als erstes Land Atomwaffen, und Deutschland siegt. Und so widmet er, der heutige Wissenschaftler, sein ganzes Leben der Aufgabe, Hitler nachträglich zurückzubringen. Dieser radikale Pessimismus gibt meine Sicht auf das Leben wieder. (lacht)

(Wonderful! Vielen Dank )

(Satz in deutsch) Und es war mir eine grroße Ähre für mich und eh… eine Sache tut mir aber leid, es wirkt so etwas männlich-chauvinistisch, warum sollten Sie nur ein Medium sein, es hätte mich gefreut, wenn Sie sich etwas mehr beteiligt hätten. Sonst wird man mir männlichen Chauvinismus und sexuelle Objektivierung vorwerfen. Aber Sie sind der lebende Beweis dafür, dass intelligente Frauen nicht hässlich sein müssen. (Lachen auf beiden Seiten)

Und so wäre es schön, vielleicht ein anderes Mal darüber zu sprechen, damit ich auch Ihre Sicht der Dinge kennenlerne.

(Mod. Abschließend: Wenn Sie Fragen dazu haben, Anregungen, Kritik – was sagen Sie dazu?) 38:22

Nachwort JR: die letzten Sätze gehen leider ziemlich nach hinten los, – im Gespräch mit einer weiblichen Person anerkennende Worte über ihr Aussehen zu verlieren, zumal das Phänomen des männlichen Chauvinismus etc. ja gerade kritisch benannt wurde. Das geht gar nicht. – Ich schließe aber eine ironische Absicht nicht aus…

Die Andeutung der Geschichte von Steven Fry bleibt am Ende völlig unverständlich, daher der Link zum Nachlesen, – obwohl die echte Version auch nicht soviel erhellender ist.

Die Sequenz über den Traum (oben im Moderationstext) bezieht sich wohl auf Tschuangtse (Schmetterling); ich empfehle eine Orientierung hier.

Zur Ablenkung notiere ich, was ich gerade im Fernsehen bemerkenswert fand (und was mich an die obigen Bemerkungen über Heimat erinnerte): unser Europa. Schauen Sie in terra X HIER  Meilensteine der Kontinental-Geschichte Europas ab etwa hier bei 28:35 (!).

ZITAT Gunther Hirschfelder, Anthropologe der Universität Regensburg:

Wir haben lange geglaubt, diese Regionen werden mal in den Nationen aufgehen. Heute wissen wir aber, dass Nationen durch Regionen konstituiert werden, und dass der Mensch, der in einer Region lebt, eine regionale Identität braucht, aber nicht unbedingt eine nationale.

siehe Link

Zurück zu Slavoj Žižek, aber in konsistenterer Darstellung,

aus der SFR-Reihe Kultur Sternstunden 30.05.2022 mit Yves Bossart

Alte Gedichte, wiedererweckt

Verstehen Sie das?

Der Scheidende

Erstorben ist in meiner Brust

Jedwede weltlich eitle Lust,

Schier ist mir auch erstorben drin

Der Haß des Schlechten, sogar der Sinn

Für eigne wie für fremde Not –

Und in mir lebt nur noch der Tod!

Der Vorhang fällt, das Stück ist aus,

Und gähnend wandelt jetzt nach Haus

Mein liebes deutsches Publikum,

Die guten Leutchen sind nicht dumm,

Das speist jetzt ganz vergnügt zu Nacht,

Und trinkt sein Schöppchen, singt und lacht –

Er hatte recht, der edle Heros,

Der weiland sprach im Buch Homeros‘:

Der kleinste lebendige Philister

Zu Stukkert am Neckar, viel glücklicher ist er

Als ich, der Pelide, der tote Held,

Der Schattenfürst in der Unterwelt.

*     *     *

Verstehen Sie das?

( Eins der letzten Gedichte von Heinrich Heine)

Ein anderes Gedicht, das mich jetzt beschäftigte, stammt von Eduard Mörike, den ich früher eigentlich nur durch die Vertonungen von Hugo Wolf ernstnahm. Dieses aber befremdete mich trotz des verlockenden Gegenstandes, den ich in der realen Umwelt überall mit Sympathie betrachte. Die schöne Buche. Zum Beispiel hier (an der Villa Zefyros):

Es war wohl die schiere Größe und die reiche Verzweigung…

Jedenfalls glaubte ich, es sei mein Thema, wenn in dem Buch der kleinen Deutungen („Wörterleuchten“) ausgerechnet Mörike das Thema anschlägt. „Die schöne Buche“. Und mich spüren lässt, dass ich nicht wahrnehme, was er meint. Es ist keine bloße Idylle, wie ich sie ihm zugetraut hätte. Ich höre das Gedicht gern in der folgenden Wiedergabe, obwohl dieses lyrische Ich wohl keine weibliche Stimme verlangt… Vorurteil. Rosel Zech. Hören Sie in größter Ruhe:

HIER.

Was ist? Warum ergreift mich nichts? Kein Wort, kein Satz, kein Tonfall. Aber jeder Blick in den Wald oder zur Buche hinauf. Und dann der gedruckte Text der Erklärung in jedem Punkt: die Vorstellung vom gescheiterten Pastor, dem Versager als Ehemann und Liebhaber, die Nachricht von seinem Sturz ins eigene Innere,  »als versänke ich tief in mich selbst, wie in einen Abgrund, als schwindelte ich, von Tiefe zu Tiefe stürzend«. Und ausgerechnet er hat immer den »Don Giovanni« im Ohr, seine Lebensmusik. Nur selten, so lese ich, wird in seinen Versen die ganze Wahrheit hörbar: »O Zeit, blutsaugendes Gespenst! / Hast du mich endlich satt? so ekel satt, / Wie ich dich habe!«  Plötzlich verstehe ich ihn, ein Mitleid, wie wenn ich Beethovens erschütternden Brief an die junge Maximiliane gelesen habe: wenn er sich Mut macht, weil die ZEIT so unerbittlich vergeht, und davon handelt seine Sonate op. 109. Und sie macht dann Mut auf unerklärliche Weise. – Ich zitiere, nun wieder zu Mörikes Erlebnis im tiefsten Waldesdickicht:

Das muss man wissen, wenn man den Ort betritt, von dem »Die schöne Buche« handelt. Es ist ein magischer Ort, der andere Ort. Wer ihn betritt wird verwandelt. Er wird dahin gelockt, wird »eingeführt« wie in ein Mysterium. (…)

Die Buche ist die Achse der Welt. Um sie sind die vier Kreise gezogen: des Geästes, des Schattens, des Sonnenrings, des Waldrands. Hier ist alles im Lot, nichts in der Trennung.

Oder wenn ich diesem Ernst, dieser Emphase gerade ausweichen will, ohne Buch, ohne Buche, in einer eher prosaischen Situation (am Frühstückstisch):

Anzeige vom 31.08.22

Finden Sie den falschen Buchstaben!

Ja, richtig, dieses Gedichtlein hat nichts mit dem finnischen Komponisten Sibelius zu tun, der sich ja auch seines reizenden Vornamens Jan entledigt hat, nicht etwa um sich Angelus zu nennen, er war mit einer leicht französischen Tönung desselben Namens zufrieden: Jean. Wozu auch sein berühmtestes Kurzwerk gut passt, „Valse triste“, und nicht minder zu der Todesanzeige, auf die ich unversehens im Solinger Tageblatt stieß. Halten wir dem Verstorbenen zuliebe einen Moment inne: und siehe, uns wundert, dass wir plötzlich traurig sind.

Kein realer Grund zur Trauer – ABER: bis vor wenigen Tagen hätte ich nicht gedacht, dass mein winziges Lieblingsgedicht, das gerade dank seiner immanenten Unlogik einen seltsamen Trost spendet, leider auch nicht von Angelus Silesius stammt, was man ja immer wieder gedruckt sieht. Freund Berthold brachte mich auf einen Namen, den ich nie im Leben gehört habe, und ich bin froh, dass noch Zeit ist umzudenken, Wikipedia kann es richten: Martinus von Biberach. Und wie schön, auf diesem Weg zu erfahren, dass Luther dessen Sinnspruch nicht leiden konnte. Es war ja die Zeit, wo die wahren Christen noch alles besser wussten, auch wo sie wenig verstanden…

Übrigens ist die Crux der Lyrik heute nicht, dass in der Schule nichts mehr auswendig gelernt wird. Man muss darüberhinaus begriffen haben, dass ein Gedicht sich kaum auf Anhieb erschließt. Es ist kurzsichtig zu erwarten, dass eine derartig komprimierte und verschlüsselte Sprache funktioniert wie ein Gespräch unter Freunden. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen, als ich den Hinweis las, dass eine der geläufigsten Balladen überhaupt, Heinrich Heines „Belsatzar“ , – Sie wissen: wo an der Wand die Flammenschrift erscheint – , vielleicht deshalb so berühmt geworden ist, weil die Lehrer (!) sich selbst und ihre prekäre Situation darin wiederfanden: „Was für den sensiblen Erzieher aber die Assoziation zwischen dem babylonischen Gelage und einem tobenden Schulzimmer endgültig zwingend macht, ist die Schrift an der Wand. Wunderbar, wie hier des Lehrers eigenstes Medium zur Apotheose findet. Die Tafel an der Wand, auf die er selbst täglich die Wahrheit in hellen Zeichen setzt, an der von seiner Hand erscheint, was gilt und Gesetz ist und notfalls ein Strafmaß festhält, sie wird zum numinosen Ort verklärt, vor dem der lärmende Troß verstummt und dem totenblassen Rädelsführer die frevlen Knie schlottern. Das kann man wirklich nur noch auswendig lernen lassen.“

Ich werde den Namen des Gedicht-Deuters erst später nennen und empfehlen. Aber aufgepasst bei eigenen Deutungsversuchen: es ist nicht der Lehrer, der am Ende umgebracht wird, sondern der Rädelsführer, der König der Untertanen.

Das oben wiedergegebene späte Gedicht Heines lebt von den letzten Zeilen, deren Anspielung man verstehen muss: der Pelide ist der große Held Achill, dessen Zorn das ganze Drama der Ilias auslöst, und der in dem anderen großen Homerischen Epos, der Odyssee, als „Schattenfürst in der Unterwelt“ wiederkehrt. Beziehungsweise von Odysseus besucht wird. Und nun müssen Sie nur noch wissen, wie der Dichter von dort auf „Stukkert“ kommt, wo man angeblich viel glücklicher ist. Reine Ironie. Kannte er etwa auch Bad Cannstatt, wo mich einst die Straßenbahn unverhofft mit Lyrik konfrontierte, als gehöre sie dort zum Alltag? Schauen Sie doch nur hier.

Zu erwähnen wäre noch, dass Homer in „unserer“ klassischen Zeit weithin präsent war. Beethovens bevorzugte Schriftsteller waren Goethe, Schiller, Homer, wobei er bedauerte, dass er letzteren nur in Übersetzung lesen konnte. Gut, – und wir haben heute das Internet. Wollen Sie mal eben in der Odyssee nachlesen, wie das Gespräch mit dem Peliden Achilles in der Unterwelt wortwörtlich überliefert ist? Notfalls sogar in Alt-Griechisch? Nichts leichter als das: HIER Vers 475 bis 491.

Was ich hier versuche, ist keine Gedicht-Interpretation. Vielmehr versuche ich im Zusammenhang mit einer Lektüre etwas für mich festzuhalten, was vielleicht auch andere interessiert und was man dann leicht wiederfinden kann (indem mann die Suchfunktion oben im Fensterchen betätigt). Die hervorragende Gedicht-Interpretation selbst kann ich ja leicht in meinem Bücherschrank wiederfinden, und dem „Fremdleser“ will ich nicht unbedingt jede Eigentätigkeit ersparen, sondern ihn eher verführen, sich diese Quelle auch zu erschließen. Dazu werden Bücher gedruckt. Immer noch. Dies ist nur ein Beispiel:

Quelle Peter von Matt: Wörterleuchten / Kleine Deutungen deutscher Gedichte / dtv  Deutscher Taschenbuch Verlag 2.Auflage 2012 / ISBN 978-3-423-34665-8 (Hanser 2009)

Es ist eine Auswahl seltener (oder jedenfalls z.T. recht unbekannter) Gedichte, die es zu erschließen lohnt, vor allem auch mit Hilfe der kongenialen Deutungen, die in sich als sprachliche Kunstwerke gelten können. Ich gebe nur einen Teil des Inhaltverzeichnisses wieder, vier von sechs Seiten. Prüfen Sie doch, was Sie schon kennen…  Ich liebe inzwischen besonders das hier erst entdeckte Gedicht Mörikes von der schönen Buche. Aber nie hätte ich seine Bedeutung im Gesamtwerk des Dichters erkannt, wenn ich es nicht hier, ganz in der Nähe Heines, erläutert gefunden hätte. Erst da begann ich zu denken. Und sehe auch die Buche vor meiner Haustür mit anderen Augen.

Etwas liegt mir noch auf der Seele: Walter Jens – woher hatte er den Satz: „Nichts Schöneres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein.“ Ich weiß, dass er ihn in einem Fernseh-Interview gesagt hat. Vermutlich auf die Frage, was er – als Christ – sich nach dem Tode erwarte. Resignation? Man kommt per Google auf Ingeborg Bachmann. Es könnte auch als Motto am Anfang des Buches stehen, das sein Sohn Tilman Jens 2009 geschrieben hat. (Ich möchte darin nicht suchen, etwa in der Hoffnung, dass der Satz doch ein typisches Zitat aus dem Repertoire des klassischen Altphilologen sei, zu finden in seinem Homer.) Der Titel aber ist: DEMENZ.

Hier wo ich sitze, hört man leise die Glocken von St.Joseph in Ohligs, es geht auf Mittag. – „Allerseelen“ – 1. November 2022. Vom Friedhof dort stammt dieses Foto einer schattenspendenden, mächtigen Buche; die andere aber, neben dem weißen Haus, hütet mein Arbeitszimmer. Das mit dem schmalen hohen Fenster und der weißen Gardine, die am leicht verdunkelten Schreibtisch doch noch die Sonne ahnen lässt (3. Mai 2022):

 

„Nichts Schöneres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein.“

P.S. Endlich, heute, am 13.11.2022, erinnere ich mich: ich hätte bei mir selbst recherchieren können. Die gleichen Wege gehen wie damals, – aber es ist ja noch gar nicht lange her, soll ich erschrecken? 31.1.22 – hier.

The Queen’s Piper

… eine Frage zur Intonation

Die Queen hat mich schon bewegt, als ich erste kompositorische Gehversuche unternahm und zugleich auf der letzten Seite eines Tagebuchs alles notierte, was ich im Jahr 1953 irgendwie global bemerkenswert fand. Mount Everest, o.k., aber – Berija gestürzt? Den Namen musste ich jetzt nachschlagen. Weltbewegend: Erster Schnee in Bielefeld: 19.12.53, auch das ist für immer festgehalten…

2. Juni 53, jetzt sah ich im Fernsehen das Foto wieder, das sich mir damals eingeprägt hat. Und nahher las ich in der ZEIT:

DIE ZEIT 22.9.22 Seite 52 Vom Diesseits ins Jenseits Der Abschied von Queen Elizabeth II war mehr als ein Event: Großes Trostritual und Inszenierung von Ewigkeit.

Es war im Urlaub, als der Fernsehapparat lief, ja, und ich habe beim Lesen auch aufgeschaut, als diese ergreifende Melodie erklang, ich sah die Menschenmenge und dachte: Stört denn niemanden die fremde Klangfarbe, die abweichende Tonfolge, wird hier nicht die Frage gestellt, die ich so oft gehört habe, wenn es z.B. um arabische Musik ging, hältst Du das aus, das ist doch „schief“. Vielleicht glaubt man hier, wenn es eindeutig um Trauer geht, das muss so sein!? Und jetzt frage ich mich auch: wie erklärt man diese Intonation? In der Kirche! Doch nicht mit der Naturtonreihe, wenn selbst die Oktave des Grundtons und die Quint „abweichen“! Bloß keine taktlose Bemerkung jetzt!

Ich muss nicht über meine Gefühle reden. Es beginnt mich ernsthaft zu interessieren. Ich sollte der Frage nachgehen, sobald ich Zeit und Ruhe dafür habe.

Die oben angedeutete Fragwürdigkeit der Intonation hat gewiss einen guten Grund, und tatsächlich findet die Diskussion zum ersten Mal statt. Die folgende z.B. stammt aus 2013 und ist hier – wie andere interessante Themen – im Original nachzulesen. Ober-Titel: Why are bagpipes out of tune?

  

Des weiteren suche ich Rat in folgendem Artikel:

The Pitch and Scale of the Great Highland Bagpipe

https://publish.uwo.ca/~emacphe3/pipes/acoustics/pipescale.html HIER

Auf diesen Wegen, die noch genauer zu analysieren wäre, fand ich auch die beiden folgenden Beispiele:

Und noch einmal zum Abschied von der Queen:

Nachtrag 7. Januar 2023 Ich hatte nicht gedacht, dass ich noch einmal auf dieses Thema zurückkommen würde, da bringt die Post das neue Heft von Musik & Ästhetik, darin die fesselnde Kolumne von Christiane Tewinkel, die das Thema – als Beethoventhema –  von einer anderen Seite aufrollt. Gehen Sie im folgenden Ausschnitt auf 13:10 und hören Sie (sagen wir bis 16:50). Kennen Sie das Stück? Hätten Sie es damals im Gesamtablauf beachtet?

Die Vorlage:

in Beethovens Klaviersonate op.26

Ist das legitim als Prozessionsmusik? Warum nicht??? Es ist historisch abgesichert. Beethoven selbst hat den Anfang gemacht… Christine Tewinkel erwähnt aber auch die berühmte Melodie „Sleep, dearie, sleep“. Leicht zu lernen? Ist es als Melodie überhaupt ernstzunehmen. Versuchen Sie nur, die Töne wiedererkennen: hier.

Quelle Christiane Tewinkel: Bierzelt und Beisetzung (Kolumne) / in: Musik & Ästhetik 1/2023 S.72-73

Wo steckt denn die „romantische Sehnsucht“? Könnte es nicht auch jede andere Pipe-Tonreihe sein? Ganz anders als im Fall der Beethovenschen Marcia:

Quelle Peter Andraschke: Klaviersonate op.26 / in: Beethoven Interpretationen seiner Werke / Herausgegeben von Albrecht Riethmüller, Carl Dahlhaus, Alexander L. Ringer /

Aber dies ist erst der Anfang des Nachdenkens. Wenn man zum Beispiel reflektiert, dass der Satz schon in Beethovens Sonate dem Interpreten unlösbare (ästhetische) Probleme stellt, die im öffentlichen Raum – flapsig ausgedrückt – wie weggeblasen sind. Die öffentliche Trauer wird auf zahllose Schultern verteilt und im Schritttempo rituell bewältigt…