Sinnstiftung?

Ein scheinbar hochtrabendes Wort 

Die Essenz eines Artikels zeigt sich selten in der Überschrift. (Auch nicht im Blog: da folgt sie oft genug einer kurzfristigen Laune und dem Anreiz, einen Anreiz zu bieten.) Im heutigen Fall hätte ich auch schreiben können: „Das Projekt moderner Wissenschaft“ oder „Die generationenübergreifende Wahrheitssuche“ – aber wer weiß, ob ich dabei selbst die Motivation behalten hätte, die im Fall des ZEIT-Artikels im Namen des Autors lag, der mir als Philosoph positiv in Erinnerung ist: Michael Hampe. Die Überschrift jedenfalls (Warum lügen und betrügen Wissenschaftler?) hat mir lediglich signalisiert: Genau, so ist es doch überall, sie sind alle bestochen. Und selbst der Untertitel hat mich nicht angestachelt: „Wie kann man der moralischen Entkernung der westlichen Demokratien entkommen? Ein Plädoyer wider die enthemmte Konkurrenz der Einzelkämpfer.“ Ich glaube, solche gutgemeinten Appelle führen zu nichts, – so meine vorläufige Reaktion, bis ich auf die Zeilen stieß, die ich mehrfach lesen musste. Durchaus mit einer leicht erklärlichen Skepsis, – wenn dabei urplötzlich ein religiöser Hintergrund zum Vorschein kommt:

Sofern akademische  Ausbildungs- und Anreizsysteme vor allem Personen fördern und anstellen, die auf ihren persönlichen Erfolgt in der Konkurrenz blicken, unterminieren sie selbst das Projekt moderner Wissenschaft: die generationenübergreifende Wahrheitssuche, für die nur Personen geeignet sind, die ihr eigenes Erkenntnisleben für das gemeinschaftliche Erkenntnisinteresse opfern können, etwa indem sie feststellen, dass alles, was sie bisher für wissenschaftlich richtig hielten, sich als falsch herausgestellt hat. Die Fähigkeit, das einzugestehen, ist […] überhaupt das wesentliche Kriterium für einen Wissenschaftler. Die Fähigkeit zur Einsicht und vor allem zur öffentlichen Darstellung der Fehlerhaftigkeit des eigenen Erkennens dürfte jedoch kaum den Erfolg in kurzfristigen Konkurrenzen um Posten und Fördermittel begünstigen.

(…)

Wie alle kollektiven Projekte, die in einer Gemeinschaft verfolgt werden und die über einen Zeitraum laufen, der die Lebensspanne des Einzelnen übertrifft, geben sie dem endlichen einzelnen Leben einen es selbst überschreitenden Horizont: Wer sich an diesen Projekten beteiligt, hat an etwas Anteil, was in Bedeutung und Dauer die eigene Existenz übertrifft. Aufgeklärte Wahheitssuche und soziale Demokratie übernehmen deshalb Funktionen der Erlösungsreligionen: Sie gaben auf eine säkulare Weise einzelnem Leben einen überindividuellen Bezugsrahmen, der die Endlichkeit der partikularen Existenz auf tröstliche Weise relativierte. So wie in Erlösungsreligionen das einzelne Leben Teil der von Gott gestifteten Ewigkeitsperspektive war und in ihr aufgehoben war, sind in der aufgeklärten Wahrheitssuche einzelne Forschende im kollektiven Prozess der Erkenntnis „aufgehoben“, leisten zu ihm einen Beitrag, der eventuell erst lange nach dem endlichen Forscherleben Früchte tragen wird. In diesen Sinnhorizont eintreten zu können machte das Großartige eines Forscherlebens aus.

Zu schön, um wahr zu sein? Lesen Sie doch selbst den ganzen Artikel. Mich erinnerte die Gedankenführung an ein Buch, das ich nun suchen werde, um das Muster zu vergleichen.

Quelle DIE ZEIT 4.Mai 2016 Seite 44 Warum lügen und betrügen Wissenschaftler? Datenfälschungen haben den Ruf zahlreicher Universitäten beschädigt. Die Schummelei beschränkt sich aber nicht auf die Wissenschaft. Wie kann man der moralischen Entkernung der westlichen Demokratien entkommen? Ein Plädoyer wider die enthemmte Konkurrenz der Einzelkämpfer.  Von Michael Hampe.

Siehe auch: hier.

Lies das Gedicht, das mit der Zeile endet: „Was aber bleibet, stiften die Dichter“ – und immer – wie jetzt gerade – leicht verfälscht zitiert wird: korrekt hier.

Und wenn die Frage entsteht, wer eigentlich die Indier sind, die in der letzten Strophe genannt sind: wahrscheinlich sind die „West-Indier“ gemeint, bzw. die Schiffer von Bordeaux, die  auf der Garonne bis dahin kreuzen müssen, wo „meerbreit / Ausgehet der Strom“, welche also nun wieder lossegeln. (Nach Jochen Bertheau S. 117)

(Fortsetzung folgt)

Exkurs zum Sinn (mit & ohne Sinn)

Sinn Spirit aus HörZu-Radio aktuell (14-20 Mai)

Sinn Halm Sinn Becker