Archiv des Autors: JR

Darf man einen unschönen Menschen beschreiben?

Beispiel Thomas Mann und Adele Schopenhauer

Keine Chance für die nachträgliche Durchsetzung von „political correctness“. Aber ein Königsweg, aufmerksamer zu lesen . . .

aus: Lotte in Weimar s.a. hier

… und Caroline von Egloffstein – hier. Erwähnt von Adele Sch. auf Seite 117

Adele Schopenhauer in einem Porträt von Alexander von Sternberg aus dem Jahre 1841 (Wikipedia)

Und wie beschrieb sie selbst die Frauen?

Hier  (Orig.1845, alte Ausgabe) Hier (neue Ausgabe 1845)

Text aus „Anna. Ein Roman aus der nächsten Vergangenheit“ (neuer Nachdruck):

Josephine hatte ihren Gatten sehr lieb; sie hatte den viel älteren Mann aus Enthusiasmus geheirathet. Wenn man jetzt die anmuthig gelassene Erscheinung in der Färbung sah, die ihr mannichfaches Erfahren, Zeitenwechsel und ganz aristokratische Gewöhnungen gegeben, konnte man sich gerade in ihr keine solche Aufregung möglich denken. Auch war sie deren nur noch im tiefsten Herzen fähig, und diese sehr seltenen inneren Erschütterungen der Seele nahmen immer eine so bestimmte äußere Form des Handelns an, daß man kaum umhin konnte, sie für Früchte einer großen Besonnenheit zu halten. Und eine solche Frucht der ihr ganzes Wesen durchzitternden Angst um Waldau war die Art und Weise, mit der die noch an der Jugendgrenze stehende Frau es möglich machte, sich dem allgemein lastenden Druck zu entziehen und um sich und ihren Gatten eine Gesellschaftsoase zu bilden, die ihm äußere Sicherheit und das geistige Lebenselement bot, von dem die Erhaltung körper- und gemüthskranker Menschen weit öfterer abhängt, als wir es uns eingestehen mögen.
Umsonst umgibt uns der weite Wesenkreis der auf unsere Geistesfragen ringsum antwortenden Natur mit analogen äußern, die inneren Erscheinungen unsers Lebens rückspiegelnden Erfahrungen; wir beachten sie nicht. Die Lösung so mancher quälenden Verworrenheit liegt in Riesenhieroglyphenschrift um uns her gebreitet; aber wir wenden unser Auge ab. Der Cappflanze geben wir mit stets erneuter Fürsorge die ihr zusagende Erde; wir stellen sogar die Gewächse zu einander, deren Odem eine verwandte Atmosphäre um sie her bildet, ängstlich entfernen wir die fremdartigen, denen vielleicht gerade diese Ausströmung gefährlich werden könnte – nur den Menschen, die edelste Blüte der Schöpfung, stoßen wir kalt in eine ihn erdrückende, seinen besten Eigenschaften fremde Umgebung! Wir knicken die zarten Keime seines angebornen Empfindens und dann fodern wir eine Entwickelung von ihm, die kaum das günstigste Verhältniß zu sichern vermocht hätte. Zum Glück gibt es Frauen, die allenthalben instinctmäßig das Amt der Pflegerinnen übernehmen. Wie man zuweilen Kinder eine Blume an die Lippen drücken und gleich darauf ein runzliches, altes Muhmengesicht mit gleicher Inbrunst herzen sieht, als leuchte dem frischen jungen Blick das Göttliche durch jede Hülle zu; eben so unbewußt verleihen jene edeln weiblichen Naturen der schwankenden Ranke den Stab, dem wankenden Schritt den Arm, dem zagenden wie dem erstarrenden Herzen die Umgebung, deren es zum Genesen bedarf!
Und eine solche geborene Soeur grise alles Lebens war Josephine. Waldau hätte ohne sie das Dasein nicht zu ertragen vermocht. Sie wußte ihn von einem Tage zum andern hinzuhalten und durch stete Theilnahme und stets erneutes Interesse zu hindern, daß ihn diese Mitteltemperatur der Existenz, die so plötzliche Unthätigkeit, nicht vernichte. Was damals Weimar an ungewöhnlich begabten Männern und anmuthigen Frauen in sich schloß, das verstand Josephine um sich und Waldau herzuziehen, das Störende suchte sie mehr und mehr zu entfernen, und ihr Haus ward bald mitten im Drang der drückenden Zeitumstände zum Sammelplatz aller wissenschaftlich Gebildeten und Künstler.

(Fortsetzung folgt)

ZEN als Verwandlung

Sehr alte Geschichten

Einerseits will ich nicht meine frühe 1960er-Zeit aufwärmen, mit den damals verschlungenen Werken von Alan W. Watts über Zen-Buddhismus (rde) und „Mann und Frau“ (Dumont), andererseits endet der Anreiz von Zen auch heute nicht, wenn ausgewiesene Denker dahinterstehen und ihn in ihre Philosophie einschließen, wie Byung-Chul Han, der im westlichen „System“ gleichermaßen zu Hause ist.

Als ich 2008 auf dem durchaus westlichen Wege Rüdiger Safranki las, seine bewunderswert ausführliche Antwort auf die Frage „Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?“, freute ich mich über eine mir aus der „asiatischen Philosophie“ bekannte Geschichte, mit der er ein chinesisches Bild vor Augen führte. Oder gerade nicht vor Augen: nach wie vor war es mir einfach genug, von dem Bild nur zu hören.

Rüdiger Safranski

Woher er die Geschichte hatte, blieb also im Dunklen. Jetzt – plötzlich und unerwartet – wurde ich auf diesen Seitenweg zurückgeführt: durch die Klinik-Lektüre des Reclam-Büchleins von Byung-Chul Han! Darüberhinaus gemahnt an die Aufführung eines japanischen Noh-Spiels in der Kölner Philharmonie, und – Koinzidenz der Erinnerungsphänomene – durch die Mail eines getreuen WDR-Mitarbeiters, der gerade eine Gedenksendung anderer Thematik im WDR gehört hatte. Er hat selbst zum Thema Japan ungezählte luzide Radio-Sendungen gemacht, die – nicht nur – meinen Horizont erweiterten, auch den eines spezifisch interessierten Publikums, und so die Neugier auf ferne Welten weckten oder wachhielten. Und nun war alles wieder da! Ich las:

in das gemalte Bild hinein«.

Ich las also Byung-Chul Han’s „Philosophie des Zen-Buddhismus“ und darin den Hinweis auf das chinesische Bild (oder ein anderes, ähnliches) und die Wendung zum japanischen Noh-Spiel.

Ein Kreis war geschlossen. Zufällig mein letztes Jahr im WDR, ein Abend des Jahres 2005. Die unglaubliche Atmosphäre in der Kölner Philharmonie, die (nicht einmal) knisternde Stille, ein hörbares Nichts, ein atemloses Publikum, so hatte ich das noch nie erlebt (ausgenommen vielleicht in wenigen Quartett-Konzerten). Alldies mochte ich evozieren und durch Wissen vertiefen. Anhand eines einzigen großen Stückes IZUTSU und eines instruktiven Filmes, den das WDR-Fernsehen (Lothar Mattner) im Vorfeld produziert und gesendet hat. Hier ist er:

Heinz-Dieter Reese im Nachspann

Mehr über den Autor des Filmes Thomas Schmelzer hier. Mystica TV (?). Zur Diskussion…

https://de.wikipedia.org/wiki/Izutsu_(N%C5%8D) hier (Wikipedia über das Noh-Stück „Izutsu“)

https://www.youtube.com/@nohtheatreexplained8410 hier (Übersicht über die Reihe, in der das folgende Stück vorkommt)

Folgt: die Aufführung in der Kölner Philharmonie (Informelle Aufzeichnung, copyright-geschützt)

Weitere Daten zur Aufführung in Köln von Heinz-Dieter Reese:

Phil-Ankundigung  28|10 Freitag 20:00 Uhr
Zwischen Traum und Wirklichkeit
Japanisches Nô-Theater mit dem Ensemble
der UMEWAKA KENNÔKAI FOUNDATION

NohPRGHEFT  Freitag 28. Oktober 2005 20:00
Die Aufführung wird vom Westdeutschen Rundfunk für den
Hörfunk aufgezeichnet und am Sonntag, 12. Februar 2006,
20:05 Uhr auf WDR3 gesendet.

WDR3Buehne Radio06-02-12   Bühne: Radio 12.02.2006
Konnichi wa, Japan
Zwischen Traum und Wirklichkeit:
Nô- und Kyôgen-Theater mit dem Ensemble der Umewaka Kennôkai
Aufnahme vom 28. Oktober 2005 aus der Kölner Philharmonie
vorgestellt von Heinz-Dieter Reese

Die Realisation im Radio

Zugang zum Skript der Radiosendung von Heinz-Dieter Reese, mit der freundlichen Erlaubnis des Autors:

NO Reese WDR3BR120206_Ms

„In Japan wird das Singen im Nô-Theater gelegentlich mit unaru, mit Brummen bezeichnet. Dem liegt eine durchaus zutreffende Beobachtung zugrunde. Der Nô-Sänger achtet bei seinem Vortrag darauf, dass die komplexen Obertöne der Stimme im gesamten Körper resonieren. Dadurch wird die simple Melodik durch vielfältige Klangfarben bereichert. Es entstehen klare, helle Töne, dann wieder getrübte, dunkle Töne, die bald kräftig, bald weich erscheinen. So werden die szenische Atmosphäre, aber auch die verborgenen Gedanken und Gefühle der Figuren zum Ausdruck gebracht. Und das gilt für den Solo wie den Chorgesang.“

Mail-Mitteilung (15.11.2023) Heinz-Dieter Reese:

Zum Noh-Spiel  “Izutsu” finden Sie auf meinem Kanal auch noch eine historische und eindrucksvolle professionelle Aufnahme (des NHK) mit dem legendären KANZE Hisao aus den 1970er Jahren, die ich komplett deutsch untertitelt habe:

https://youtu.be/LCtxXKYD96M  hier

*     *     *

Zurück zu Byung-Chul Han, anknüpfend an seine Bemerkungen zur chinesischen Landschaft:

https://de.wikipedia.org/wiki/Chinesische_Malerei hier

https://www.wikidata.org/wiki/Q11638255  hier Wer ist Kōichi Tsujimura? (s.u. pdf)

https://terebess.hu/zen/mesterek/TsujimuraKoichi.html  hier

https://en.wikipedia.org/wiki/Henry_Pike_Bowie  hier

Henry Pike Bowie’s Werk „ON THE LAWS OF JAPANESE PAINTING“ (1911) Gutenberg hier

https://leopard.tu-braunschweig.de/servlets/MCRFileNodeServlet/dbbs_derivate_00031277/Tsujimura_Yue-chiens_Landschaftsbild.pdf hier / Zitat:

Wie geht der griechische Dudelsack?

aus dem Film:

https://www.arte.tv/de/videos/099704-000-A/dudelsaecke-musik-und-klaenge-der-aegaeis/ hier

Arte-Text

Dudelsäcke, Musik und Klänge der Ägäis

Der Dudelsack ist als fester Bestandteil der Folklore Südosteuropas in Albanien, Nordmazedonien, Bulgarien und Griechenland, aber auch in der Türkei anzutreffen. Dem leidenschaftlichen Engagement einer Gruppe von Dudelsack-Liebhabern ist zu verdanken, dass die alten Traditionen bewahrt werden …

Der Dudelsack alias Askavlos [alias Tsambouna] begleitet von jeher bäuerliche Feste und Tänze. Das traditionelle Instrument wird allein oder mit Schlagzeugen und Lauten kombiniert gespielt und ist als fester Bestandteil der Folklore Südosteuropas in Albanien, Nordmazedonien, Bulgarien und Griechenland, aber auch in der Türkei anzutreffen. Dem leidenschaftlichen Engagement einer Gruppe von Dudelsack-Liebhabern ist zu verdanken, dass die alten Traditionen bewahrt werden und heute neue Ausprägungen in der zeitgenössischen Musikszene Griechenlands finden.
Von den kleinen Inseldörfern in der Ägäis bis in die Konzertsäle der modernen Städte macht der Film mit dieser mündlich überlieferten Tradition, die sich über Jahrhunderte erhalten hat und heute ein großes Comeback erlebt, bekannt. Festivals wie auf Santorini, Naxos oder Ikaria ziehen jüngere Menschen an, und der Asklavos (s.o.) hat nicht nur in Griechenland, sondern in der ganzen Welt viele begeisterte Anhänger.

Regie: Yorgos Arvanitis 2020

Wikipedia Tsambouna hier

Zitat daraus:

Um die Melodie rhythmisch zu gestalten, werden Vorschläge und Triller ausgeführt. Die Grifflöcher der parallelen Spielpfeifen werden jeweils von demselben Finger abgedeckt. Da die beiden Spielrohre nicht völlig identisch gestimmt sind, entstehen Schwebungen, die den Ton verstärken und die für die tsambouna charakteristisch sind.

Dieses Schwebungsprinzip (auch Schwebungsdiafonie) ist eine besondere Form der Mehrstimmigkeit auf dem Balkan, wie sie zum Beispiel in Südalbanien als Iso-Polyphonie bekannt ist. Nur auf der Insel Karpathos gibt es einen zweistimmigen diafonen Gesang der Frauen, der sich aus der Nachahmung der tsambouna-Doppelpfeifen entwickelt hat. Ähnliche schwebende Klänge produzieren die dalmatinische Doppelflöte dvojnice (auch als diple bezeichnet) und das Balkan-Doppelrohrblattinstrument sopila.[1]

Rudolf M. Brandl: Die „Schwebungsdiafonie“ im Epiros und verwandte Stile im Lichte der Psychoakustik. In: Rüdiger Schumacher (Hrsg.): Von der Vielfalt musikalischer Kultur. Festschrift für Josef Kuckertz. Zur Vollendung des 60. Lebensjahres. (Wort und Musik. Salzburger Akademische Beiträge) Ursula Müller-Speiser, Anif/Salzburg 1992, S. 57

Brandl a.a.O.

Heidberger Sonntagsrundgang

Herbstgeäst und Wurzelwerk

Wo befinden wir uns? Der Bach, der von oben kommt und rechts in Richtung Itter fließt und flieht, heißt Haaner Bach oder Becher Beek. Er wird hier beschrieben, auch mit der Itter dort . Diese befindet sich, wie wir, auf dem Weg nach Casparsbroich, wir kehren um. Die Heidberger Mühle war unser heimliches Ziel.

Wurzelwerk

Parkplatz

Dasselbe Auto (wir sprachen davon) auf der Rückfahrt von Weimar nach SG 18.10 2009:

Glück gehabt

Nachlese zum „Universalismus“

Bezogen auf den Versuch hier (und vielleicht hier)

Dank einer Anregung durch Daniel Martin Feige auf Facebook komme ich auf diesen lesenwerten Essay:

Der Universalismus der Aufklärung trotz postkolonialer Abgesänge von Arnd Pollmann

(…) Auf Seiten vieler politisch „links“ stehender Menschen herrscht seit den schockierenden Massakern vom 7. Oktober nicht bloß unschlüssiges oder betretenes Schweigen. Spätestens seit der letzten Documenta drängt sich der ungute und in diesen Tage dann auch heftig diskutierte Verdacht auf, nicht wenige Befürworter:innen postkolonialer Herrschaftskritik könnten ein allzu sympathetisches Verhältnis zu israelkritischen oder sogar direkt antisemitischen Organisationen hegen. Und bisweilen ist gar so etwas wie ein postkoloniales Liebäugeln mit dem palästinensischen Terror zu vernehmen. Zugleich richtet sich Sarasins Kritik ( siehe hier JR) gegen einen israelisch-deutschen Kantianer, der selbst nicht recht in die üblichen Schubladen passt. Als „Universalist“ ist Boehm (siehe hier JR) nicht nur ein erklärter Gegner postkolonialer Relativierungen. Eben dieser Universalismus führt ihn auch zu einer vehementen Kritik der israelischen Besatzung; was ihn in der Öffentlichkeit beinahe allseitig zur Zielscheibe macht.

Die Würde aller Menschen

In Boehms zuvor erschienen Buch Israel – eine Utopie (2020) hat dieser sich sowohl gegen die sogenannte Zwei-Staaten-Lösung als auch gegen die Idee eines jüdischen Einheitsstaates gewendet und stattdessen für die Utopie einer „Republik Haifa“ argumentiert; für eine föderale, binationale Demokratie, die insofern auf der Idee „universeller Menschenwürde“ fußen würde, als dort die prinzipielle Gleichberechtigung aller Menschen – in diesem Fall: Juden wir (wie) Araber – garantiert wäre. Ein solcher Staat käme laut Boehm allerdings erst dann in Sicht, wenn die jüdische Besatzung als Besatzung ein Ende hätte: „Wo der Begriff des Rechts von der Würde und Gleichheit aller Menschen abgeschnitten wurde, ist sein Anspruch auf Autorität von innen heraus zersetzt“.

(weiterlesen hier)

Exkurse zu den Universalien: s.a. hier und z.B. in der Ethnologie bei Kohl und Antweiler

Quelle: Christoph Antweiler: Mensch und Weltkultur / Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung / [transkript] Bielefeld 2011

Nachschrift nach dem 17. November

Jetzt bezogen auf den Artikel von Omri Boehm in der Süddeutschen Zeitung, Thema: ein wirklich universalistischer Humanismus, allerdings mit Gedankengängen, die Widerspruch herausfordern können. Sollen wir wirklich einem bedeutsamen Antagonismus der „Weimarer Zeit“ nachgehen, der sich in Gestalt einer jüdischen Bibelübersetzung und dem Nachwirken Nietzsches mit dem Lobpreis des griechischen Polytheismus manifestiere? Ich denke, weder das eine noch das andere war zu jener Zeit von Bedeutung, – so wenig wie heute die sehr menschliche des von Omri Boehm herausgehobenen Navid Kermani, der eine israelische Freundin zitiert. Einzelne Thesen in einem gewaltigen Stimmengewirr…

 

Mich überrascht das Narrativ, die Propheten könnten eine beschwichtigende Rolle innerhalb des Monotheismus spielen, für dessen Beurteilung in unserer Zeit wohl eher Jan Assmann paradigmatisch geworden ist. Für die Sicht der Propheten aber würde ich weniger deren Stellungnahme für die „Bewährten“ in Sodom und Gomorra sehen, als den Ablauf des Isaak-Opfers mit der Willkürentscheidung zugunsten des unschuldigen Opfers. Wo bleibt die Gerechtigkeit als universales Prinzip?

(Fortsetzung folgt)

Vorsätze beim Üben der Harfen-Etüde

Sie gehört zu den Etüden, die mich mein Leben lang begleitet haben. Mein Vater spielte sie (er hatte kleine Hände, vielleicht wie Barenboim, wir hörten kritiklos bewundernd zu, und wir versuchten es früh selbst, weil die erste Zeile leicht scheint, natürlich mit beiden Pedalen und ohne Rücksicht auf Verluste. Ich erstand 1960 in Ost-Berlin die eigenen 10 Chopin-Bände der Paderewski-Ausgabe, übte in den frühen 70er Jahren „in der alten Wohnung Querstraße“ alle Etüden, die ich schon teilweise auswendig konnte, diese erstmals mit genauer Rhythmik, also auch 4 : 6, auch mal ohne vertuschendes rechtes Pedal, stolz, einsam pfuschend, dann des öfteren als Fingerpräzisionsübung in den 90er Jahren, und jetzt im „Projekt Neuanfang Technik“, sehr genau, unter Verzicht auf jedwede Schwelgerei. Daher schließlich diese YouTube-Sammlung – ohne lang zu suchen – einfach, um nachzuprüfen was andere machen, wo sie „im Ernstfall“ auch versagen oder gar keine Probleme zu kennen scheinen. Ich meckere nicht, ich objektiviere meine eigenen Fehler williger, – zugleich bin und bleibe ich natürlich ein recht kleines Licht am Klavier.

Was mir an der damals handschriftlich vorangestellten Schumann-Charakteristik besonders gefallen hatte, war der Hinweis, dass „in der Mitte […] neben jenem Hauptgesang auch eine Tenorstimme aus den Akkorden“ deutlich hervortritt. Ich habe sie immer beachtet, gleichwohl immer falsche Töne gespielt, sowohl in der rechten Hand Takt 15 und 16 als auch in der linken Hand Takt 16 und Takt 20 (Daumen!). Diese Stelle hören Sie im 4. Beispiel (mit Notentext) ab 0:39 bis 0:59. Bitte noch weiterspielen bis zur – für mich seit der Kindheit – schönsten Stelle bei Eintritt des Taktes 29 genau auf 1:18.

Eine Live-Aufnahme, mit deren Veröffentlichung der einst hervorragende Pianist nicht zufrieden sein kann. Empfindlich falsche Töne in Takt 12 zweite Hälfte, und in der oben erwähnten Stelle, wo eine Tenorstimme aus den Akkorden hervortritt (Takt 17 bis 20): Daumen-Motiv Fehlanzeige. Takt 28 zweite Hälfte in der linken Hand verfehlte Töne. usw. all das kann passieren, sollte aber nicht als  (geglückter) ‚Musical Moment‘ des Meisters präsentiert werden.

Zu schnell, zu brillant, fast kein ritenuto in Takt 24, dafür Takt 25 vierte Zählzeit falscher Bass-Ton, falscher Akkord auch vor dem Klimax-Ton im Takt 34, was man dank ungewöhnlicher  Kamera-Perspektive gern überhört, aber dann die anmutige Körpersprache, wenn auch weiterhin im allzu strengen Tempo in die Schlussphase. Ruhe erst im abschließenden Basstriller plus Arpeggio-Akkord, was in anderen Aufnahmen eher verlegen wirkt. Selbst in der folgenden Aufnahme mit Rubinstein, der das Tempo des Stückes ähnlich strikt auffasst, aber sich Zeit lässt für wunderbare Rubati und in den Akkord-Arpeggien der Coda ein hinreißendes Leggiero-Spiel zeigt.

Es folgt Maurizio Pollini (von wann?), überzeugend die Begleit-Arpeggien, kein Mulm, klares Tempo mit dezenter, aber zwingender Agogik

Jetzt wird’s mehr al-fresco. Sympathisch, aber zuviel Gefühl, unzuverlässige Technik. Tenorstimme ziemlich deutlich, Takt 27 vierte Zählzeit mulmig (Angst vorm Blättern),T.32 auf vier falscher Melodieton (es statt f, das „nachgeliefert“ wird), die 16tel kommen mehr als eilige Tontraube mit Anspring-Pause vor Melodieton. Groteske Hörfehler in der englischen Nachschrift des Textes (2mal Schann statt Schumann, singer statt finger) – Leise und sehr zart üben, ohne Pedal? damit man bei Hinzuziehung des Pedals keine Einzeltöne mehr hört? halbe Tastentiefe? [aber kein Ton darf ausfallen!] „Illusion eines  Legatos“ (spielt Melodietöne mit Bleistift und Pedal). Aber nun zu dem Takt 8, in dem er das Anspiel der Etüde abbricht (17:14, es begann bei 16:46), und ich meine diese Zeile mit Takt 7 und Takt 8 (vorm Umblättern), genauer: die linke Hand in Takt 8, die auf dem tiefen ES landet und trotzdem mit dem Daumen wenig später als Spitzenton den Ton DES erwischen soll. Tut sie das? (wir können die Hand beobachten). Die beiden Daumen rechts & links müssten sich kreuzen….

davon später mehr.

Die Schumann-Besprechung der Chopin-Etüden hatte sich schon mein Vater vorgemerkt, aus seinem Buch (Auswahl Paul Bekker 1922) sei sie hier wiedergegeben (samt inliegendem Merkzettel):

Zum Takt 8. Mir scheint das schwierig, und ich überlege, ob ich die Daumentöne links= DES und rechts= B nicht einfach vertauschen darf, und mir eine fast unvermeidlich heftige Hilfsbewegung des linken Unterarms sowie die unfallträchtige Kreuzung der beiden Daumen sparen darf. Ich kannte einst Pianist_innen, die in diesem Punkt skrupellos waren, aber – sollte Chopin dafür zu dumm gewesen sein? Es ändert sich doch nichts real?  Mein Gegenargument wäre: die Aufwärts(hilfs)bewegung des linken Arms soll ein Bewusstsein für die Sonderstellung des Moments schaffen, ein winziges technisch bedingtes Zögern, das „von selbst“ einem musikalischen Ritenuto, das nicht befohlen wird, Raum gibt. Wenn es sich gut anfühlt, ist es auch schön. (Etwas anders liegt der Fall Takt 33/34 .)

Was sagt das irgendwo von Chopin gegebene poetische Bild (Schäfer, der aus dem Stall das ferne Geräusch von Winde und Regen hört und dazu die Melodie auf der Flöte spielt) über die Ausführung des Stückes? (21:45)

Ab 23:25 die schöne Mittelstimme (genau genommen Alt und Tenor). Dann über „the goal“ der passionierten Entfaltung – wie er die Hände öffnet – so sind sie geöffnet beim Spiel der Begleitung, die Finger weit gespreizt (ist das die Idee?). Das Spiel des Überreichens und Zurückziehens beim Präsentieren eines Geschenkes. Und dann: alles Erzählte vergessen. Er macht vor, wie es chromatisch weitergehen könnte, wenn man der unbewussten Tendenz nachgäbe. Höher und höher. (Gut gedacht.) Und beim dritten Mal „I love you“. Er meint die Verwandlung nach Von As- nach A-dur. Aber: Down completely down“ – doch er bemerkt nicht die Funktion des einen viel später erfolgenden Akkordes, der dies z.B. zu meiner Lieblingsstelle macht. Nach der Climax! „little down“ (genau beim Blättern 31:24). Ich denke einen Moment an Beethoven, der diese Wirkung zuerst entdeckt und „inszeniert“ hat.

Beethoven V, 2 Takt 12

(Unser Pianist dagegen denkt schon an „another Climax“, was auch im Sinne des Spannungsverlaufs o.k. ist). – – – 32:29 Coda –  da fehlt die reminiszierende Tenor-Nachahmung Daumen… Hinweis auf „Exercise“ der Arpeggien, die fälschlich leicht erscheinen, –  „magic“? (sie sind bei ihm auch „löcherig“,  mit falschen Tönen durchsetzt und zu laut). Ab 34:15 nach Atemholen abschließend nochmal alles von vorn.

Ich produziere am zuverlässigsten falsche Töne – hier (ausgerechnet bei der Climax):

*    *    *

Weiter zum nächsten YouTube-Beispiel. Cool! Wie man die technische Seite trainiert (Kämmerling-Schule), vielleicht auch abschreckend; die 16tel-Trauben funktionieren wie ein feines Räderwerk. Gut: Tastatur und Hände von oben gefilmt. Bewundernswert. Vollständig ab 15:15.

(Fortsetzung folgt, siehe zunächst auch hier)

Von Revolutionen, im Saal und draußen

Solinger Tageblatt 4.11.23

Foto: Gemeinfrei/Historisches Archiv der Stadt Köln.

https://www.fes.de/museum-karl-marx-haus/ausstellung-1848 hier

Unter freiem Himmel:

Marx und …? Man wird doch mal drüber nachdenken dürfen. Zwei Fotos ©JR 2008 in Berlin.

Waren sie es denn wirklich, diese beiden? Und wo? Welche Besucher_innen  – aus China oder Japan – könnten soviel Spaß daran haben? Wäre es ihnen auch zuhaus erlaubt? Und Ihnen? (Finden Sie den heutigen Standort.)

https://www.berlin.de/sehenswuerdigkeiten/3561030-3558930-marx-engels-forum.html hier

https://de.wikipedia.org/wiki/Marx-Engels-Forum hier

Durchs Rohr schauen

Erinnerung an Adalbert Stifter

anlässlich des Planes, ein neues Fernrohr zu kaufen, nachdem ich zur Probe einmal hindurchgeschaut hatte…

da ist es ! 11.11.2023

… erinnere ich mich zuerst an Goethe, der diese künstliche Vergrößerung des Gesichtsfeldes abgelehnt haben soll, und lese stattdessen folgendes:

Der 11. Februar 1800 war in Weimar ein herrlicher, aber kalter Wintertag. Trotz des schönen Wetters saß Friedrich Schiller in seiner Stube, in der es wie üblich nach fauligen Äpfeln roch. Gerade schrieb der 40-jährige Dichter an der Bühnenfassung von Shakespeares »Macbeth«, als eine kurze Nachricht seines Freundes Goethe eintraf: »Um sieben Uhr, da der Mond aufgeht, sind Sie zu einer astronomischen Partie eingeladen, den
Mond und den Saturn zu betrachten; denn es finden sich heute Abend drei Te-
leskope in meinem Hause.«

Siehe auch hier. ZITAT:

Dass ohne instrumentelle Technik die neuzeitliche Naturwissenschaft nicht auf die
Bahn gekommen wäre, wusste Goethe genau, auch wenn er gegen sie seine eigene,
am Phänomen orientierte Naturforschung aufbot. So heißt es:
Aus dem Größten wie aus dem Kleinsten (nur durch künstlichste Mittel dem Menschen zu vergegenwärtigen) geht die Metaphysik der Erscheinungen hervor; in der Mitte liegt das Besondere unsern Sinnen angemessene worauf ich angewiesen bin, deshalb aber die Begabten von Herzen segne die jene Region zu mir heranbringen.
(Ma XVii, 922) Anm.1
Von der oft behaupteten Abneigung Goethes gegen Mikroskope und Teleskope ist
hier nicht die Rede. Von Jugend an benutzte Goethe beide Instrumente, die im 17.
Jahrhundert den Gang der Naturwissenschaften, der Astronomie, der Biologie,
der Mineralogie und Medizin nachhaltig initiierten. Besonders das Mikroskop hat
Goethe in seinen botanischen, zoologischen und mineralogischen Studien eifrig zu Rate gezogen. Anm.2

Beide, Fernrohr wie Mikroskop, sind trotz ihrer Ablehnung durch Thomas Sydenham und John Locke längst selbstverständliche Forschungsinstru- (…)

1 Goethe: Über Naturwissenschaft im Allgemeinen. Einzelne Betrachtungen und Aphorismen. Nr. 47, Fa i, 25, 100.
2 Vgl. z.B. Brief an Jacobi vom 12. Januar 1785: „Eh ich eine Sylbe μετ τ φυσικά schreibe muß ich nothwendig die physika absolvirt haben. […] Ein Mikroskop ist aufgestellt um die Versuche des v. Gleichen genannt Rußwurm mit Frühlings Eintritt nachzubeobachten und zu kontrollieren.“ (Wa iV, 7, 7-8) – Goethe kaufte 1785 das Buch des Botanikers von Gleichen (1717-1783): Gleichen, Wilhelm Friedrich von (gen. Russworm): Abhandlung über die Saamen- und Infusionsthierchen, und über die Erzeugung: nebst mikroskopischen Beobachtungen des Saamens der Thiere und verschiedener Infusionen; mit illuminirten Kupfertafeln. Nürnberg 1778. – Vgl.: ders.: Auserlesene Mikroskopische Entdeckungen bey den Pflanzen, Blumen und Blüthen, Insekten und anderen Merkwürdigkeiten. Nürnberg 1771. – Vgl. auch Goethe an Charlotte von Stein am 27. Juni 1785: „Mein Mikroskop bring ich mit, es ist die beste Zeit die Tänze der Infusionsthiergen zu sehen.“ (Wa iV, 7, 72) und an Jacobi am 14. april 1786: Botanick und Microscop sind ietzt Hauptfeinde mit denen ich zu kämpfen habe. […] Wenn dir mit Infusionsthiergen gedient wäre könnte ich dir einige Millionen verabfolgen lassen. (Wa iV, 7, 295f) Goethe arbeitet also immer noch auf den Spuren von Gleichens. Er notiert seine mikroskopischen Infusionsuntersuchungen in Fa i, 24. 46-61. – Goethe benutzt das
Mikroskop sowohl in seinen zoologisch-anatomischen wie in seinen botanisch-morphologischen Studien regelmäßig (…)

*     *    *

… dann erinnere ich mich an Adalbert Stifter, dessen „Hochwald“ (1841) ich auf JMRs dringendes Anraten im Oktober 2020 gelesen hatte, – und wieder gestern, als ich die lange Wartezeit in der Klinik (vor der Erstellung eines MRT) mit dem betreffenden Reclamheft verkürzte und darin auf folgende Stelle stieß (rote Kennzeichnung im Text von mir): zitiert hier aus Projekt Gutenberg.

*     *     *

So war diese Stelle nicht umsonst von dem Vater »wundersam lieblich und anmuthsreich« geheißen, eine warme windstille Oase, geschützt von Felsen und See, und bewacht von der ringsum liegenden heiligen Einöde der Wildniß.

Das Haus war, wie man sie noch heute in jenen Gegenden sieht, aus Holz, hatte ein Erdgeschoß und ein Stockwerk, eine ringsum laufende Brüstung und ein flaches Dach. Sonst war es viel geräumiger, als die, welche die heutigen Walddörfer bilden. Gleich neben dem Eingange lag Gregor’s Stube, der auch die Schlüssel führte, weiterhin die der Knechte, und die Kammern der Vorräthe. Im ersten Stocke war ein Speisezimmer, und zwei Zimmer der Mädchen, nebst einem Vorzimmer für die Mägde. Alles war auf das Vorsorglichste eingerichtet, nicht die kleinste Kleinigkeit, von Männern oft selten beachtet, aber für Mädchen von großem Werthe, fehlte hier, und täglich entdeckten sie neuerdings, daß der Vater oft dahin vorgesehen hatte, wohin sie selbst bisher noch nicht gedacht. Der Schmerz, die Furcht, das Ungewohnte ihrer Lage in den ersten Tagen stellte und fügte sich allgemach, und somit begannen sie schüchtern und vorsichtig nach und nach die Entdeckungsreisen in ihrem Gebiete und fingen an, für dasselbe Neigung und Herz zu gewinnen.

Ihr erstes Unternehmen über die Gränze ihres Besitzthumes hinaus und zwar über den See, war, um den Blockenstein zu besteigen, und mit dem Rohre gen Wittinghausen zu sehen. Gregor und die drei Knechte, alle bewaffnet, mußten mitfahren, dann, als sie ausgestiegen, einer mit dem Floße zwanzig Schritte weit vom Ufer harren, die übrigen sie begleiten. Gregor lächelte gutmüthig über diese kriegerischen Anstalten und ließ sie gewähren. Er führte sie um den Seebusen herum, und von rückwärts auf den Blockenstein, so daß sie, als sie nach einer Stunde seinen Gipfel erreichten, meinten, ihr Haus liege ihnen gerade zu Füßen, und ein losgelassenes Steinchen müsse auf sein Dach fallen. – Das Fernrohr wurde ausgepackt und an dem Stumpfe einer verkrüppelten Birke befestiget – – Aller Augen aber waren schon vorher in die Weite gegangen – wie eine glänzende Wüste zog der heitere Himmel hinaus über alle Wälder weg, die wie riesenbreite dunkle blähende Wogen hinauslagen, nur am äußersten Gesichtskreise gesäumt von einem Hauche eines fahlen Streifens – es waren die bereits reifenden Kornfelder der Menschen – und endlich geschlossen von einem rechts in das Firmament ablaufenden Duftsaume – – – – siehe, der geliebte kleine Würfel, wie ein blauer Punkt schwebt er auf seinem Rande! Johanna’s Herz wogte in Freude und Schmerz. – – Clarissa kniete mittlerweile vor dem Rohre und rückte und rückte; das sah sie gleich, daß es ein ungleich besseres sei, als das des Vaters, jedoch finden konnte sie damit nichts. Bis zum Erschrecken klar und nahe stand alles vor sie gezaubert, aber es war alles wildfremd. – Abenteuerliche Rücken und Linien und Vorsprünge gingen wie Träume durch das Glas – dann farbige Blitze – dann blau und blau und blau – – sie rührte die Schraube, um es zu verlängern – dann führte sie es dem Saume eines dunklen Bandes entlang – plötzlich ein schwacher Schrei – zitternd im Runde des wunderbaren Glases stand das ganze Vaterhaus, klein und zart, wie gemalt, aber zum Staunen erkennbar an Mauern, Erkern, Dächern – ja die Fenster meinte man durchaus sehen zu müssen. Johanna sah auch hinein – blank, unversehrt, mit glänzendem Dache stand es in der Ruhe des Himmels. O wie schön, wie freundlich!

Auch der alte Gregor sah durch das zaubernde, ihm unerklärbare Rohr, und in seinen Mienen war erkennbar, wie er höchlich darnach rang, das Ding begreifen zu können. Auch die Knechte ließ man hineinsehen, und freute sich an ihrem Erschrecken und Staunen. Man getraute sich fast nicht, etwas zu rücken, aus Furcht, das theure Bild zu verlieren, aber Clarissa zeigte ihnen bald, wie man es machen müsse, um es immer wieder zu finden. Sie konnten sich nicht ersättigen, immer das Eine und das Eine anzusehen. – So wie es ihren Augen, schien es auch ihrem Herzen näher, und sie waren fast zu Hause – so ruhig und so lieb stand es da, und so unverletzt. – Freude, Wehmuth, Sehnsucht stieg so hoch, daß man sich das Versprechen gab, sehr oft, ja jeden ganz heitern Tag heraufsteigen und durchsehen zu wollen. Endlich fing man doch an, auch Anderes zu suchen und zu prüfen. Der fahle Streifen am Gesichtssaume war das Erste, und deutlich zeigte sich, daß es angebautes Land mit Erntefeldern war – dann wurden die Waldberge, dann der See und endlich gar das Haus versucht. Alles war gar so schön und gar so reinlich.

Nach langem Aufenthalte auf dem Felsen beschloß man die Rückkehr, und das Rohr wurde von Gregor mit Achtsamkeit und sogar mit einer Art Scheu in sein ledernes Fach gepackt und mit der größten Obhut getragen. Auf dem Rückwege trug sich nichts Merkwürdiges zu. Sie fanden ihren Floß warten, stiegen ein, fuhren über, und der Tag endete, wie alle seine bisher erlebten Vorgänger mit einer glühenden Abendröthe, die sie nie anders, als auf den gegenüber liegenden Wäldern flammen sahen, während der See eine ganz schwarze Tafel vor ihre Fenster legte, nur zeitweise von einem rothen Blitze durchzuckt.

Dieser ersten Wanderung folgten bald mehrere und mehrere, die immer kühner und weitschichtiger wurden, je mehr sie die Ruhe und Sicherheit des Waldes kennen lernten. Von dem Vater war bereits zweimal beruhigende Botschaft gekommen; auch, wenn sie den Blockenstein bestiegen, und durch das Rohr sahen, das ihnen das liebste Kleinod geworden, – stand immer dasselbe schöne, reine, unverletzte Bild des väterlichen Hauses darinnen, so daß Johanna einmal den kindischen Wunsch äußerte, wenn man es doch auch von der anderen Seite sehen könnte. Zuweilen, wie Kinder, kehrten sie das Rohr um, und freuten sich, wenn ihr Haus, winzig, wie ein Stecknadelkopf meilenweit draußen lag, und der See wie ein kleines Glastäfelchen daneben.

Ein paar Gewitter hatten sie erlebt, denen einige traurige graue Regentage folgten. Sie brachten dieselben im Zimmer zu, an all ihren Stoffen und Kleidern schneidend, und nähend und ändernd, und da schon Tage und Wochen vergangen waren, ohne daß sich das mindeste Böse einstellte, ja da draußen Alles so schön und ruhig lag, als wäre nirgends in der Welt ein Krieg, und sogar nach des Vaters letzter Nachricht der Anschein war, als würde über Wittinghausen gar niemal etwas kommen: so erheiterten und stillten sich wieder ihre Gemüther, so daß die Erhabenheit ihrer Umgebung Raum gewann, sachte ein Blatt nach dem andern vorzulegen, das sie auch gemach zu verstehen begannen, wie es ihnen Gregor oft vorhergesagt. –

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Zur Rehabilitierung Stifters s.a. Blog http://s128739886.online.de/das-unbehagen-an-der-klassik/ hier

Aber auch Wikipedia zu Adalbert Stifter hier, zu „Der Hochwald“ hier .

Zum Erwerb des Fernrohres: