Archiv für den Monat: Dezember 2019

Konzepte

Kreidler und Tchiba

Das Schreiben im Blog hat zur Folge, dass es immer zu früh einsetzt, nämlich während die Ideenbildung noch nicht abgeschlossen ist. Man muss also fortwährend noch etwas nachliefern, austauschen, einfügen, korrigieren, und erst später sieht man, wie oft man sich wiederholt. Dass man gar nicht ständig Neues produziert, es also aus Gründen der Aktualität fortwährend umnotieren müsste. „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“ – das wäre schön, Rilke ein Konzeptkünstler, schon spottet jemand: „er tanzt seinen Namen!“ Ich habe gewusst, dass es keinen Sinn macht, dieses Buch farbig zu scannen; es ist schwarzweiß, und doch gewinnt das Weiß bei längerer Betrachtung etwas Bläuliches, wie man es von Schnee kannte, als es ihn noch gab. Vielleicht habe ich nur einen originellen Anfang gesucht und mich aus Trotz in die Banalität geflüchtet. Was erwarte ich von Musik? Als Minimum: meinetwegen auch ein Konzept, aber ich möchte auch meine musikalischen Fähigkeiten erweitern und üben. Ich, ich, ich. Nicht unbedingt anhand fremder Werke, sondern auch anhand fremder Praxis, z.B. könnte ich mir vorstellen, einen afrikanischen Trommelkurs mitzumachen. Das Wort „fremd“ hat keine tiefere Bedeutung. Es sollte einfach etwas Unbekanntes dabei im Spiel sein. Selten war ich glücklicher als gestern bei Robert Schumann, als mir ein scheinbar (!) vertrackter Rhythmus mit leichter Hand gelang. Dank günstiger Vorübung. Und erst jetzt füge ich oben die Überschrift ein, um mich bei der Sache zu halten: Kreidler und Tchiba.

Kurz: dieses Buch interessiert mich, ebenso wie die Schallplatte (CD), beides aus musikalischen Gründen. Ich will wesentlich werden, wie immer, wenn ich fast Geburtstag habe. Zum Beispiel eine Reise machen. Hochgestochen: mich entwurzeln.

Ich erinnere mich an das Jahr 2011, warum habe ich Kreidler damals reflektiert, am Ende des Vortrags über Transkulturalität? (Hier) Rhetorische Frage, es hat mich beschäftigt und schien mir zum Thema gehörig. Ob er nun auf diesem Video selber spielt, kann ich nicht sagen, ich kenne ihn auf allen Fotos mit einer anderen Frisur. Sonst würde ich fragen, – dürfte ich den Pianisten kritisieren? Das Konzept der absteigenden Chromatik habe ich schnell verstanden und frage mich, wohin es führt, da die Tastatur eine Grenze setzt. Und ich weiß, dass das Video keine Minute dauert. Der erschreckende Forteschlag kann es nicht sein, was bleibt, ist die Tatsache, dass der Wechsel von der rechten zur linken Hand klanglich nicht bruchlos funktioniert, vielleicht weil der Spieler zugleich aufsteht, um zu dem Forteschlag auszuholen. Das gehört aber, so weit ich sehe, nicht zum Konzept des Stückes, denn das ist bekannt:

 so im CD-Booklet (Kreidler)

Ich vermute, dass die Alternative upwards selten gewählt wird, weil ein Forteschlag in höchster Höhe weniger spektakulär wäre, auch die Vorschrift sustained wäre weniger deutlich einzulösen.

Es versteht sich von selbst, dass der Pianist Martin Tchiba eine technisch tadellose Version liefert.

Jetzt würde ich aber gern etwas Vorbereitendes sagen, nur: für wen? Ich spreche oder schreibe ja nicht für die hochinformierte Sektion der Neuen Musik. Es ist vielleicht auch überflüssig, darauf hinzuweisen, in welchem Maße wir alle vorgeprägt sind in unseren Einschätzungen und Erwartungen. Wenn man allein das Wort „Klavierabend“ hört, wieviel kulturell vorgeformtes Wissen da jede nähere Erklärung lächerlich erscheinen lässt. Ein Saal mit eingeweihten Menschen, auf dem Podium ein schwarzes Musikgerät namens Flügel, ein schwarzweiß gekleideter Mensch, Klavierstücke, die man (im Prinzip) schon kennt, Pausen, in denen man Beifall klatscht oder hustet und wartet. Alles nach Konzept. Es gibt auch verborgene Konzepte des Auftritts, des Verbeugens und des Abgangs. Auch kleine Kühnheiten, statt eines Blumenstraußes etwa eine Flasche Wein. Ein paar leise Worte, ein sympathetisches Gemurmel des Publikums, Kurzbeifall, tiefes Schweigen, eine Zugabe und erlösende Abschiedssalven klatschender Hände. Manchmal gehört auch zur Erzählfolklore, dass man den einen Pianisten erwähnt, der das ganze Ritual unterlief, sich an den Flügel setzte, nicht spielte, nur den Klavierdeckel betätigte und wieder abtrat. 4’33“. Komponist: John Cage. Relativ neues Vorwissen, das man auch als bekannte Rahmenbedingung voraussetzen könnte (Daten hier). Genug.

Wenn ich oben das Buch von Johannes Kreidler abgebildet habe, so deshalb, weil es in jeder Hinsicht interessant ist, aber nicht, weil man es kennen muss, um einen Zugang zur CD zu öffnen. Der wird dem Ohr abverlangt und das CD-Booklet leistet dreifache Hilfestellung. Ich persönlich habe es als anregend empfunden, vom Ende her rückwärts zu gehen.

ZITAT Martin Tchiba (Pianist):

Bei den auf dieser CD enthaltenen Konzeptstücken – Das UngewöhnlicheZum Geburtstag und Neutralisation Study – hingegen ist die Herausforderung eine ganz andere als bei den Klavierstücken 1 bis 6, eigentlich eine gegensätzliche: Hier ist es eben jeweils eine konkrete Idee, die konsequent umgesetzt wird, was – fast wie in einer Meditation – die Konzentration auf einen eintigen Aspekt oder ein einziges strukturelles Prinzip erfordert. So sind diese Stücke letztlich auch „Konzentrationsübungen“, was – zusätzlich zu vielfältigen pianistischen Herausforderungen – auf eine neue Art von Virtuosität hinweist.

ZITAT Bernd Künzig (Produzent)

…drei kurze Klavierstücke, die man der konzeptuellen Musik zuordnen kann. Das Ungewöhnliche und Zum Geburtstag 2010, 2014 noch die Neutralisation Study. Vor allem gilt die Idee des Konzeptualismus für die rein textliche Spielanweisung von Zum Geburtstag. In der Neutralisation Study bedient er sich der frühen Klaviersonaten Beethovens, die er mit Einton-Repetitionen zersetzt. Hier findet Kritik – im Kant’schen Sinne – an einer musikalischen Institution statt. Expressiver Klassizismus triff auf die elektronische Maschine des 21. Jahrhunderts. Für derartigen konzeptuellen Umgang prägte Johannes Kreidler nicht zuletzt seine Idee eine „Musik mit Musik“. In Das Ungewöhnliche wird das Absurde zu höherer Suggestion. Mit der Tempoanweisung MM=150 schnurren hier alle auf der Klaviatur möglichen dreistimmigen Akkordkomnbinationen einer Duodezim ab, pro Takt ein Akkord. Kein Akkord ist gleich und doch stellt sich eine akustische Monochromie ein, die einiges an hypnotischer Wirkung nach sich zieht. Das könnte ewig so weitergehen, und doch ist es eben mit den 678 möglichen Gebilden abgeschlossen. Kaum einem Komponisten ist so etwas zuvor eingefallen, oder sie haben sich gescheut, jenes Prinzip zu wiederholen, das Erik Satie „Musiques d’ameublement“ genannt hat. Der Titel dieser ungeheuerlichen Monochronie spielt vielleicht mit Carl Nielsens gewaltiger 4. Sinfonie Das Unauslöschliche, von deren instrumentaler Gewalt ist es allerdings weit entfernt. Es ist in der Tat als Möbelmusik eine Musik für ein (bürgerliches ) Musikmöbel. Oder anders gesagt: Es ist eine Musikkiste, die mit stoischer Mechanik (ab)gekurbelt wird. In diesen Klavierstücken erfüllt Johannes Kreidler schließlich die Idee einer musikalischen Konzeptkunst, die wie diejenige der 1960er und 1970er Jahre eine Institutionenkritik betreibt, um hinter die Rahmensetzungen zu blicken. Es ist der Nullpunkt eines Instruments, das vor über zweihundert Jahren noch für die Emphase des revolutionären Komponierens eines Beethoven stand: was Kreidler dann selbst „Philosophieren mit dem Hammer“ nennt – gemeint ist aber weniger derjenige Friedrich Nietzsches, als in der Tat der Klavierhammer und auch noch das von Beethoven zur Strecke gebrachte Hammerklavier.

ZITAT Johannes Kreidler (Komponist)

Die Sammlung wird ergänzt um drei konzeptuelle Arbeiten, wie sie seit 2008 meine Arbeit wesentlich bestimmen. Das Ungewöhnliche besteht aus sämtlichen 678 möglichen dreistimmigen Akkorden im Ambitus einer Duodezime, perZufall angeordnet. Das heißt, kein Akkord erklingt zweimal, sämtliche tonalen wie atonalen Möglichkeiten treten auf, nur hier in einer Form, die jede Gewöhnung an eine harmonische Struktur unmöglich machen will. Die Partitur von Zum Geburtstag weist an: [es folgt der oben schon wiedergegebene Text]. Und die Neutralisation Study hat zum Konzept, dem ersten Takt eines tonalen, expressiven Musikstücks einige Tonwiederholungen folgen zu lassen, und das in etlichen Versionen. Die hier eingespielte Realisierung bedient sich der frühen Klaviersonaten Beethovens.

(Fortsetzung folgt)

Altdeutscher Reichtum

Dieterich Buxtehude und die Orgel

 Dies soll er sein, ob er mir gefällt oder nicht: Dieterich Buxtehude (um 1637 bis 1707), der – neben der Orgel und anderen Tasteninstrumenten – auch die Gambe spielte. Während das rosafarbene Gewand zu Johann Adam Reincken (1643-1722) gehört, der am Cembalo sitzt. Das Gemälde von Johannes Voorhout entstand 1674. Die beiden Musiker waren also in ihren 30er Jahren, das ganze Bild ist – wie Harald Vogel schreibt – „ein Dokument für den luxuriösen Lebensstil der beiden persönlichen Freunde“.

Die Aufnahmen der Firma Dabringhaus & Grimm mit Harald Vogel stammen aus den Jahren 1984 – 1993, Erscheinungstermin der neuen Box 20.9.2019. Eine Übersicht aller eingespielten Titel mit Anspielmöglichkeit findet man bei jpc hier. Textauszug:

Auf der nun erstmals dieser Gesamtausgabe beiliegenden DVD führt Harald Vogel im Rahmen einer »musikalischen Entdeckungsreise« persönlich in die historische Technik der berühmten Schnitger-Orgel in Cappel ein und spielt Orgelmusik Dietrich Buxtehudes. Das 32-seitige, durchgehend vierfarbig gedruckte Booklet beinhaltet Fotos und Detailangaben zu Dispositionen und Registrierungen aller 17 Orgeln, die bei der Einspielung zum Einsatz gekommen sind. Auch auf der beiliegenden DVD werden sämtliche Register der Cappeler Schnitger-Orgel separat vorgeführt.

  Cappel (Screenshot DVD)

  15 Werke an zwei Orgeln, die erste der 7 Silberscheiben, die man in der Box vorfindet, dazu das Booklet zu den einzelnen Werken und ein Extra-Heft, das die Disposition aller vorgeführten historischen Orgeln auflistet, für Experten eine spannende Lektüre. Aber was mich am meisten elektrisierte, war der letzte Hinweis auf der Rückseite der Box, gleich oben unter dem Portrait, nach CD 7, denn da steht „DVD-Video“: in der Tat ein Film mit Interpretationen und Erläuterungen von Harald Vogel, eine bessere Einführung in seine Orgelwelt kann ich mir nicht vorstellen. Ich möchte den Spieltisch sehen, die Manuale, die Register, die man zieht, die Füße, die über die Pedale huschen. Klangfarben und Mischungen und die schönen Namen, die es dafür gibt. Und bei allem denke ich natürlich auch an Bach und einige gewaltige Werke, die ich von ihm in Erinnerung habe, die 6 Bände der Orgelwerke, die ich mir im Laufe der Jahre zugelegt habe; einige habe ich analysiert, als ich Jacobus Kloppers (1966)  las, abgesucht nach den Regeln der Rhetorik. Jetzt aber geht es um die Vorbilder, deren Gestik ich wiederzuerkennen hoffe, als Basis hatte ich nur einen Band Buxtehude, etwas Pachelbel und Böhm. Aber man müsste auch Zugang zu einer Orgel haben. Oder wenigstens dieses Video, das die weitgehende Identifikation erlaubt.

Diese Orgelsammlung ist also auch ein Weg zu Bach, und dass der junge Bach den Weg nach Norden gewählt hat, um bei den größten Orgelmeistern seiner Zeit zu lernen, kann man gar nicht hoch genug veranschlagen. Volker Hagedorn hat das eindrucksvoll nachgezeichnet in seinem Buch über die Familiengeschichte der Bachs:

Eine neue Welt geht dem zwölf-, dreizehnjährigen Sebastian auf, als er eine Choralfantasie von Dietrich Buxtehude hört, die sein Bruder in einer Abschrift besitzt, als vielleicht Erster und Einziger in Thüringen. Die überschaubaren 19 Register der Michaelisorgel reichen dieser Musik nur bis zur Schulter, aber immerhin wird inzwischen das Rückpositiv fertig geworden sein, ohne das es dabei nicht geht und das Christoph schon bei seinem Amtsantritt acht Jahre zuvor dringlich eingeklagt hatte. Buxtehude hat diese Fantasie vermutlich 1668 komponiert, mit 30 Jahren, um sich auf das Organistenamt an der Lübecker Marienkirche zu empfehlen. Seine Fantasie über den Choral „Nun freut euch, lieben Christen gmein“, 258 Takte lang, ist ein Werk für geräumige Kirchen und Gehirne, für einen Gottesdienst in Ohrdruf völlig ungeeignet. Sie beginnt wie eine improvisierende Fingerübung, die sogleich zur Imitation führt und über den Choral schon fantasiert, ehe er, im dreizehnten Takt, erstmals in halben Noten explizit erklingt, freilich nur für vier Takte, eine Choralzeile, zu der sogleich ein neues Thema eingeführt wird, eine Achtelrepetition. Mitunter wird ein Zeile zerlegt und „in solchem Ausmaß wiederholt, dass jede Erinnerung an ihre einstige Verbindung mit dem Text völlig verlorengeht“, schreibt Kerala J. Snyder, die zugleich darauf hinweist, dass alle melodischen Erfindungen Buxtehudes einen Bezug zum Text haben.

Es ist ein solcher Text, der den Funkenflug in unbescholtenen Bach-Verehrern auslöst, die sagen: wenn es den jungen Bach so beeindruckt hat, muss ich es auch kennen, und zwar genau in dem Klanggewand, nach dem dieses Werk verlangt: ein Werk für geräumige Kirchen und Gehirne , so ein Satz sitzt! Und endlich werde ich fündig: CD 7, Track 2, Werkverzeichnis BuxWV 210, es dauert eine gute Viertelstunde.

In verschiedenen Stilen und Stimmen und zehn Abschnitten führt der Komponist vor, was in Martin Luthers Lied steckt und in der noch älteren weltlichen Melodie, die der Reformator benutzt, zu der er die Geschichte von Kreuzigung und Erlösung erzählt, von der „süßen Wunderthat“, über die sich die Christen freuen mögen. Monodie und Kontrapunktik, Echo und Tanzrhythmen gibt es da, geschmeidige Spiele mit schmerzvoller Chromatik. Die Musik mag Sebastian selbst wie eine Wundertat erscheinen, er ist entschlossen, sie selbst zu spielen. Er schreibt sie ab und wird die Blätter mitnehmen, wenn er Ohrdruf verlässt. Es ist auch der Komponist dieses Werkes, Buxtehude, der ihn nach Norddeutschland zieht, den er selbst in Lübeck aufsuchen und behorchen wird, was ihm so wichtig ist, dass er für diese Reise sogar eine Kantorenstelle aufs Spiel setzt. Er wird die Blätter noch haben, als er seine dritte Stelle in Weimar antritt. Dort lässt er sie oder muss sie dort lassen, als er nach eine Inhaftierung wegen „Halsstarrigkeit“ unehrenhaft entlassen wird. Dann verschwinden sie für fast dreihundert Jahre, und Sebastian wird für lange Zeit der letzte sein, der weiß, auf welcher Höhe er sich mit dreizehn Jahren bewegt hat.

Quelle Volker Hagedorn: Bachs Welt / Die Familiengeschichte eines Genies / Rowohlt Reinbeck bei Hamburg 2016 (Seite 281 ff)

Siehe dazu auch den Eintrag im Blog hier. Wichtige Themen kehren unweigerlich wieder. Das eben beschriebene Choralvorspiel studiere ich lieber mit Noten. Bei einer Erstbegegnung mit Buxtehude würde ich ein Präludium mit zugehörigen Fugen empfehlen, das auf CD 4 zu finden ist, g-moll („ex g“ ); es ist auch auf Youtube zu finden, hier sind dazu Harald Vogels Bemerkungen aus dem Booklet:

Das mesopotamische Relief bringt uns keine analytische Unterstützung, aber eine weitere Verrätselung des Kunstwerkes wird uns auch nicht aus der Bahn werfen. Hier ein paar Hinweise zur Form: (folgt)

Nach der oben wiedergegebenen Bemerkung zum Plenumklang möchte ich – in Erinnerung an die Klopperslektüre, die mir damals zugunsten eines durchgehenden Plenumklangs bei Bach zu argumentieren schien (anstelle einer farblich abgestuften Registrierung) – festhalten, was Harald Vogel an anderer Stelle dazu ausführt:

 Vogel über Plenumklang

Eigentlich eine Sensation: in der Registrierung einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Bach und Buxtehude hervorzuheben, – also nicht von Bach rückwärts auf Buxtehude zu schließen, sondern diesen von den früheren Orgelmeistern wie Scheidemann, Tunder oder Weckmann her aufzufassen.

Die Präludien gelten als Buxtehudes zentrale Kunst, und da der einprägsame Name Kerala J. Snyder auch von Harald Vogel zitiert wird, nehme ich hier den MGG-Artikel als Ausgangsmaterial:

  um den Satz noch zu vollenden:

bald vielstimmig, bald auch auf eine kurtze Zeit nach dem Tact; ohne Klang-Maasse; doch nicht ohne Absicht zu gefallen, zu übereilen und in Verwunderung zu setzen“ (1739, S.86).

Autorin: Kerala J. Snyder

Irritierend: das Ostinato des Präludiums lautet in den Noten anders als es Harald Vogel spielt (die Noten sind aus IMSLP kopiert, finden sich aber in der Peters-Ausgabe genau so, nämlich mit dem wiederholten G als zweitem Ostinato-Ton, auch der Revisionsbericht im Anhang gibt in diesem Punkt keine Variante an).

Um auf die oben schon wiedergegebenen Texte zu Buxtehudes Kunst der Choralfantasie (und ihre Bedeutung für den jungen J.S.Bach) zurückzukommen, mache ich nochmals aufmerksam auf den Tr. 2 der CD 7 „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“ Bux WV 210. Hier folgt Harald Vogels Einführung im Booklet der Buxtehude-Box, vorweg aber die Melodie des Chorals mit dem Text der ersten Strophe. Die Kenntnis ist unabdingbar.

  

Man macht sich keinen Begriff, wie oft man bei einer solchen Choralfantasie Worte, Motive, Zeilen des Chorals mitsprechen oder mitdenken kann und soll. Es ist ein Teil der Andacht, des tätigen Mitvollzugs, und es wirkt dank der wechselnden musikalischen Gestaltung keinen Moment langweilig oder sinnlos. Ich habe versucht, in die folgenden Noten einzuzeichnen, was man denkt, wenn man den Choral verinnerlicht hat: und die Menschen jener Zeit brauchten keine Noten, um jede Choralanspielung zu erkennen, man hörte sie sogar aus dem Geläut der Glocken heraus, das nach Choralanfängen benannt war. Meine Bezeichnung der alten Noten ist keine analytische Meisterleistung, aber man wird beim Lesen die Ohren spitzen. Zum Anhören habe ich nur ein Youtube-Beispiel der alten Schule; ich genieße es, weil ich der Gesamtaufnahme Buxtehude mit Harald Vogel sicher bin, die ganz andere historische Perspektiven erschließt. Wolfgang Rübsam, im externen Fenster hier. Man stelle die Musik an und komme hierher zurück, um die Noten zu verfolgen.

     

Es scheint ein Leichtes, Buxtehudes Choralfantasie zu verstehen, wenn man die Noten verfolgt. Aber – dem ist nicht so. Sie werden vielleicht bei weitem nicht so viele Choralzitate erkennen, wie Sie in blauer Schrift angemerkt sind, und wahrscheinlich er habe ich noch einige übersehen. Es ist leicht, dies dem Organisten anzukreiden, z.B. habe nicht deutlich genug registriert oder artikuliert. Ich erinnere mich, wie sich eine Diskussion ergab, als ein Freund an der Orgel mit Bachs Bearbeitung des Vivaldi-Doppelkonzert spielte. Der Vivaldi war mir gut bekannt, aber er gefiel mir nicht, es ärgerte mich, dass bestimmte Stellen einfach nicht zu hören waren. (Ich versuche heute noch, die Sache zu identifizieren.) Ah, hier ist sie, pars pro toto:

Stellen Sie sich das Tutti angemessenerweise in organo pleno vor, – was passiert ab Mitte Takt 9 und in den folgenden Takten? Sie hören von der bewegten Oberstimme gar nichts mehr, und das kann nicht von Bach beabsichtigt sein. Was folgt daraus? Die langen, durchgehaltenen Töne müssen gekürzt werden, je nach Akustik eine Achtelnote oder eine Viertelnote pro Takt, nur als Akzent. Der Freund aber empfand und hörte gar kein Defizit, weil seine Finger aktiv damit beschäftigt waren, die Töne zu spielen, um die es ging. 

(Fortsetzung folgt)

Was unter den Nägeln brennt

Wird weitergeschwiegen?

Es ist nicht meine Sache, ich will nur mein Gewissen beruhigen. Mein Glück ist: ich bin nicht jung genug. Und – es hat auch keinen Sinn, ironisch zu sprechen. Noch weniger: zu schweigen. Tua res agitur: Hier, hier und hier.

  1. Klimakrise

    «Da muss man doch einfach mal sagen: Schluss!»

    Der ETH-Forscher Reto Knutti kann der Klimapanik durchaus etwas abgewinnen – aber Probleme löse man damit nicht. Im Interview spricht er über den Sinn von Klimamodellen, auftauende Methanblasen und den verflixten Permafrost.

    Interview: Franziska Meister und Daniel Stern

    WOZ: Herr Knutti, diesen Sommer gab es erneut rekordhohe Temperaturen, schwere Stürme und Brände rund um die Arktis. Sehen wir hier die Folgen der Erderhitzung?
    Reto Knutti: Grundsätzlich ist der Mensch der dominante Faktor in der langfristigen Klimaveränderung. Am offensichtlichsten zeigt sich das an der globalen Erwärmung und am Anstieg der Meeresspiegel. Je mehr wir jedoch auf die lokale Ebene oder auf Extremereignisse fokussieren, desto komplizierter und schwieriger wird es, eine Verbindung zu schaffen. Es ist nicht das Einzelereignis, das als Folge des Klimawandels in einen direkten kausalen Zusammenhang gerät – es ist die Änderung der Häufigkeit solcher Extremereignisse. Weiterlesen HIER

    Warum schweigen wir? Siehe Fritz Habekuss DIE ZEIT Jahresrückblick 2019 1. Dezember 2019 Seite 34 Dichter am Gipfel ZITAT:

    Als Reporter für Umwelt und Natur ist man dramatische Nachrichten gewohnt. Es vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht damit beschäftige, in welchem Zustand sich Ökosysteme befinden, wie schnell die Vielfalt von Tieren und Pflanzen um uns herum schwindet und was die Gründe dafür sind. Doch als am 6. Mai der Weltbiodiversitätsrat der Vereinten Nationen (IPBES) seinen Bericht vorstellt, muss ich schlucken. Dieses Dokument zu lesen, das zusammenfasst, was wir über den Zustand der Natur auf unserem Planeten wissen, ist grausam.

    Eine Million Tier- und Pflanzenarten sind bis zum Ende des Jahrhunderts vom Aussterben bedroht. Seit Beginn der Neuzeit sind mindestens 600 Wirbeltierarten ausgestorben. Mehr als 90 Prozent der Fischbestände werden maximal befischt oder überfischt. Bis zu 400 Millionen Tonnen Müll landen jedes Jahr in Flüssen und Meeren. Die Liste ist sehr lang, die Aussage klar: Der Mensch gefährdet das Überleben vieler Populationen und Arten auf dem Planeten – und damit auch sein eigenes.

    Die Nachricht müsste Veränderungen oder sogar Panik auslösen, aber nach ein paar Tagen ist sie wieder aus den Schlagzeilen verschwunden. Shifting baselines nennen Ökologen diesen Vorgang. Der Mensch gewöhnt sich an einen neuen Normalzustand und richtet dann seine Bewertung daran aus. Nicht an dem, was üblich war. Auch im Bericht des IPBES spielt dieses Konzept eine Rolle.

    Nachtrag zu Reto Knutti (aus der WoZ): Der 46-Jährige ist Professor für Klimaphysik an der ETH Zürich. Er forscht und lehrt zu den Hintergründen und Folgen der Erderhitzung und beschäftigt sich insbesondere mit der Frage, wie die Projektionen von Klimamodellen noch zuverlässiger gemacht werden können. Seit 2001 arbeitet Knutti an den Klimaberichten des Weltklimarats IPCC mit, im fünften und bislang letzten Sachstandsbericht von 2013/14 gehörte er zu den HauptautorInnen.

  2. China.  Ich weiß nicht mehr genau, in welchem Jahrzehnt es war, Ende der 70er, oder eher 80er Jahre, da kam ein türkischer Journalist in mein WDR-Büro und zeigte mir eine Reihe schöner Fotos: er wollte mich auf seine Vorfahren in China aufmerksam machen: die Uiguren und ihre alte Hauptstadt Kaschgar. „Mein Name selbst sagt, dass ich zu ihnen gehöre, versicherte er“: Yüksel Ugurlu. Nur den Nachnamen habe ich behalten, weiß nicht einmal, ob er damals eine Sendung für mich gemacht hat, ich fürchte, er hatte keine Musikaufnahmen und verstand auch nicht viel von Musik, aber er sprach mit Begeisterung, so dass ich es nie vergaß, ohne zu wissen, was aus ihm wurde. Heute, nachdem ich durch äußeren Anlass daran erinnert werde, kostet es mich einen Klick. Hier.                                                           DER SPIEGEL 30.11.2019 Seite 82 Bernard Zand: Schaut auf Xinjiang Essay Titel: „Von allen verstörenden Seiten des modernen China ist das Vorgehen gegen die Uiguren die verstörendste. Der Westen darf das unmenschliche Lagersystem nicht tolerieren.“ ZITAT […] ein Leben in Xinjiang ist gefährlich. Wer mit den falschen Leuten, gar mit Ausländern redet, wer die falschen Bücher liest, falsche Websites öffnet oder falsche Gedanken äußert, kann in derselben Nacht noch verhört oder eingesperrt werden. Hunderttausenden, wahrscheinlich mehr als einer Million Menschen ist es so ergangen. Peking hat im Stammland der muslimischen Uiguren einen Überwachungs- und Bestrafungsstaat errichtet, wie ihn die Welt so noch nicht gesehen hat.                                                                                                                                Soweit der SPIEGEL. In Sforzato-Sprache. Ich kann es nicht beurteilen, ich war nie dort… Habe aber gestern Abend die Sendung ttt gesehen, deren bräsigen Moderator ich schwer ertrage, ganz besonders, wenn er sich zur Musik aufschwingt (gestern in Gestalt der steilen Thesen des David Byrne) – aber die Bilder arbeiten subkutan weiter: HIER .
  3. Das mangelnde Vorstellungsvermögen / Was mich sonst noch bewegt, ohne dass ich resignieren muss: es betrifft auch die sich – womöglich – vermindernden Fähigkeiten, die man zum eigenen Besten nicht leugnen sollte. Oder doch: Schweigend agieren und kompensieren.
  4. Neue CDs: Johannes Kreidler „Piano Music“ mit Martin Tchiba / Dieterich Buxtehude Complete Organ Works mit Harald Vogel / Luigi Nono, Salvatore Sciarrino „Parole e Testi“ mit der Schola Heidelberg und dem Ensemble Aisthesis Leitung Walter Nußbaum /                                                                                                                                  Hören Sie zunächst dies (ohne es lauter zu stellen, – sage ich in Ihrem eigenen Interesse), schauen Sie einfach zu, und vergessen Sie nicht, es am Ende auszuklicken: Hier! Es ist nicht Martin Tchiba, der spielt