Archiv für den Monat: November 2015

Anlässlich der Gülke-Lektüre

Zur Bratschen-Melodie am Anfang der Zehnten von Mahler

Eine Übung

Ich folge einer spontanen Idee: anknüpfend an meine frühe Mahler-Begeisterung möchte ich genau verstehen, was Peter Gülke zum Beginn der Zehnten Sinfonie schreibt. Ich weiß, jeder Satz hat Hand und Fuß, aber es fällt mir doch schwer, Wort für Wort zu verstehen, – was Note für Note gemeint ist; ich möchte den Weg über den Notentext zur deutlich imaginierten Melodie abkürzen. Ich bezeichne daher jeden Ton der Melodie mit einer Zahl und vermerke diese in roter Farbe an der jeweiligen Stelle des Gülke-Textes Seite 325 f.

Mahler X Bratsche

Zur vergleichenden orthographischen Orientierung sei hier die Mahlersche Handschrift eingefügt (per Screenshot dem Petrucci-Faksimile entnommen, siehe hier):

Mahler Adagio Handschrift Anfang

ZITAT Gülke (mit Einfügung der roten Ton-Nummerierung laut Notenbeispiel oben)

Dem einleitenden, 15-taktigen Solo der Bratschen schreibt er „Andante“ und „pp“, sonst außer drei Akzenten nichts vor; danach hingegen begegnen detaillierte Anweisungen zuhauf. Gewiss in seinem Sinn ist das „pp“ in der Einrichtung für Orchester von Deryck Cooke zu „teneramente, pp e sotto voce“ erweitert worden. Damit wird fast Unmögliches verlangt – Enthaltsamkeit beim Vortrag einer von rhetorischer Gestik, thematischer Potenzialität und Expressivität berstenden Melodie, die zugleich sich den Anschein frei schweifender Beliebigkeit gibt.

Dreimal in ähnlichen Wendungen holt sie in einer Ab-auf-Kurve Schwung, um die Höhe der Töne g‘ (4), dann h‘ (10), endlich cis“ (14) zu gewinnen – Letzteres in einer abgeflachten Schleife. Dort kommt es im Crescendo (?) zu einem durch die spröde Lage der Bratschen betonten Energiestau, der sich zum d“ (15) als höchstem Melodieton hin entlädt. Es lässt sich nicht halten; so folgt ein Abstieg in Vierteln (15-21), der das vom vorgezeichneten Fis-Dur abweichende, als harmonischer Bezugspunkt hinterlegte h-Moll bestätigt – mit Ausnahme der letzten Note im siebten Takt (22). Dort erwartet man nach einer kleinen Terz ( 20-21) [den Ton] h, wonach die bis zur vollstimmigen Harmonie der Takte 16 ff. verbleibende Strecke diatonisch plausibel einen Halbton höher erklänge, ausgenommen der letzte Takt (34), dessen ais zum eintretenden Fis-Dur (Adagio) gehören würde. Mahler jedoch lenkt unsere Wahrnehmung mit dem statt h eintretenden b (22) in einen als nach unten gedrücktes Fis empfundenen F-Bereich und befestigt dies in zweimal vier Takten (23-28, 29-34) und je paarweise in rhythmisch-melodischen Entsprechungen. Nach der Hinführung f-g-a (31-33-34) in den Takten 13 bis 15 erwartet man den Adagio-Beginn auf B. [Der Autor meint nicht den Ton ais, der ja mit b identisch wäre, sondern den Akkord auf B.] Jedoch tritt Fis ein (Bass-Ton des Adagiobeginns), die vorgezeichnete, bislang gemiedene Grundtonart als Mediante des Erwarteten!

Was dieser Trugschluss – im Sinne der klassischen Harmonielehre – an Befestigung schuldig bleibt, besorgt der Eintritt des vollstimmigen, durch Posaunen und sonore tiefe Streicher geprägten Satzes. Dies verschafft dem Fis-Dur, weiab von der Selbstverständlichkeit einer etablierten Grundtonart, ein den gesamten Satz überstrahlendes Charisma, an den Gravitationspunkten erklingt das Thema, insofern einer sonatenhaften Verarbeitung halb entrückt, stets in Fis. Die unverhohlen Bruckner’sche Dreiklängigkeit ist die einzige satzbestimmende Prägung, die im Unisono der Bratschen, und sei’s kryptisch, nicht aufscheint. Immerhin ergibt sich ein komplementäres Verhältnis insofern, als die Bettung im Klang weit ausgreifende Intervallschritte und enormen Ambitus ermöglicht, den das Unisono zuvor in meist kleinen Schritten ausmessen musste – nicht ohne Mühe, wie die erst über mehrere Impulse erreichte, in den langen Tönen h‘-cis“-d“ (10-14-15) knapp gehaltene Höhe verdeutlicht. Zwar kommt die Melodie nach dem Abstieg zur Ruhe, jedoch am „falschen“ Ort (23). Als Verweil- und Haltepunkte finden die drei hohen Töne eine Entsprechung im ebenfalls aufsteigenden f‘-g‘-a‘ (31-33-34) der Takte 13-15, welches seinerseits dem absteigenden Chroma a‘-as‘-g‘ (23-26-29) der Takte 8 bis 12 antwortet.

Derlei die Machart der Musik betreffende Auskünfte erscheinen hilflos abstrakt in Bezug auf das, was die Musik ist und sagt, etwa, wieviel Suche, wo nicht Sehnsucht nach einer auffangenden Harmonie in ihr mitarbeitet. So bleibt das anfangs implizierte h-Moll tatsächlich hinterlegt, gibt kaum Halt. Noch mehr treten harmonische Verbindlichkeiten zurück, wenn Mahler am Ende des siebten Taktes das erwartete h‘ zu b‘ (22) alteriert und damit das Folgende um einen Halbton nach unten drückt. Nach Maßgabe des Quintenzirkels ergibt das einen riesigen Abstand, doch nimmt man ihn kaum wahr, weil eine Halbtondifferenz in der Linie vergleichsweise geing wiegt. Inddem das Unisono der Bratschen scheinbar ungestützt herumhangelt, umschreibt es die Leerstelle der vorenthaltenen Bettung nachdrücklich. Wenn diese eintritt, wird das, verstärkt durch den Trugschluss, zum Ereignis, zu großer Ankunft. Das vor allem, erst in zweiter Linie die am Choral orientierte Setzweise, nährt sein Charisma, die Aura einer je neu herabkommenden Epiphanie.

Nun, da sie gefunden ist, gebiert und trägt die Harmonie die Melodie ebenso sehr, wie sie sie begleitet, weshalb große Intervallschritte leicht genommen werden, die im Unisono Mühe gemacht hatten, und eine in Bezug auf die Linie eingreifende Veränderung wie die Umkehrung die Prägung fast identisch lässt (Takte 20, 63, 133, 213 etc.).

Ab hier wird bereits eine weiterreichende Partiturkenntnis vorausgesetzt. Aber auch ohne sie bleibt die Lektüre nicht ohne Gewinn. Es geht um die Kollision zwischen Leben und Werk, um einen „Lernprozess, zu dem Mahler verurteilt war, ein Ineinander von Werkstruktur und „document humain“, wie man es zuvor selbst bei ihm nicht kannte, an dessen Authentizität jegliche Abwehr biografischer Trübungen der ästhetischen Autonomie scheitert.“ (S. 328)  Es war offenbar der Moment, als Mahler von der Liebschaft seiner Frau Alma erfuhr und er verzweifelte verbale Ausbrüche in die Skizzen seiner Partitur kritzelte. Sein Tod war nahe.

Quelle Peter Gülke: Musik und Abschied / Bärenreiter Kassel Basel london NewYork Praha 2015 (Seite 325 ff)

Anlässlich der Han-Lektüre

„Topologie der Gewalt“

Es gibt Schwierigkeiten, die eine philosophische Lektüre behindern, nur weil man die Möglichkeiten des Internets nicht nutzt. Manch einem erscheint es vielleicht anachronistisch, sich mit einem Buch vor den Computer zu setzen, mir durchaus nicht.

Wie soll ich denn das Wissen kompensieren, das Byung-Chul Han offenbar voraussetzt? Vielleicht auch nur, weil es ihm durch die Arbeit an seinem Thema derartig geläufig geworden ist. Und es finden sich zwar allerhand Anmerkungen, die dem wissenschaftlichen Anspruch genügen, aber keine Ermunterungen, die der unorthodoxen Selbsthilfe bei gedanklicher Arbeit zugute kämen. Das Gegenteil durchaus:

Auch die neuen Medien und Kommunikationstechniken verdünnen das Sein zum Anderen. Die virtuelle Welt ist arm an Andersheit und deren Widerständlichkeit. In den virtuellen Räumen kann sich das Ich praktisch ohne das ‚Realitätsprinzip‘ bewegen, das ein Prinzip des Anderen und des Widerstandes wäre. In den imaginären Räumen der Virtualität begegnet das narzisstische Ich vor allem sich selbst. Die Virtualisierung und die Digitalisierung bringen das Reale immer mehr zum Verschwinden, das sich vor allem durch seine Widerständlichkeit bemerkbar macht. Das Reale ist ein Halt in seiner doppelten Bedeutung. Es bewirkt nicht nur Unterbrechung oder Widerstand, sondern auch Halt und Rückhalt.

Quelle Byung-Chul Han: Topologie der Gewalt / Verlag Matthes und Seitz Berlin 2011 (Seite 45f)

Das ist schön und belehrend, verstärkt mich allerdings in einem Widerstand, der mir bei der Lektüre des Buches hinderlich ist, so reizvoll widerständig und wenig zielführend er sich auch anfühlt. Ich muss einen schnellen Begriff finden für bestimmte Grundgedanken und deren Urheber, die für Hans Gedankengänge eine wesentliche Rolle spielen. (Daher die schrittweise nachgetragenen Klicks, die eine Information ermöglichen, wie oberflächlich auch immer.)

Das wären im ersten Teil, Kapitel 2 René Girard, Kapitel 3 Sigmund Freud, Richard Sennett und Alain Ehrenberg, Kapitel 4 Carl Schmitt, Walter Benjamin und Giorgio Agamben.

Im zweiten Teil, Kapitel 1 Galtung, Bourdieu und Žižek, deren Vornamen – wie auch sonst – wir nicht erfahren, Kapitel 2 Foucault und wiederum Agamben. Kapitel 3 Baudrillard, Kapitel 5 Lévinas und Serres, Kapitel 6 Deleuze und Hegel, Kapitel 7 Hardt und Negri, Kapitel 8 Agamben und sein „Homo sacer“ mit einer ausführlichen, kleingedruckten Erläuterung.

Schon Seite 14 begegne ich dem „Muselmann“, mit dem ich nichts anfangen kann, es sei denn in Erinnerung an einen blöden Kanon oder ich schaue ins Internet. Oder ich springe zufällig in den Schluss des Buches (Seite 167), wo zu lesen ist:

Die Muselmänner sind die total entkräfteten, ausgemergelten und apathisch gewordenen Lagerhäftlinge.

Allerdings habe ich mich gerade kundig gemacht, nämlich unter dem Stichwort https://de.wikipedia.org/wiki/Muselmann_%28KZ%29, also hier. Wie auch zu all den Namen, sofern sie mir nicht ganz geläufig waren, und genau das werde ich jetzt oben nachtragen. Mir scheint unterdessen, dass Han weitestgehend Agamben folgt, insbesondere dessen Homo – sacer – Projekt, in dem auch die meisten von jenem genannten Namen auftauchen. (Dazu siehe auch hier – homo sacer – sowie hier – Zwölftafelgesetz der Römer – und schließlich, noch einmal auf Agamben bezogen, hier.)

Und was die islamistische Gewalt betrifft, die uns gerade in Paris erschüttert hat, sollte man sie nicht mit der verwechseln, die den „Muselmännern“ angetan worden ist.

Gewalt in der Gestalt des Terrors, der uns vor allem sinnlos erscheint, weil er nicht unmittelbar zu einer Ausweitung von Macht auf der einen Seite führt, sondern nur zu einem Bewusstsein der Ohnmacht auf der anderen Seite, ist offenbar nicht Gegenstand dieses Buches. Ein einziges Mal wird das Thema berührt, das im Augenblick zur gründlicheren Erarbeitung des Phänomens führen könnte, auf Seite 155 f:

Nach dem Untergang des Kommunismus hat der Kapitalismus kein Außen mehr, das ihn ernsthaft gefährden würde. Selbst der islamische Terrorismus ist keine Manifestation eines ebenbürtigen Machtlagers, das das kapitalistische System wirklich bedrohen würde. Es kann ihn sogar absorbieren und in systemische Energien umwandeln, die es stabilisieren. Denkbar wäre allein eine Implosion des Systems durch dessen Überhitzung und Übersteuerung.

Schumann-Projekt, dritter Teil

Streichquartett op. 41 Nr. 3

Zu Beginn der Frust: es macht keinen Spaß, diese zweite Geigenstimme zu üben. Man muss also wohl das Gesamtergebnis im Ohr haben. Ich habe es noch nie in meinem Leben gehört. Eine riesige Chance! Ich betrete also Neuland, wenn ich mit dieser Aufnahme beginne, und der Botticelli im Hintergrund stimmt mich froh.

Info über das Quatuor Ebène HIER.

Ich markiere die formalen Angelpunkte: Einleitung, die fallende Quinte 0:08 bis 0:52 / Haupttempo (Thema beginnt mit fallender Quinte) ABA 0:53 – 1:23, ab 1:23 heftiger Neuansatz, Entschluss nicht zu „zerfließen“, dennoch Thema – mit Bratsche – auf neuer Ebene, verebbt in 1:34, ab hier neuer Charakter, synkopisch-nervös, bzw. alle schlagen nach , nur die 1. Geige spinnt motivisch geradlinig weiter: bis 2:17, hier im pp innehaltend, bis 2:30 bereits epilogisch ausklingend. Abschlussgedanke bis 2:41. Wiederkehr des Anfangsmotivs als letzter Gruß bis 2:46. Wiederholung dieser ganzen Exposition (ohne Einleitung) bis 4:42. Und noch einmal scheint der Anfang wiederzukehren, wird aber abrupt unterbrochen bei 4:49. Eine heftige „Suche“ beginnt. Wer in den Schemata der Formenlehre denkt, wird dies als „Durchführung“ erkennen und als Ziel eine Reprise erwarten, – die aber aus bleibt oder nur zögerlich eingelöst wird, ab 5:28. Stattdessen nachdenkliches Innehalten. Und das Cello führt nun unmittelbar in den zweiten Abschnitt, der in der Exposition ab 1:34 auf den Plan trat und dort als „neuer Charakter“ bezeichnet wurde. Im weiteren verläuft nun alles nach dem Muster der Exposition, wenn auch in anderer Tonart. Bis 6:48 (oben „epilogisch ausklingend“). Der „Abschlussgedanke“ – er fungiert hier wie eine nachgelieferte „korrekte“ Reprise –  führt jetzt zu einer kleinen Climax, „künstlich“ ins piano gedehnt, fallende Quinte im Cello als Ausklang. 7:20 Ende des ersten Satzes.

So etwa würde ich den Verlauf des ersten Satzes mit Worten begleiten, nur um auf das aufmerksam zu machen, was geschieht, was also „eigentlich“ sowieso von jedem zu hören ist. Aber erst wenn das ganz klar ist, könnte man zu deuten beginnen. (Aber im Grunde gehörte oben das Wort „Suche“ schon in den Bereich der Deutung.)

Ich schaue, was der schon mehrfach zitierte Arnfried Edler zu diesem Satz zu sagen hat. Er hebt im Vergleich zu den beiden anderen Kopfsätzen des op. 41 diesen hervor:

Einzig die Durchführung des A-Dur-Quartetts Nr. 3 macht eine Ausnahme: in diesem Stück, wo sich Schumann der klassischen Thematik am nächsten befindet, schrumpft die Durchführung auf eine einzige kurze Sektion mit den beiden kontrastierenden Motiven des Hauptthemas zusammen, dessen Wiedererscheinen in der Reprise dafür gestrichen ist, so daß die gesamte Durchführung (TT 102-145) gewissermaßen den Hauptthemenkomplex in der Reprise vertritt. Doch stellt diese Konzentration der Form einen absoluten Sonderfall dar; sie erinnert an Schuberts Finale des d-Moll-Streichquartetts. Zu bemerken ist, daß das kontrapunktische Element, das auch schon in der Exposition hervortrat, in der Durchführung eine erhöhte Bedeutung gewinnt, jedoch zumeist in Gestalt isolierter Episoden, als eine besonders hervorgehobene Transformation des Materials unter anderen.

Quelle Arnfried Edler: Robert Schumann und seine Zeit / Laaber-Verlag 1982  (Seite 167)

(Fortsetzung folgt in einem späteren Beitrag, z.B. hier)

Ein lastender Termin vorüber. Ein guter Tag. Ein neues Buch:

Gülke Musik und Abschied a Gülke Musik und Abschied b  Seite 178:

Klassische Formen nehmen unsere Wahrnehmung bei der Hand, nur zu gern lassen wir sie gewähren. Sie bestimmen die Grade der Aufmerksamkeit – hier ein wichtiges Thema, das uns ganz und gar einfordert, dort eine modulierende Passage, bei der es nicht vonnöten ist etc. – insgesamt eine freundlich- sachbezogene Bevormundung, polemisch gesehen: Herrschaftsmittel eines Systems, welches vorschreibt, was wichtig und was nicht wichtig ist, und der Unbefangenheit des Hörens, dem radikal offenen Ohr entgegenarbeitet.

Dessen aber bedarf neue Musik, heute zumal angesichts permanent und meist falsch beanspruchter Ohren. „Daß nur ein Hören, das sich dem individuellen Stück mit Haut und Haar ausliefert und es nicht nur ohne Vorurteile, sondern ohne Erwartungen einer bestimmten Form von Sinn aufnimmt, zur Tiefendimension der sich ereignenden Musik vordringt“ – dessen ist sich Hans Zender sicher und versteht „Ereignis“ durchaus im emphatischen, von Heidegger und in George Steiners „Realer Gegenwart“ gemeinten Sinn. Nur allzu sehr im Recht, lässt er beiseite, dass Erwartungen – erfüllte, enttäuschte, im Verlauf vorgegebene – beim Hören allemal dabei, wir darauf angewiesen sind, zwischen mehr und weniger wichtig zu entscheiden, dass selbst dumpfe Vorahnungen von sinnvoll Gestaltetem von Erwartungen irgendeines roten Fadens grundiert sind. Jegliches Neue muss sich zu schon Vorhandenem verhalten, auch sich dagegen definieren – und ist, so sehr es den Blick abwenden will, auf den Bezug angewiesen.

Quelle: das oben abgebildete Buch von Peter Gülke. ISBN 978-3-7618-2401-6

Nachtrag (einige Tage später)

Der Wert dieses Buches ist in Worten gar nicht auszudrücken. Zu bedauern bleibt nur, dass der Text zur Musik oft so schwierig ist, dass Nicht-Musiker, die Ähnliches erlebt und gefühlt haben wie der Autor, nämlich den Tod eines geliebten Menschen, nicht auf die Idee kämen, intensiver hineinzuschauen. Ich würde es auch an Freunde verschenken, die eine ganz andere Musik lieben als die, die darin behandelt wird. Vielleicht mit dem Hinweis, nur die kursiv gedruckten Texte zu lesen: Am Abend zuvor, die Selbstgespräche I bis V und Ad finem, dann etwa den Text „Todes-Erfahrung“ auf Rilke, die Totenrede „Vox humana“ auf Dietrich Fischer-Dieskau. Man wird dies alles ein Leben lang nicht vergessen. Es gibt kein zweites Buch von diesem musikalischen und menschlichen Rang. Man kann nicht umhin, schließlich auch in die Musiktexte abzudriften und eine ernsthafte Neigung zu entwickeln, all diese Erfahrungen nachzuvollziehen. Bis auf die eine, unausweichliche.

Musik in Uganda

Den Tag mit einer Schnell-Recherche beginnen

Uganda ZEIT

Ich muss das ganz lesen, weil ichs nicht verstehe: „Und sie so…“ Was soll das? Fehlt da ein Wort? „…singt…“ oder : „…antwortet…“?

Im Artikel steht es anders (zuviel Pedanterie? Als kleine Übung aber doch wohl brauchbar):

Als Deena im Nationaltheater anfängt zu singen, werden die 400 Leute im Publikum totenstill, dann fangen sie an zu lachen – ungläubig, überzeugt davon, das sei Playback.

Aber dann kommt Deena zum A-Cappella-Teil, den sie extra für diesen Fall eingebaut hat. Sie singt: Omutima gunuma nga simulabye. „Mein Herz zerbricht, wenn er nicht bei mir ist.“ Das Publikum fängt an zu jubeln. Deena singt und singt. Mumulete! bringt ihn zu mir! Und das Publikum jubelt lauter. Mumulete“

Sie stellen den Song ins Netz und kriegen 10 000 Abrufe in 24 Stunden. Am selben Tag ruft das ugandische Fernsehen, will Deena ins Studio haben. Sie gibt an diesem Tag drei Interviews.

Quelle DIE ZEIT 12. November 2015 Seite 87 (Chancen) Und sie so:Omutima gunuma nga simulabye“#  Wie es ist, in Uganda Popstar zu werden – als weiße Frau. Von Bastian Berner.

Ich finde den Titel auf youtube: 58.095 Abrufe , 342 likes, 25 dislikes. Die Kommentare  sind aufschlussreich. Ich denke: wozu die Gewaltszenen? absatzfördernd? Damals: als wir im WDR Musik aus Uganda produzierten, faszinierte das rhythmische Moment und das „Gewebe“ der Strukturen. Aber soll ich hier den Meckerer auf Außenposten abgeben? (Die einzige Kritik dieser Art kommt offenbar – aus Germany)

ZITAT aus den Kommentaren bei youtube:

I thought africa is the home of rythmical music genius, how can the people like such a crappy and dull beat? Not even the people here in germany would like it.

ZITAT aus DIE ZEIT (Quelle wie oben)

Es gibt keine KritiK?

„Ein paar Leute haben auf You Tube gesschrieben: ‚Yeah, ich bin weiß und singe auf Luganda, ich bin so cool!‘ Aber das kommt immer nur von Weißen. Immer! Ich kann dann nur fragen: Wer gibt euch das Recht, für die Ugander zu entscheiden? Niemand! Ihr könnte eure Meinung äußern, aber ich nehme das nicht ernst. Wenn die Ugander irgendwann sagen, wir haben keinen Bock mehr auf dich, dann lasse ich es bleiben.“

Aber die Ugander lieben sie.

Überblick zur Musik in Uganda: HIER (https://en.wikipedia.org/wiki/Music_of_Uganda)

Die Erinnerungen gehen weit zurück, die ersten Begegnungen mit Evaristo Muyinda im WDR Köln gab es vor 1990, für die wissenschaftliche Begleitarbeit zuständig: Barbara Wrenger. (Hochinteressant das von Tiago de Oliveira Pinto aufgezeichnete Gespräch mit Gerhard Kubik über seine Lehrzeit bei Evaristo Muyinda HIER) – ZITAT:

Der erste Schock, als Muyinda mich auf dem 12stäbigen amadinda-Xylophon zu unterrichten begann, war daß er von mir verlangte, eine sich ständig wiederholende Reihe völlig gleichbleibender Schlagabstände zu spielen, von der er sagte, das nenne man „okunaga“. Ich hatte das nicht erwartet. Ich hatte das erwartet, wovon in den Büchern immer die Rede gewesen war: Formeln und komplizierte Rhythmen. Ich errinnere mich noch, daß ich bei diesem Anfang des Unterrichts zu zweifeln begann, ob Muyinda mir „the real thing“ zeigte. Der okunaga-Part erschien mir als solcher zu einfach, ja noch einfacher als die Rhythmen in der europäischen Musik. Das sollte Afrika sein? Dennoch lernte ich diese Reihe gewissenhaft und schlug sie mit den zwei parallel gehaltenen Schlegeln auf dem Xylophon in einem Intervall an, zu dem mir einfiel, dass dies Oktaven seien. Muyinda hatte auch dafür einen Ausdruck. Er sagte dafür: „miyanjo“.

Uganda Evaristo a Uganda Evaristo b

Uganda Acholi CDUganda Acholi b

Uganda Oppermann  Uganda wirkt weiter…

Eine völlig andere Sache:  Geoffrey Oryema war 2001 zu Gast in der Matinee der Liedersänger.

Thomas Daun, seit 1982 freier Mitarbeiter im WDR, machte mich zum erstenmal aufmerksam auf die Arbeit von Peter Cooke, dessen Uganda-Aufnahmen (seit 1966) jetzt im Netz zugänglich sind. Ein unglaubliche Fundgrube!

Nachtrag (Selbstversuch gestern 16.11.2015)

Fahrt nach Bonn (ab 15.30 – Staus – an 16.45, Rückfahrt 22.00 bis 23.00) mit Musik auschließlich CD „Evalisto Muyinda“ (s.o.), auf der Rückfahrt hatten sich die Lieblingstitel „eingependelt“: Tr. 7 und 8.

(Fortsetzung folgt)

Nachtrag 10. Juni 2016

Gestern bei Markus Lanz: Hier ab 64:34 – der Eindruck, den Deena im Gespräch macht, bestätigt die Skepsis angesichts des ZEIT-Artikels damals. Dass der MUMULETE-Beitrag auf youtube nicht mehr abrufbar ist, vielleicht kein Verlust. Man kann auch bei Lanz kurz hineinhören (bei 69:27), der Mann mit der Flaschenpost sitzt übrigens hier im Publikum. Deena: „Das Große an mir ist, glaube ich, dass ich das ganze ernst nehme…“ Absolut, total! Und Lanz: „… eine unfassbare Lebensgeschichte! Ein wahnsinnig schöner Flecken Erde … war selber mal da…es gibt wenig Landschaften, die einen so berühren wie Ostafrika, das geht einem wirklich unter die Haut…“ Ende 72:52.

Nachtrag zur spanischen Mystik und Zurbarán

Die Suggestion des Ausdrucks „Siglo de Oro“ (siehe Wikipedia-Artikel), die Blüte von Kunst und Literatur, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass all dies nur mit Hof und Kirche zu tun hatte, nicht mit der breiten Bevölkerung. „Aufstieg und Abstieg Spaniens als Welt- und Großmacht sind (…) eng verknüpft mit Reformation und Gegenreformation. Spanien fühlte sich als stärkste Vormacht des Katholizismus, fand aber zu keinem Zusammenwirken mit der anderen katholischen Großmacht Frankreich. Selbst im Verhältnis zum Papst bestanden Spannungen und Konflikte.“ (…) „Dazu schwächte sich Spanien selbst im Innern durch Massenaustreibungen gerade der ökonomisch aktivsten Teile seiner Bevölkerung.“
So schreibt Imanuel Geiss in seiner „Geschichte im Überblick“ (s.a. weiter unten).
Ich würde gern dem Gedanken nachgehen, ob die bedeutende Entwicklung der spanischen Mystik – die ja auch im Werk Zurbaráns zum Ausdruck kommt – nicht gerade mit den äußeren Zwangsverhältnissen zu tun hat. (Ähnlich wie die Entwicklung der deutschen „Innerlichkeit“ mit den politischen Restriktionen der Zeit nach dem Wiener Kongress und schon vorher im Pietismus der Zeit des Absolutismus angelegt war. Stichworte Fürstenwillkür – Metternich – Geheimdienst – Polizeistaat…)
Merkwürdigerweise finde ich eine unverblümte Darstellung ausgerechnet in einem stark spirituell orientierten katholischen Zusammenhang (Zitat folgt): der Grund ist wahrscheinlich, dass auch die Mystik, der (Aus-)Weg nach Innen, verdächtig erschien und verfolgt wurde.

Der spanische Hof lebte damals in üppigem Wohlstand und Prunk. Madrid wurde die Hauptstadt des neuen Staates. Trotz der immensen Gold- und Silberlieferungen aus den Minen Lateinamerikas, verarmte die Bevölkerung Spaniens. Im zweiten Teil des 16. Jahrhunderts musste z.B. Getreide aus anderen europäischen Ländern eingeführt werden. Die damalige Vorstellung, dass Arbeit einem adeligen Spanier nicht gemäß sei (sicher nicht nur in Spanien), führte weiterhin dazu, dass die notwendige eigene Wertschöpfung, um den Wohlstand einer Gesellschaft abzusichern, völlig vernachlässigt wurde. Handwerk und Landwirtschaft waren im Wesentlichen in den Händen der konvertierten Mauren. Da diese aber durch Zwangsumsiedlung, Unterernährung, Unterdrückung des Glaubens und damit bedingte Abwanderung immer stärker dezimiert wurden, verarmte Spanien mehr und mehr. Ein spanisches Sprichwort „tiene moro tiene oro“ – „hat man Mauren, hat man Gold“, macht die Bedeutung der Mauren für die Wertschöpfung deutlich. Einige regionale Fürsten z. B. aus Valencia und Aragón, setzten sich deshalb auch für den Verbleib der Mauren in Spanien besonders ein. Jedoch schon vor der endgültigen Vertreibung im Jahre 1609 zogen zahlreiche Handwerker aus den ‚europäischen’ Ländern nach Spanien, um die Versorgung der wohlhabenden Schichten zu ermöglichen und davon zu profitieren. Große Bedeutung hatte die spanische Inquisition, sie kann gewissermaßen als ein ‚staatlicher Geheimdienst’ betrachtet werden. Ihr Auftrag war es, die Macht des altchristlichen Hochadels und des spanischen Großreiches zu sichern. Die christliche Religion (und die damals damit verbundenen Vorstellungen) wurde als einendes Mittel eingesetzt und jegliche Abweichung verfolgt und bestraft. Die bekannten und berüchtigten Autodafés (Ketzerverbrennungen), waren Massenveranstaltungen, die besonders auf die konvertierten Juden und Mauren abschreckend wirken und jegliche Opposition und Solidarität verhindern sollten. Im spanischen Hochadel, im Klerus und in der Bevölkerung gab es trotzdem beachtlichen Widerstand gegen die Unterdrückung der Juden und Mauren. Mit der Inthronisierung Phillips II. 1556 wurde die Rolle der Inquisition noch verstärkt, dies fand zum Beispiel auch Ausdruck in einer Liste der verbotenen Bücher, dem Index Valdés, der auch ein Verbot fast aller mystischen Schriften und die Übersetzungen der Bibel in die spanische Sprache enthielt. Fray Luis de León, ein spanischer Mystiker und Gelehrter, wurde für seine Übersetzung des „Hoheliedes“ aus dem Hebräischen ins Spanische fünf Jahre in einem Gefängnis eingekerkert.

Quelle http://www.johannes-akademie.de unter „Spanische Mystik“.

Zur spanischen Inquisition (bis 1834!!!) siehe Wikipedia HIER

Insofern liest sich auch in einer kurzgefassten, aber zuverlässigen Geschichtschronik die spanische Situation im „siglo de oro“ ziemlich ernüchternd:

Der spanischen Wirtschaft eröffnete sich mit der Massenauswanderung in die Kolonien Amerikas ein riesiges Betätigungsfeld, ähnlich wie den Griechen nach dem Alexanderzug im Vorderen Orient. [vgl. Zurbaráns Verkauf von Bildern seiner Werkstatt nach Übersee! JR] Aber die Reichtümer aus der Neuen Welt kamen Spanien am wenigsten zugute. Vor allem das amerikanische Silber floß zur Bezahlung spanischer Söldner für den Kampf gegen die niederländische Unabhängigkeitsbewegung (seit 1572) durch Spanien in den Norden ab und trug dort zur führenden Rolle Hollands in der ursprünglichen Akkumulation bei. Drei Staatsbankrotte Spaniens (1557, 1576, 1596) sprechen für die ökonomische Überanstrengung durch pausenlose Kriege.

Dazu schwächte sich Spanien selbst im Innern durch Massenaustreibungen gerade der ökonomisch aktivsten Teile seiner Bevölkerung. Der Vertreibung der Juden im Epochenjahr 1492 folgte die der seit der Eroberung Andalusiens (1492) gebliebenen Moriskos (1609-14).

(…) In den ständigen Kriegen gegen die einen oder anderen seiner zahlreichen Gegner hatte Spanien nie eine Chance zur inneren Konsolidierung oder gar Homogenisierung seiner heterogenen Besitzungen. (…)

Spanien wurde auch Opfer seines ehrgeizigen Engagements für die Gegenreformation, und hier mißlang so gut wie alles: (…)

Mit Philipps II. Tod (1598)  hatte Spanien bereits seinen Höhepunkt überschritten. Von da an ging es nur noch bergab: (…) … Vertreibung der Moriscos …

Auf dem Papier umspannte Spanien mit dem portugiesischen Kolonialreich nunmehr die gesamte Erde, machte sich damit aber auch verwundbarer, vor allem gegenüber den nachdrängenden Holländern (ab 1598). (…) [JR: Geburtsjahr Zurbaráns!]

Und heute wieder aktuell, – Thema katalanische Unabhängigkeit:

Vorher schon hatte die permanente Überbelastung nach außen interne Spannungen mobilisiert: Der katalanische Aufstand (1640-52) eröffnete das seitdem wiederholte Aufbegehren Kataloniens gegen die zentralisierende Dominanz Kastiliens (1705-14, 1833-40, 1873-76, 1934, 1936-39, ca. 1970-79): Katalonien wurde Republik und unterstellte sich Frankreich.

Quelle Imanuel Geiss: Geschichte im Überblick Daten und Zusammenhänge der Weltgeschichte / Rowohlt Sachbuch Reinbek bei Hamburg 1986 (Seite 272 ff)

Erste Ausbildung des neuzeitlichen Rassismus

(…) Die Folge war nicht nur jenes Edikt von 1492 zur flächendeckenden Zwangsbekehrung, sondern damit verbunden eine, den späteren Hexenverfolgungen nicht unähnliche Politik des Verdachts. Angesichts der unsicher gewordenen Kriterien der Zugehörigkeit zum Christentum bemühte man sich, den Unglauben im allgemeinen und das Judentum im besonderen noch in seinen verstecktesten und entstelltesten Formen aufzuspüren, um ein einheitliches katholisches Spanien in natürlicher Reinheit herzustellen. besonders im Blick auf jene große, durch die jahrhundertelange Verfolgungspraxis überhaupt erst geschaffene Gruppe der teilweise seit Generationen Konvertierten, die dennoch – wirklich oder angeblich – an den jüdischen Traditionen festhielt, verwandelte sich die klassische Frage nach der ‚Reinheit des Glaubens‘ in die neue, nun aber entscheidende Frage nach der ‚Reinheit des Blutes‘ (limpieza de sangre).

Aufgrund der langen Dauer der Reconquista und der Tatsache, daß das Judentum bis zum 14. Jahrhundert in Spanien mehr als sonst in Europa ein integraler und kulturell einflußreicher Bestandteil der Gesellschaft gewesen war, konnte nun die Suche nach dem ‚unreinen Blut‘ prinzipiell jeden treffen, die Landbevölkerung ebenso wie den spanischen Adel. Zunächst nur im Blick auf die Conversos und Marranen, sehr bald aber bezogen auf das ganze Judentum sowie auf die zwangsbekehrten Muslime (moriscos), wurde jetzt zum ersten Mal von ‚Race‚ gesprochen. Hatte der noch junge Begriff bis dahin allein in der Pferdezucht und in der Verherrlichung adeliger Geschlechter eine Rolle gespielt, so diente er jetzt der Aufspürung zu bekehrender Gruppen.

(…) Historisch wurde hier zum ersten Mal die Bedeutung der christlichen Bekehrung und der Taufe als eindeutiges Kriterium der Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft aufgeweicht und untergraben. Um der darauf reagierenden Politik der Zwangsbekehrung ein Objekt zu geben, wurden mit Hilfe des Rassenbegriffs neue, scheinbar natürliche Kategorien der Zugehörigkeit erfunden. An die Stelle des Glaubensbekenntnisses trat jetzt die Abstammung als zentrales Merkmal von Zugehörigkeit.

Quelle Christian Geulen: Geschichte des Rassismus Verlag C.H.Beck München 2007 (Seite 34 f)

Nicht von dieser Welt, doch greifbar

(Ins Unreine, ab Samstag 8. November)

Francisco de Zurbarán

Es wird soviel von Stoffen und Stofflichkeit geredet, von der Kostbarkeit der Materialien, der Greif- und Tastbarkeit der Oberflächen, Kleider-Mode (?), der Vater war Stoffhändler, das Sackleinen des Heiligen Franciscus, das voluminöse Lendentuch Christi, und wenn man das Kreuzigungsbildnis in einen matt erleuchteten Altarraum stelle, könne man es nicht von einem realen Kruzifix unterscheiden. Im Film entbrennt eine Betrachtung zwischen dem Kurator Beat Wismer und einem spanischen Zurbarán-Kenner mit folgendem Verlauf:

„Wir wissen nicht, ob das der Maler der Kreuzigung ist. Steht der Maler vor einer Skulptur? Steht er vor einer realen Kreuzigung? Und dann gibt es noch ein sehr interessantes Detail: Hier sieht man eine Landschaft, oder zumindest einen Teil der Landschaft.“

„Da stimme ich Ihnen zu. Es ist in der Tat ein Konzept-Gemälde. Für mich gibt es ein entscheidendes Element in diesem Bild. Das Element des Maßstabs. Die Christusfigur ist nur ein wenig kleiner als die Figur des Malers. Dadurch suggeriert es uns, weil es das im Unklaren lässt, dass die Figur auf der rechten Seite, der Maler, auf ein Abbild von etwas schaut. Es ist möglicherweise eine Skulptur – wie Sie sagen -, es könnte aber auch ein gemaltes Bild sein. Es könnte aber auch das Gemälde einer Skulptur sein!? Möglicherweise auf den heiligen Lukas, der traditionell als Maler dargestellt wurde.“

„Oder eine Vision?“

„Oder eine Vision! In der Tat. Es ist oft gesagt worden, – und ich denke, dass etwas Wahres daran ist -, dass es sich hierbei um ein Selbstportrait des Künstlers handelt. Nicht unbedingt um ein normales Portrait. Es kann sich dabei auch um ein konzeptuelles Portrait handeln. Eine Selbstprojektion des Künstlers auf das Bild des Malers. Wir sehen also den hl. Lukas, der den gekreuzigten Christus betrachtet.“

Zurbarán Selbst Screenshot 2015-11-08 11.16.01 Screenshot aus der DVD (s.u.)

Wenn man sich an Navid Kermanis Beschreibung desselben Bildes erinnert, wird schnell klar, wie naiv sie ist:

Jesus im selben Saal des Prado noch auf einem weiteren Bild gekreuzigt zu sehen, jetzt mit einem Maler zu seinen Füßen, entweder Lukas, so heißt es auf der Tafel neben dem Gemälde, oder in bitterer Selbsterkenntnis Zurbarán selbst, der begeistert darüber, ein so spannendes, ausdrucksstarkes und noch dazu lebendes Modell gefunden zu haben, am Kreuz hochblickt, die Palette bereits in der Hand, statt dem Gemarterten zu helfen, ihm Wasser zu reichen, Hilfe zu rufen, damit jemand die Nägel aus seinen Händen und Füßen zieht, und wenn es keine Hilfe gibt, wenn Gott auf Erden nicht einmal seinem eigenen Sohn hilft, dann die Hände vor Verzweiflung in den Himmel zu strecken oder auf den eigenen Kopf zu schlagen, weil Gott dann auf Erden vermutlich niemandem hilft. Oder straft er etwa nur diejenigen, die ihm am nächsten stehen, läßt zynisch den Amtsträger, den Reichen, den Künstler triumphieren? „This work subtly refers to the idea that art’s greatest merit is its potential for use in the service of religion“, heißt es auf der Tafel weiter, die ein anderes Gemälde meinen muß.

Quelle Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum / C.H.Beck München 2015 (Seite 161 f)

Zurbarán DVD a       Zurbarán DVD rück

ZITAT

Zurbaráns Zeit war zutiefst geprägt von der spanischen Mystik. Das zuweilen Erstarrte seiner Bilder, vor allem im Frühwerk, ist wohl auch jenen Formeln geschuldet, mit denen die katholische Kirche die Macht über die anmaßenden Körper und Geister zurückerobert: durch Dekrete zur religiösen Malerei, die sie in der Folge des gegenreformatorischen Konzils in Trient 1563 erlässt.

(…)

Ein einziges Mal scheint Zurbarán sich selbst gemalt zu haben, um 1655/60, in dem „Gekreuzigten mit einem Maler“. Gewiss ist es nicht und doch offensichtlich: Der alte Maler steht, in tiefe Kontemplation versunken, zu Füßen des verstorbenen Gekreuzigten und hebt seinen Blick zu Christus. Die rechte Hand hat er ans Herz gelegt, in der linken hält er eine Palette mit Pinseln. Er trägt eine malvenfarbene Tunika, was manch einen veranlasste, darin die Figur des Apostels Lukas zu sehen, den Patron der Maler. Schemenhaft dunkel hinter dem Kreuz schimmert ein Berg, vielleicht Golgatha. Und hier ist es wieder, dieses Verrätselte, das Spiel, das Zurbarán treibt. Aber ob Selbstbildnis oder nicht, interessant ist vielmehr, dass er hier wortlos sagt: Ich habe das gemalt. Und dass man darüber spekulieren kann, ob Zurbarán hier nicht auch seine eigene Fähigkeit als Maler göttlich beglaubigen lässt.

Quelle Ingrid Berner: Drama und Erleuchtung Göttliche Verklärung bedeutete bei Francisco de Zurbarán immer auch tiefe Menschlichkeit. Jetzt ist der faszinierende Maler in Düsseldorf zu erleben. In: WELTKUNST Eine Sonderveröffentlichung des ZEIT Kunstverlags Hamburg Herbst 2015 www.weltkunst.de

Schließlich sieht man sogar ein, dass die schönsten Bilder vielleicht doch nicht im Museum zum wahren Leben erwachen, sondern dort, wo sie am zugedachten Platz verblieben sind. Hier zum Beispiel:

Zurbarán Guadelupe 1 Screenshot 2015-11-08 09.46.46  Zurbarán Guadelupe 3 Screenshot 2015-11-08 09.47.21

Zurbarán & Musik Screenshot 2015-11-08 10.48.47

Der Heilige Hieronymus wehrt sich hier gegen die schönen Frauen und die Verführungskraft ihrer Musik. Wohl doch kein Engelskonzert?

Es ist ein Wunder, wie eine bloße Ausstellung von Bildern Menschen in Bewegung setzen kann, wie sie neue Ansprüche an sich selbst stellen, um diesen Ansprüchen durch Bilder gerecht zu werden. Vielleicht auch mit leiser Empörung zu reagieren – wie ich, bei all den Bildern von der Maria Immaculata, die nicht auf dem Boden steht, sondern auf Wolken, aus denen Kinderköpfe hervorlugen, – an der Wand zu lesen wie es zu dieser Serie kam (auch vom Vorschriften-Kanon zu erfahren, der auflistet, wie eine Immaculata-Visualisierung beschaffen zu sein hat), zu lernen, dass die ganze absurde Geschichte von der Unbefleckten Empfängnis auf eine Stelle in der Offenbarung des Johannes zurückgeht, im Sinn zu haben, was gerade in der ZEIT anlässlich der zu uns flüchtenden Männer aus dem Osten zu lesen war: wie der Blick des Mannes auf alleinstehende (auch: „allein flüchtende“!) Frau unweigerlich beschaffen ist (Quellenangabe folgt). Frage nach dem „Trompe-l’œil“, Frage nach dem senkrecht hängenden Petrus, der nicht in Düsseldorf, wohl aber in diesem Film vorkommt (und – wo er mir zum erstenmal begegnete – in Navid Kermanis Buch Seite 157 ff) usw. Nachlesen in meinem alten Lieblingsbuch: „Meisterwerke der Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Andy Warhol“ herausgegeben von Reinhard Brand, der erste Essay darin von Robert Suckale über Rogier van der Weydens Kreuzabnahme, die „Leserichtung“ bei der Bildbetrachtung, hochinteressant der Zusammenhang mit der Rhetorik des Quintilian, eine in christlichem Sinne gefilterte: durch Augustinus). Auch noch anwendbar auf Bachs musikalisch-rhetorisches Verfahren.

Die Ausstellung in Düsseldorf: HIER  (dort auch runterscrollen: man sieht einen kurzen Ausschnitt aus der DVD)

Wikipedia-Artikel zu Zurbarán, auch zahlreiche Werke des Meisters (vergrößerbar!), als viertes Der Heilige Lukas, dargestellt als Maler der KreuzigungsszeneHIER

DIE ZEIT 30.01.2014  Nicht von dieser Welt. Das großartig stille Werk des spanischen Malers Francisco de Zurbarán – eine Wiederentdeckung in Brüssel. Von Hanno Rauterberg. HIER

FAZ 23.10.2015 Ein Evergreen für die Augen Glühende Askese und mystische Versunkenheit:
Francisco de Zurbarán malte mit dem Pinsel Caravaggios und den Augen eines Inquisitors.
Eine Düsseldorfer Ausstellung entdeckt den spanischen Barockmaler. Von Andreas Kilb. HIER

Heute neu: FOLKER

In eigener Sache

JR 2015 Folker 1 kl    JR 2015 Folker 2 kl

Magazin FOLKER Heft 108 6/2015

In demselben Heft:

Fuhr Folker0005 bitte anklicken (2X)

Letzter Satz vervollständigt: … Er war zudem regelmäßiger Gast beim TFF Rudolstadt und darüber hinaus am EBU Euroradio Folk Festival und dem Weltmusikpreis Creole beteiligt.

Und nun? Wohin geht der WDR?

Nachtrag 24. Januar 2016

Noch funktioniert der Link, es erscheint folgendes Bild:

WDR Weltmusik Screenshot 2016-01-24 08.24.14

Und selbst die pdf-Links funktionieren noch. Aber nach aktuellen Programmen mit diesen oder ähnlichen Inhalten sucht man vergebens. Man forsche nur nach – „Weltmusik“ oder „Musikkulturen“ – lauter Ergebnisse aus den Vorjahren. Und schaut man sich ein ausführliche Darstellung der Hörfunkprogramme im Januar 2016 an – etwa in der Zeitschrift HörZu -, so wird man keine einzige Sendung mit Musik anderer Kulturen finden. Weder in WDR 3 noch in in irgendeinem anderen Sender. Es ist wie auf Verabredung: nach dem Jahr der großen Fluchtbewegungen aus dem Osten schotten wir unsere Sender ab! KEINE MUSIK MEHR, die nicht unter Klassik (West) oder Jazz (World) zu subsumieren ist. Natürlich: Pop die Skala rauf und runter, und dazu gehört auch Funkhaus Europa, das noch eine Weile als Feigenblatt dienen wird. Reicht es wirklich, um die Blöße zu bedecken? Oder gar als Angebot einer farbenfrohen Kleidung?

Nähe der Gewalt

Über einige Chill-Effekte und den Ernst der Lage

Barrabam

Ich möchte einige stark „emotionalisierte“ Situationen durchspielen, die ich selbst erfahren habe, von denen ich aber nicht weiß, ob ich ihre Wiederkehr wünsche oder eher fürchte. Sie sind mit einer Art Schrecken verbunden, der zwar nicht wirklich zu meiner Gefährdung führte, mir allerdings bedrohlich nahe kam. Bis hin zu einer „allzu primitiven“ Begeisterung.

1) Barrabam-Schrei aus Matthäus-Passion von Bach (Wut s.o.)

2) Die Folter-Szene in Puccinis „Tosca“ (Tenorschrei: Verismo)

3) Jede Wiederkehr des Leidens-Themas im Adagio der zweiten Schumann-Sinfonie

4) Bach „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ (sanftes, unerbittliches Gleichmaß)

5) Wagner Lohengrin Vorspiel (allmähliches Anwachsen des Stromes bis Beckenschlag)

6) Wagner Siegfrieds Schmiedelied (Sieg: Vibrato-Wucht auf dem Ton F s.u.)

7) Strauss Elektra (steigende Spannung bis Wiedererkennung „Orest!!!“)

8) Mahler „Ich hab‘ ein glühend Messer“ (Niederlage: „O weh!“)

9) Anfang des Klarinetten-Quintetts von Brahms (Terzentrost & Farbwechsel)

Mime Siegfried Vibrato

Die Anregung zu dieser Liste (die um viele Punkte erweitert werden könnte, zumal aus der nicht-klassischen und aus der nicht-westlichen Musik) gab das lapidare Forschungsergebnis, das die Forscher Altenmüller und Kopiez (2012) mitteilen:

Das einzige Merkmal, das in unseren Experimenten als eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Entstehung einer Chill-Reaktion gefunden wurde, war ein unerwarteter Bruch  in der musikalischen Struktur oder, in der Terminologie von David Huron, eine Nichterfüllung von Erwartungen.

Ich würde hinzufügen: … oder in der hinausgeschobenen bzw. verspäteten Erfüllung von Erwartungen; [also doch ein nicht gerade unerwarteter Bruch? siehe Lohengrin].

1) Wenn man diesem Turba-Schrei zum erstenmal begegnet (bei mir etwa 1955), trifft er einen unvorbereitet, zumal die Erzählung sich etwas hinzieht: Pilatus hat die entscheidende Frage längst gestellt, Barrabam oder Jesum? Aber zunächst kommt noch „Pilati Weib“ mit ihrem Traum zu Wort, dann wieder die Hohenpriester und die Ältesten, dann noch einmal die Frage des Pilatus und die irreführende Formulierung des Evangelisten „Sie sprachen“ und in der nächsten Sekunde – statt eines Sprechens – dieser gewaltige Schrei, den der Herausgeber Kretzschmar mit einem fortefortissimo bezeichnet hat, ein verminderter Septakkord, der völlig aus der Tonart fällt. Es ist wie ein Angriff. Das Ungeheuerliche kommt erst im Nachhinein zu Bewusstsein, – als Jugendlicher setzt man die Grammophon-Nadel gern noch mehrfach zurück, bereits mit Gänsehaut, um nun andere dran teilhaben zu lassen, und rät beschwichtigend: „Wartet nur ab…“

Frage: Handelt es sich wirklich um eine musikalische Wirkung – oder um eine regietechnische Überrumpelung? (Anders als im Fall des unfassbar wilden Chores „Sind Blitze, sind Donner“, vor dem man ebenfalls längere Zeit stillgestellt wird durch das Duett „So ist mein Jesus nun gefangen“, – in Alarmbereitschaft versetzt immerhin nach dem ersten Einwurf des fassungslosen Chors der Gläubigen „Lasst ihn, haltet, bindet nicht!“).

2) Wie geschmacklos, diese Folterszene im 2. Akt, – Cavaradossis „echte“ Schreie aus dem Hinterzimmer, Toscas Verrat und die Frage des Gefolterten: „Hast du geschwiegen?“ Man will es nicht ertragen und auch – als notwendigen Ausweis der Realität nicht missen. Ist es so? Dürfte ich die Nadel noch einmal zurücksetzen (gab es da nicht diesen Trauermarsch?) oder vor den Worten des Verrats („Im Brunnen … dort im Garten“), diese 4 Akkorde überprüfen (sind das etwa die Tagesschau-Akkorde?) – oder willst du Sadist nur noch einmal die Schreie hören? Ich kann die Gänsehaut nicht leugnen… Für mich ist der Höhepunkt der Anfang (!) des 3. Aktes, der Nachthimmel, die Herdenglocken, die sich in der Ferne verlieren, das Lied des Hirten mit der Knabenstimme: „Io de‘ sospiri te ne rimanno tanto“ – „Ach soviel Seufzer sind Qualen meinem Herzen“. Dann die Morgenglocken!

Ein bloßer Bruch in der musikalischen Struktur?

3) Zitiert Schumann Bach? So dass ich sofort weiß, wie ernst das ist, dieses Leidensmotiv aus der Triosonate des „Musikalischen Opfers“? Aber dann der Rhythmus eines Schreittanzes im Untergrund (ich denke an Ravels Pavane, die mir ebenfalls eine Gänsehaut abfordert), das Unerbittliche in graziöser Verkleidung. Madame La Mort. (Eos erwähnte den Aufmarsch des Chores bei Sanchez-Verdú am Anfang des Jerusalem-Programms in Mannheim…) Hören! Die Wirkung der Klarinette bei 2’57. In diesem Fall spielt aber die Steigerung bei jeder Wiederkehr des Themas eine große Rolle: auch die Wirkung der Triller! Tränen sind geradezu unvermeidlich. Im Konzert würde ich dieses Stück meiden oder eine Rechenaufgabe dabei lösen.

4) Die sanften, gleichmäßig fließenden Sechzehntel sind es – gerade dieses Gleichmaß, ohne Bruch in der Struktur, ist entscheidend, die dadurch bedingte Verlangsamung der Melodie, das Heraustreten von Einzel-Intervallen und Kurz-Motiven, der Bedeutungszuwachs jedes einzelnen Harmonieganges, der Wechsel der Ebenen, die Wiederholung in der Tiefe, Intensivierung durch „Gewichtigkeit“. Choral-Melodien wirken bei Bach eigentlich immer als Momente der Wahrheit, besonders aber im Anfangschor der Matthäuspassion – dank der Knabenstimmen. Aber auch in vielen Werken, wo in Einzel-Zitaten ein Cantus Firmus auftaucht, dessen Melodie mit dem musikalischen Material der beteiligten Instrumente ansonsten weniger zu tun hat, sondern „unbeirrt“ auftaucht. Im vorliegenden Fall müsste ich dagegen die Wirkung der Chorals zeilenweise beschreiben, mit dem Höhepunkt ab Takt 9,  mit As-dur-Kadenz – dann aber im Bass As – E – F – also Wendung in Richtung F-moll, statt dieses Akkords aber dann der Trugschluss Des-Dur, die Wendung über Es-dur nach C-moll  und der Aufstieg der Melodie über die Töne Es – As – As – B – B – C:  das alles ist letztlich so unbeschreiblich, als müsse gerade eine Geschichte von Leben und Tod ohne Worte erzählt werden. Vom Text weiß man nur „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ – nur diese leiseste Anrufung bleibt, in der letzten Stunde, – nur darum kann es sich handeln, um diesen Bruch… (Merkwürdigerweise gefällt mir keine der Aufnahmen, die auf youtube zu finden sind; gerade nicht die von Anna Gourari, wo mit romantischen Fotos auf die Tube gedrückt wird. Es muss sensibel, aber quasi ungerührt gestaltet werden. Mit Noten kann man das Stück bei Claudius Tanski studieren, aber hier ist es womöglich zu langsam, zu drückend, es gibt zu viele kleine Verzögerungen. Der unabänderliche Gang der Dinge ist Hintergrund unserer Erschütterung durch die melodisch-harmonischen Einzelmomente.Vielleicht handelt es sich bei den Sechzehnteln aber auch um den roten Faden (der Liebe), der sich durch alle Dunkelheiten der Harmoniewechsel zieht? Aber das ist schon eine Deutungsphantasie…

5) Lohengrin-Vorspiel – „Heilig“ sagt schon der erste Harmoniewechsel in höchster Höhe, kirchentonal ist der Wechsel zwischen Tonika und VI. Stufe und zurück, „funktionslos“. Das Heilige (oder das Leben?) ist ein tendenziell unendlicher Strom.  HIER (Anfangsbeifall bis 0:40) Vorausahnung des Höhepunkts beginnt bei 5:33 = Crescendo-Beginn, es lässt nicht nach … 1. Beckenschlag bei 5:57, 2. Beckenschlag (schon im Abschwellen) bei 6:22 Rückkehr zum Anfang abgeschlossen bei 8:22

Die Chill-Wirkung, die ich aus den 50er Jahren in Erinnerung habe (als ich außer dem Vorspiel immer noch „Elsas Traum“ mit Begeisterung hörte – auch hier übrigens im Anfang die verminderte Quart, vgl. Bach/Schumann), bleibt jetzt aus, vielleicht auf Grund der dürftigen Klangqualität der alten youtube-Aufnahme.

6) Merkwürdigerweise gibt es den Chill der Freude selten, die Freude selbst dagegen immer wieder, – wieviel von Bach könnte ich benennen! Die Brandenburgischen Konzerte, Kantaten wie „Unser Mund sein voll Lachens“ oder die entsprechende Suite. Und ich muss mir nur den Anfang der Italienischen Sinfonie von Mendelssohn vorstellen, um leichten Herzens zu sein. Aber diese verrückte, überhebliche Freude an der eigenen Kraft, das brachiale Gefühl, der Welt gewachsen zu sein, ja, übermütig auf den Tisch zu schlagen, einen begeisterten Veitstanz aufzuführen, das stellt sich doch selten ein: kein Triumph mit wirklich gutem Gewissen! Aber hier mit den Hammerschlägen des Schmiedeliedes, das keine Hindernisse der Rücksicht kennt, da entsteht unwillkürlich ein glucksendes Lachen, dessen man im Nachhinein nicht froh ist. Ach dieser bösartige Giftzwerg Mime, der dem strahlenden Helden die tödliche Suppe köchelt, soll er mir etwa leid tun? Stimmgewalt… Wird er nicht rein stimmlich hinweggefegt, in jenen Takten, wo er mit seinen quäkenden Tönen keift: „lachen muss mir der Lohn!“ und Siegfried denselben Ton, das hohe F auf „Lohn“, in seinem „Hoho!“  überbietet und für einen Moment mit einem Fortissimo-Vibrato ins Uferlose treibt? Da kann man nur wie ein törichter Fußballfan aufspringen und mitgröhlen. Herrlich heldische Atavismen.

Unvergleichlich in dieser einen Aufnahme, wie so vieles in Soltis Jahrhundert-Ring aus dem Jahre 1962. Siehe HIER, der Wechsel des hohen F von Mime zu Siegfried (Gerhard Stolze, Wolfgang Windgassen) siehe ab (kurz nach) 1:18:05.

Sympathie für „die blonde Bestie“? Nur wenn man ihn für einen Halbstarken hält, der das Fürchten (und Fühlen) noch lernen wird. Am Ende vorstellbar als ein aufrechter Staatsbürger? Lächerlich. Von Sympathie spreche ich nicht, sondern von blinden Chill-Reaktionen.

Ich denke aber lieber an Freudekundgebungen wie die der Figaro- oder der Carmen-Ouvertüre.

7) In „Elektra“ ist es mehr die Situation als die Musik, obwohl gerade diese mit dem „Orest!“-Schrei der Elektra alle Dämme brechen lässt und einen riesigen Schwall der Motive und Emotionen entlädt. Die Wirkung hat essentiell mit der Ratlosigkeit vorher zu tun, mit dem Aufbau der Erwartung des wissenden Publikums, jede neue Frage erhöht die Spannung: „Wer bist denn du?“ bis „Wer bist du denn? Ich fürchte mich.“ Orest (sanft): „Die Hunde auf dem Hof erkennen mich, und meine Schwester nicht?“ Elektra (aufschreiend): „Orest!“

Es ist eine archaische Szene: die Angst vor dem Unbekannten und die Aufdeckung, die Wiedererkennung. (Die genannten Hunde sind durch Menschen vertreten…)

Elektra 1 Screenshot 2015-11-05 11.39.34 Elektra 2 Screenshot 2015-11-05 11.39.50

Nach diesem Schrei könnte statt der Orchestermusik anhaltendes Maschinengetöse zu hören sein, die Gänsehaut ist unvermeidlich. (Screenshots etwa bei 1:15:10 aus der BelAir-DVD mit Evelyn Herlitzius, Orchestre de Paris, Esa-Pekka Salonen, Patrice Chéreau.) Wiedererkennungsszenen, blitzartige Durchblick-Erlebnisse tun unvermeidlich Wirkung, ob Kitsch, ob Kunst. Bei Karl May und Rosemarie Pilcher ebenso wie bei Richard Strauss. Am Ende der Schiller-Ballade „Die Bürgschaft“:  hier ist es der Erweis einer Freundschaft bis zum Tode. Und es muss sichtbar sein, wie auf einer Bühne: „Und Erstaunen ergreifet das Volk umher, / In den Armen liegen sich beide / Und weinen vor Schmerzen und Freude. / Da sieht man kein Auge tränenleer, / Und zum Könige bringt man die Wundermär, /  Der fühlt ein menschliches Rühren, /  Lässt schnell vor den Thron sie führen.“ Die im Hintergrund lauernde Gewalt löst sich auf in plakative Harmonie.

8) Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“, es geht um die früheste Aufnahme mit Dietrich Fischer-Dieskau und Furtwängler mit dem Philharmonia Orchestra (1952). Das, was mich beim ersten Mal ins Herz traf: der hohe Ton auf dem zweiten „Messer“: „Ich hab‘ ein glühend Messer, ein Messer in meiner Brust, oh weh, das schneid‘ so tief!“ Man höre genau diesen Anfang auf youtube: hier hat er die Wildheit des Ausdrucks noch kaum abgemildert wie in späteren Aufnahmen, und dennoch ist es kein roh-naturalistischer Ausbruch. Was für ein Übergang auch später, nach der ruhigeren Phase, wo die Erinnerung an „ihr silbern Lachen“ wieder umschlagen will in Raserei und die „O weh, o weh“-Klage  in den ungeheuer, verzweifelt zusammenfassenden Satz übergeht: „Ich wollt‘ ich läg auf der schwarzen Bahr, könnt‘ nimmer, nimmer die Augen aufmachen“, dieser Vokal „a“ in „aufmachen“,  – wen es da nicht von oben bis unten überläuft, der höre den nächsten Satz und beginne wieder von vorn… Ich behaupte, Fischer-Dieskau hat es nie wieder so erschütternd getroffen wie hier (ab 9’00). (Vielleicht weil ich damals auch noch ziemlich jung war???)

Der Wehe-Ruf der absteigenden kleinen Sekunde, der sich wiederum häufig in der Nähe der kleinen Sext aufwärts findet (wie auch hier bei „Ich wollt’…“, dem Beginn des Abstiegs, der wiederum sein Ziel hat in der kleinen Sekunde: „aufmachen“), gehört offenbar zum biologischen Stamm der Ur-Motive des Menschen. Ein Trennungsruf, der die kommunikative Verbindung meint. Also ein Stimmfühlungsruf, wie er dem Menschen seit frühen Zeiten vom Schrei des Bussards und dem Ruf des Gimpels vertraut ist. Der Neurowissenschaftler Jaak Panksepp bezieht sich bei seiner Untersuchung des Chill-Effekts mit einer gewissen Einseitigkeit auf dieses Phänomen:

Ein Sonderfall der akustisch ausgelösten Chill-Reaktion scheint bei mütterlichen Trennungsrufen einiger Affenarten aufzutreten. Diese Rufe führen bei den abgelegten Affenbabys zum Aufstellen der Haare. Jaak Panksepp argumentiert, dass Gefühle des Verlustes und der sozialen Kälte so durch die mütterlichen Laute gelindert werden können. Seiner Meinung nach könnte dies erklären, warum beim Menschen häufig Chill-Reaktionen bei trauriger oder sehnsuchtsvoller Musik auftreten. Kritisch anzumerken ist, dass bislang keine systematische Untersuchung dieser Chill-Reaktion bei Primaten durchgeführt wurde. Auch wenn Panksepps These häufig zitiert wird, haftet ihr somit etwas Anekdotisches an.

Quelle Eckart Altenmüller und Reinhard Kopiez: Starke Emotionen und Gänsehaut beim Musikhören: Evolutionäre und musikpsychologische Aspekte. In: 16. Multidisziplinäres Kolloqium der GEERS-STIFUNG 2012 Band 19 (Seite 59)

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Die eben zitierte Artikel war das Movens für den vorliegenden Blog-Beitrag, der eigentlich nur als Stoffsammlung gedacht war, bevor er ausuferte, ohne zu einem Ende zu führen. Da das Thema untergründig und auf Nebenschauplätzen weiterwuchert, kam gestern – amazongesteuert – das Buch von Byung-Chul Han, bei dessen Lektüre ich an Musik denken werde. Auch hier ist Anekdotisches nicht auszuschließen.

Han Gewalt a  Han Gewalt b

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In welchem Maß die hier hervorgehobene Überschreitung des künstlerisch gebändigten Ausdrucks in Richtung „Schrei“ zum Allgemeinplatz geworden ist, kann man im Journalismus oft genug aufzeigen (ich will es auch gar nicht kritisieren), z.B. hier:

Eines der markantesten Beispiel seiner [Ferenc Fricsays] Interpretationskunst findet sich im „Fidelio“, wo auf Pizarros (Fischer-Dieskau) „Er sterbe“ ein einzigartig dramatischer Prozess in Gang gesetzt wird, der in Leonie Rysaneks Aufschrei „Töt‘ erst sein Weib!“ seine erste Entladung findet. Ein Schrei, der die Grenzen dessen erreicht, was Musik überhaupt ausdrücken kann. Kurz darauf ertönt, mit einem harmonischen Trugschluss die Botschaft aus einer anderen Welt versinnbildlichend, das ausgedehnte Sostenuto des Trompetensignals, das jeden jagenden Puls schlagartig verstummen lässt. Eine solch radikale Spannung zwischen Bewegung und gefühltem Stillstand ist bezeichend für Fricsays geballtes, kontrastbetontes Musisieren.

Quelle FONO FORUM November 2015 Seite 64 f Wider die Politur Im August 2014 wäre der Dirigent Ferenc Fricsay 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass hat sein ehemaliger Labelpartner im Jahresabstand zwei Boxen mit Einspielungen vorgelegt. Von Christoph Vratz.

Herbsttag an der Schwanenmühle

Ohne Absicht*

Herbsttag Schwanenmühle Senf Waldrand kl

Rapsfeld nein Senf Ende Oktober kl

Herbsttag Schwanenmühle 2 kl Herbsttag Schwanenmühle 6 kl

Herbsttag Schwanenmühle Bach JR Herbsttag Schwanenmühle Bach JR

Herbsttag Schwanenmühle 12 kl  Herbsttag Schwanenmühle Fachwerk JR

Herbsttag Schwanenmühle 8 kl  Herbsttag Schwanenmühle 9 kl

Herbsttag Schwanenmühle Fü Schloss kl

Herbsttag Schwanenmühle 11 a

Herbsttag Schwanenmühle Fachwerk kl

* Ohne Absicht? Es war nicht meine Absicht, etwas mit dieser Bilderfolge auszusagen, auch nicht, die Eindrücke des gestrigen Tages festzuhalten. Ich habe sogar behauptet, dabei an Schopenhauer gedacht zu haben, nicht an seine abgrundtiefe Skepsis oder seinen Sinn für Schönheit, sondern an seine Betrachtung des Lächerlichen. Einige Haikus sind mir in den Sinn gekommen, weil ich abends in Byung-Chul Hans Reclam-Band über den Zen-Buddhismus gelesen hatte. Hätte ich Marcel Proust gelesen, hätte ich manches anders gesehen und mir vielleicht gesagt, ich müsse ein anderer Mensch werden. Das Wort „Achtsamkeit“ wäre mir durch den Kopf gegangen und in „Aufmerksamkeit“ abgeändert worden. Aber als wir längere Zeit bei den Pferden standen (hier noch kaum im Bilde), fiel mir ein, wie sehr mich als Kind Jonathan Swift beeindruckt hat mit Gullivers Reisen, ganz besonders mit der Reise in das Land der Hauyhnhnms. Ich habe das durchaus nicht als Satire verstanden.

Herbsttag Schwanenmühle Pferde kl

(Alle Fotos – bis auf zwei – E. Reichow)

P.S. Es war mir ein Anliegen, in Erfahrung zu bringen, weshalb so spät im Jahr noch einmal der Raps blüht. Es ist aber kein Raps, sondern Senf. Und der darf um diese Zeit blühen und nicht im Frühling, wenn der Bauer uns ein knalliges Gelb in die Landschaft wünscht…