Zitate zur aktuellen Wagner-Regie

Stephan Mösch über Frank Castorf

… der sich mit seiner Inszenierung von einem dergestalt proklamierten Werkbegriff distanziert und erklärte: „Was wir machen, ist Dynamisierung des musikalischen Originals durch Gegenhandlung.“

Nicht mehr um den (ideologisch fixierbaren und instrumentalisierbaren) narrativen Ablauf eines Stückes soll es gehen, sondern um Fragmente daraus, die mit Kommentaren, Kalauern, anderen Texten, mitunter auch mit einer Fülle des Leerlaufes kombiniert werden. (S.77)

Es geht weniger um Intertextualität als darum, die Grenzen von ästhetischer Erfahrung zu verschieben. Er wolle, „das Leben auf die Bühne bringen“, sagt Castorf. Er suche einen „daseinsanalytischen Ansatz“. Dafür sei ihm das Stück als abgeschlossenes Gebilde zu wenig. (S.78)

„Leben“ erweist sich als Oppositionsbegriff zur Darstellung des tradierten Schauspiels und der damit verbundenen Identifikationsästhetik.

(…) Die Aufführung versteht sich demzufolge nicht als Wiedergabe, sondern als Tat im emphatischen Sinn. (S.78)

Alles, was (als Körpersprache, verbale Mitteilung, szenisches Bild usw.) auf Bedeutung zuläuft, kann unter solchem Vorzeichen als „Unterwerfung unter eine Chimäre“, „blinder Akt des Glaubens“ oder weniger polemisch, als „Identifikation auf Zeit“ gemieden werden. Stattdessen wird Selbstreferenzialität als Mittel genutzt, den theatralen Augenblick neu zu definieren, neu zu erfinden. Damit verbindet sich nicht zuletzt ein Einspruch gegen das Theater als Institution (und institutionalisierter Ablauf) sowie die damit einhergehenden Produktionsfaktoren und Rezeptionshaltungen.

Es wäre jedoch irrig, aus dieser Bilderfolge einen hermeneutischen Zugriff zu folgern: Die Konkretion und die damit verbundene diegetische Transposition liefen nicht auf eine Neudeutung hinaus, vielmehr lieferten sie einen Rahmen, in dem Konstituenten des Castorf-Theaters greifen konnten. Der Zugang bleibt überaus persönlich, assoziativ, sprunghaft und autobiografisch. (S.80)

Die Tendenz, musikalische und dramaturgische Schlüsselstellen – in Castorfs Terminologie – zu „zerschlagen“, oder , neutraler formuliert, zumindest ansatzweise neu zu formatieren, setzt sich wenig später fort. (S.82)

Störung oder „Zerschlagung“ im Sinn von Dekonstruktionsbestreben richten sich gegen Immanenzen, damit auch und gerade gegen musikalische Schlüsselstellen und déren Autonomität. Wie für die Augen soll auch für die Ohren das Bekannte konterkariert werden, das kompositorisch besonders Geformte und Herausgehobene abgewertet: Störung als Gegenläufigkeit. (S.83)

Er bricht die Musik nicht nur (wie am Schluss des Rheingold), er blendet sie weitgehend aus.

Wo Wagner auf musikalische Verdichtung zielt, bricht Castorf jede prozessuale Entwicklung, evoziert laute Lacher im Publikum. Slapstick („Gegenhandlung“) dynamisiert den musikalisch-dramaturgischen Ablauf nicht nur, er hebelt ihn aus. (S.84)

Das „musikalische Original“ steht, von gelegentlichen Oberflächenreizen abgesehen, kaum zur Diskussion. Es wird in seiner Tiefenstruktur gar nicht erfasst. (S.87)

Quelle Musik & Ästhetik 19. Jahrgang Heft 75, Juli 2015 Klett-Cotta Stuttgart Stephan Mösch. „Die Krokodile sagen alles“ Frank Castorfs Bayreuther Ring und die „Dynamisierung des Originals“ (Seite 77 bis 88)

Dies ist keine Zusammenfassung der komplexen Darstellung von Stephan Mösch, sondern eine Aneinanderreihung charakteristischer Zitate, die zudem im Fall von „Zitaten im Zitat“ die Quellenangaben des Originals (Fußnoten) nicht berücksichtigen. Es lag mir nur daran, die im sachlich analytischen Verlauf zutagetretenden meinungsbildenden Faktoren zum Vorschein zu bringen. Womit sich natürlich nicht die Lektüre des Gesamttextes erübrigt. Im Gegenteil: sie erst ergibt den mit konkreten Beispielen angereicherten Verständnishorizont. J.R.

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Mein Fazit: Was den Regisseur an der totalen Verwirklichung der von ihm gefühlten Aufgabe hindert, ist das, was mich allein motiviert: die Musik Wagners in ihrem linearen, narrativen Ablauf. Aus der Sicht der Regie-Arbeit ist logischerweise nicht zu verstehen, weshalb die Musik unantastbar sein soll, während alles andere – um der Wahrheit und des „Lebens“ willen -aufgebrochen werden darf. Mich stört dieser Widerspruch. Warum kann man mit der akustischen Komponente nicht auch so verfahren wie mit dem Rest der Wagnerschen Vorstellungswelt: warum nicht die Worte verändern, ins Gegenteil verkehren, Geräusche und Elemente der heutigen (musikalischen) Realität einblenden? Dem Auftritt der Plastikente etwa könnten Einsprengsel von Mickey-Mouse-Musik entsprechen. Dort, wo die Sänger schweigen, könnten Dick-und Doof-Dialoge zu hören sein.

In der Tat wäre die Frage, warum nicht längst auch im Konzertsaal die breit konzipierte Ästhetik des Regietheaters Fuß gefasst hat. Warum gibt es dort intakte Werke – auf einer Bühne – angesichts einer Welt da draußen, in der nichts mehr „in Takt“ ist? Warum nicht endlich die ganze musikalische Kunst und ihre lügenhaften Fiktionen durch Realität ersetzen?

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Peter Sloterdijk über Katharina Wagner:

Sie dient bis auf Weiteres als lebender Beweis dafür, dass Talent nicht erblich ist.

Peter Sloterdijk über Frank Castorf:

Dass der Regisseur ein Zyniker und Schlamper ist, weiß man nicht erst, seit er am Hügel seine Visitenkarte abgab. Der aktuelle Kulturbetrieb benutzt Zyniker und Schlamper als Informanten über das, was als Nächstes kommt. Wer ärger schlampt als andere, prägt die nächste Saison. Wer das Publikum heftiger verachtet als andere gelernte Verächter, wird weitergereicht in die nächste Runde.

Peter Sloterdijk über das Bayreuther Publikum:

Gegen die kondensierte Verehrung der Besucher kommt hier niemand auf. Keine Herabsetzung vermag dort die Empörung zu entmutigen. Das musste wissen, wer am Hügel inszenierte. (…) Gleichwohl, mit Wagnerianern soll man über dieses Rheingold reden. Mit Verkehrungen kennen sie sich aus. Sie haben gelernt, das Abwegige „anregend“, das an den Haaren Herbeigezogene „spannend“ und das Misslungene „interessant“ zu finden. Ja, interessant war das Rheingold gewiss. Man kommt mit dieser Feststellung unvermeidlich auf Nietzsche zurück, der sich bezichtigt, zeitweilig der korrupteste Wagnerianer gewesen zu sein. Früher als die übrigen Kulturkritiker hatte verstanden, was das Wesen des Interessanten ausmacht: Es bildet das Produkt aus den drei Stimulanzien der Entnervten – aus dem Brutalen, dem Künstlichen, dem Idiotischen. In heutiger Sprache: Aktion, Spezialeffekte, Sentimentalität. Womit der Turiner Toxikologe die beginnende Massenkultur erschöpfend beschrieben hatte.

Quelle DIE ZEIT 6. August 2015 Seite 39 f “Bayreuther Assoziationen / Eine Reise zu den Festspielen” Von Peter Sloterdijk