Allerneueste Tonkunst

Keinen Zeitmangel vorschützen, aber was dann?

Natürlich ist es nur ein Trick, den alten liebenswerten Begriff Tonkunst zu verwenden. Gemeint ist ja das, was manche Leute als „keine Musik mehr“ bezeichnen. Und wie so oft möchte ich meinen eigenen Lebensweg betrachten, um einige Erfahrungen zu sortieren.

Als ich in den 50er Jahren begann, über den Tellerrand hinauszuschauen, begegneten mir auch unbekannte Komponisten, deren Verständnis mir Probleme bereiteten, z.B. ein Klaviertrio von John Ireland, der in keinem Musiklexikon meines Vaters stand. Aber Debussy und Ravel sagten mir etwas, weil mein Vater einige Préludes oder „Jeux d’eaux“ am Klavier spielte oder übte. Das prägte sich ein, und die ganze Familie kannte das und kritisierte nichts. Dann kam Paul Hindemith nach Bielefeld, und schon diese Tatsache machte von sich reden, und ich wollte ganz vorn dabeisein, ich erlebte ihn in der Oetkerhalle, seine „Sinfonia serena“ – ein leichtes Spiel. Auch „Mathis der Maler“, Oper und Sinfonie – sogar mein Vater ließ das gelten, der über Schönberg äußerte: „in 100 Jahren redet kein Mensch mehr darüber“. Im März 1956 besorgte ich mir auf eigene Faust Hindemiths „Unterweisung im Tonsatz“, das leuchtete mir alles ein, die Unterstreichungen sind original:

Der weitere Weg zeichnete sich durch das ab, was in der Bielefelder Stadtbücherei, Abteilung Musik, zu finden war, zuletzt tatsächlich die „Philosophie der Neuen Musik“ von Adorno, – die mir meine Grenzen des Verstehens aufzeigte. Der Erwerb dieses Buches in Berlin markierte eine neue Stufe des zu erreichenden Niveaus. Ich war nicht der einzige, der es wahrnahm, ein neuer Freund brachte mich darauf, die Oper „Moses und Aron“ von Schönberg nicht nur einmal, sondern mindestens dreimal zu besuchen. Er hatte sogar (vor meiner Zeit) die skandalumwitterte Uraufführung auf Tonband mitgeschnitten. Ich las große Teile des Adorno-Buches im Café Kranzler, ob ich`s verstand oder nicht, sozusagen im Kaffeerausch. Eine neue Epoche fühlend.

Unser Tonsatzlehrer Max Baumann konnte noch so schimpfen auf Neutöner und vor allem die „Seriellen“, die mit den punktuellen Strukturen, den scheinbar zufälligen, sinnnlosen Tonfolgen. – wir wussten es irgendwie besser. In Köln begegnete ich Stockhausen leibhaftig und erinnere mich noch an Sendungen von ihm, die ich nachts im Autoradio hörte und die mir Respekt abforderten. Er war also kein Scharlatan… Boulez kannte ich schon aus Berlin, Le marteau sans maître, ich wusste, dass ich nicht behaupten konnte, es zu verstehen. Denn was wäre das? Im Kölner Klaviertrio spielten wir Henze, Charles Ives, Peter Michael Braun (dieser ein Kommilitone), der noch ein Zwölftöner war und den ich später als „gemäßigten“ völlig ablehnte. Allerdings: schon damals machte es mir mehr Freude, neue Musik zu spielen als zu hören. Oder ich hörte sie so oft, bis sie mir gut bekannt war. Auch heute höre ich sie, treffe Praeferenzen, aber spiele sie nicht. Nicht nur weil sie zu schwierig ist, es würde viel zu viel Zeit kosten, und ich frage mich: wofür? Eine Frage, die ich bei meiner bevorzugten Musik (z.B. Bach) nie stellen würde. Warum nicht?

Kurz: ich möchte keine Materialerkundung auf mich nehmen, nicht mit verschiedenen Schattierungen von Kratz-Charakteren auf und neben der Geigensaite experimentieren, und auch keine anderen Geräte auf ihre Eigenschaften als Ton- und Geräuscherzeuger erproben. Mit ungewissen Erfogsaussichten. Lange Zeit habe ich behauptet, dass niemand, der ein Instrument von der Pike auf gelernt hat, es irgendwann nicht mehr nur spielen, sondern hauptsächlich bearbeiten will. Mein argumentativer Ausweg: Es soll mich „musikalisch“ weiterbringen. Natürlich höre und  beurteile ich als Musiker alle Geräusche des Lebens auch in ihrer Eigenschaft als Musik, nicht nur die Vogelstimmen, sondern auch das Wiehern der Pferde, das Heulen des Windes. Und natürlich alle Varianten von Maschinen, die mir begegnen. Aber ich behaupte nicht, dass mich das „musikalischer“ macht. Nur weil ich musikalisch immer empfänglicher geworden bin, erlebe ich ja auch alles andere, was tönt, so ähnlich wie Musik. Und wenn es sich tatsächlich als eine Imitation oder Simulation erweisen sollte, erfahre ich dies als einen Zuwachs von Bedeutung im Klang. Wenn nicht, ist es auch in Ordnung.

Allerdings – das muss ich zugeben – werde ich bei dem folgenden Stück – mit dem Titel „Instinkt“ – unweigerlich von wachsender Empathie zu den vorgestellten Lebewesen erfasst. Vielleicht, weil ich an den Gesang der Schlittenhunde denke. Oder an die Kranichzüge meiner Kindheit, deren Rufe von der Weite des Himmels und der utopischen Ferne ihres Flugzieles kündeten.

Was die Komponistin selbst über ihre Klänge schreibt, klingt vielleicht prosaischer:

Im Alltag stosse ich immer wieder auf schöne Geräusche. Aber ich bekomme sie einfach nicht gepackt, nicht kontrolliert. Ich kriege sie noch nicht einmal klar gehört. Ein Geräusch wirklich zu erfassen und zu verstehen, das ist unglaublich schwer. Wenn es mir dann doch gelingt, frage ich mich im nächsten Schritt: Wie kann man so ein Geräusch überhaupt imitieren? Wie kann man es modulieren und formen? Deshalb arbeite ich mit Musikern zusammen. Intuitiv machen sie die Klänge im Zusammenspiel musikalisch sinnvoll. Dabei entdeckt man auch neue Spieltechniken, die das Stück bereichern. (Carola Bauckholt)

Ein anderes Werk der Komponistin:

Das Zitat oben stammte aus einem aufschlussreichen Interview, das die Komponistin Carola Bauckholt der Luzerner Zeitung gab. Hier kann man es insgesamt nachlesen.

https://www.luzernerzeitung.ch/kultur/buch-buehne-kunst/carola-bauckholt-jeder-staubsauger-hat-seinen-eigenen-klang-ld.1532976

hier

Von dieser Seite gesehen, verliert auch der Anblick von Staubsaugern im Konzertsaal seine Schrecken. Und der Ernst der Künstlerinnen und ihre Virtuosität lässt keinen Zweifel am Sinn der Sache. Und an der sorgfältigen Inszenierung, bis hin zur heftigen Betätigung des Aus-Knopfes.

Es ist Jahrzehnte her, an der Kölner Hochschule gab es neben der auffälligen Avantgarde nach wie vor den konservativen Flügel, und ich vergesse nie die listige Zusatzfrage, die mir am Ende der mündlichen Prüfung gestellt wurde, und zwar von Seiten des Vorsitzenden, der kein Freund der Neuen Musik war: „Wie würden Sie einen Komponisten nennen, der von Ihnen verlangt, dass Sie das Klavier mit dem Ellenbogen traktieren, draufklopfen und den Deckel auf- und zuknallen?“ Ich war ratlos, und bekam zum Trost oder als Clou die Antwort: „einen Idioten, hoffentlich“. Worauf ich mein Zögern rechtfertigte: in diese Reihe der befremdenden Praktiken in der Musik gehöre ja schon das typische Bartók-Pizzicato, bei dem die angerissene Saite auf das Griffbrett schlägt. Da könne man kaum eine Grenze setzen… (Ein Widerwort, aber kein Eclat, und nicht wirklich befriedigend für beide Seiten.)

Man sollte allerdings bedenken, dass der komische Effekt mancher Techniken der Neuen Musik durchaus nicht ganz außerhalb des erwünschten Wirkungsspektrums liegt. Das Lachen oder Lächeln im Publikum ist durchaus einkalkuliert, es entspringt der Verblüffung. Und kann „adäquater“ sein als das vorsichtige Schweigen der „Insider“.

Dennoch entspringt der Passus am Ende eines Artikels, den ich in einem durchaus seriösen Fach-Magazin las, einer anderen Motivation, vielleicht einer doch eher zum Spott geneigten Kumpanei mit dem Konsumenten. Und ist nur alberne Zugabe nach einem ernsthaften Essay.

Quelle Christoph Türcke „Wie Musik eingreift“ in „Musik & Ästhetik“ Klett-Cotta Stuttgart, April 2025 (Seite 64-69)

P.S. Was sage ich, wenn mich jemand in die Enge treiben will  und fragt: „aber findest du das etwa schön?“ Ich verweigere die Aussage, weil das Wort schön ständig seine Bedeutung verändert. Finde ich die Stücke von Bach, die ich übe, etwa „schön“??? Das Wort ist viel zu klein. Jedenfalls wäre das nicht der Grund, weshalb ich sie übe. Sie erscheinen mir sinnvoll, auch bedeutsam, auch faszinierend, und vor allem: sie beschäftigen mich weiter, wenn ich längst nicht mehr spiele.

Die „Erarbeitung“ all der ethnologisch interessanten (?) Kulturen, die mir begegnen, ist für mich nicht dadurch motiviert, dass ich jede für sich und aus unterschiedlichsten Gründen schön finde, sondern weil ich wissen will, was die kulturellen Dinge für die Menschen bedeuten. Für andere Menschen, die mir  gleichen.

Wenn Carola Bauckholt innerhalb unserer Kultur sagt: „Im Alltag stosse ich immer wieder auf schöne Geräusche“, weiß ich, dass das Wort schön etwas anderes bedeutet als das, was die meisten Menschen ihres Alltags als schön bezeichnen würden. Und selbst wenn ich ausweiche, etwa mit dem Wort „interessant“, hat dieses bald eine ironische Bedeutung angenommen. Das Wort „faszinierend“ tendiert ebenfalls in diese Richtung. In der Tat müsste man aber wohl Farbe bekennen, sobald die Frage aufkommt, wieviel Zeit man dafür opfern würde. Wenn eine nette Bekannte mich ständig in Konzerte schleppen wollte, deren Inhalte ich privat nur in kleiner Dosis ertragen würde, sagen wir: Heino. Dann wäre zu klären, was man unter dem Begriff „nett“ versteht. Ein Desaster! Und warum „nur in kleiner Dosis“? Weil alles andere nach 5 Minuten voraussagbar ist. Und alle Fluchtwege zugestellt sind.