Ein Ring – ohne Gesang!
Vor vielen Jahren habe ich einmal einen Puccini ohne Gesang sehr schön gefunden (Harald Banter hatte die CD in WDR3 vorgestellt), habe mir die Aufnahme gekauft und dann einem Puccini-Liebhaber geschenkt. Der schrieb mir ungerührt: Aber ich liebe doch Puccini wegen des Gesangs! Und er hat sie – aus Höflichkeit? – dennoch behalten, die geschenkte CD, und ich ärgere mich bis heute. Wagner ohne Gesang (mit Maazel) hätte ich auch gern gehabt. Und jetzt las ich eine Kritik, die ich als Verriss empfand, einen derart unbedarften, dass ich mich nicht scheute, die CD gerade deswegen zu bestellen. Hier ist die Kritik (deren Quelle ich absichtlich verschweige), und weiter unten die Abbildung der CD, die ich mit den urteilenden Worten vergleichen will.
Nein, „unbedarft“ ist nicht das richtige Wort für einen Verriss in diesem Ton, es ist eine dilettantische Argumentation, die hochtrabend daherkommt, man könnte sie blindlings auf Werke völlig anderer Provenienz übertragen. Sie passt immer und nie. Sie lässt sich nicht recht widerlegen, weil sie gar nicht auf realen Eindrücken beruht.
Die Töne wirken in manchen, gerade getrageneren Passagen nur aneinandergereiht, was an den speziell in langen Linien oft fehlenden oder abbrechenden Spannungsbögen liegt; die Musiker gehen zu sehr von einem Ton weg, sodass die Verbindung zum nächsten fehlt – etwa in „Wotans Abschied“ und „Feuerzauber“.
Was für ein pauschales Daher-Gerede! Ganz am Schluss der Rezension kommt es ans Licht, wie man diese CD im Auto hört („das könnte unfallträchtig sein“). Mein Rat: zunächst das Fortissimo prüfen (Tr.5 Gewitter), dann erst ab Anfang der CD: die Kontrabässe auf dem Meeresgrunde an der Grenze zum Unhörbaren, – und siehe da! das Fagott in Takt 5 wird nicht „dominant“ erscheinen, es wird auch nicht erst mit den Hörner in Takt 17 einsetzen, wie das kritische Ohr behauptet. Ein Blick in die Partitur könnte helfen. Wenigstens wenn man – als seriöser Kritiker – endlich nicht mehr im Auto sitzt.
Nehmen wir’s mal genauer und schauen ein wenig in den Klavierauszug: Wotans Abschied will hier (s.u.) zum Feuerzauber übergehen, Zeile 2, dies ist bereits der Anfang von Tr.10. Dort aber, wo das Feuer voll zur „immer helleren Flammenglut anschwillt“ und schließlich „Wotan mit wildem Flackern“ beleuchtet, so dass sein Zauber Wirkung zeigen könnte (s. u. die zweite Klavierauszug-Seite), da hat die CD-Auswahl längst den Sprung in den „Siegfried“ geschafft, und zwar in diesem Tr.10 genau bei 1:50. Man muss das mal hören und sehen, um beurteilen zu können, ob die von der Kritik gedroschene Phrase vielleicht doch einen Hauch von Sinn hat: „die Musiker gehen von einem Ton weg, sodass die Verbindung zum nächsten Ton fehlt“. Nein, nichts fehlt, es ist ein leeres Klischee!
Unsinn und Klischee allenthalben. Auch wenn eine Art Lob kommt, es ist ein vergiftetes:
Zu loben sind die durchaus schönen Solistenleistungen der Musiker und die meist recht gute Intonation. Gleichwohl spielt die Staatskapelle wenig durchhörbar, sehr flächig; oft kann man einzelne Register etwa der Streicher kaum voneinander unterscheiden. Das scheint gerade für Wagners so (im wahrsten Sinne des Wortes) vielschichtige Musik ungeschickt und erzeugt einen kompakten, etwas dumpfen, aber immerhin stets warmen Klang.
Die Register der Streicher – wer bisher dachte, dass sie möglichst homogen spielen sollten, liegt falsch, – er lernt einen kompakten Klang kennen, der stets sehr warm ist, aber leider auch dumpf. Das kann eigentlich nur an den Ohren liegen. Verbunden mit dem denkbar musikfeindlichsten Ansatz der Kritik, nämlich – eine „Referenzaufnahme“ mit den Berliner Philharmonikern als absoluten Maßstab anzulegen, bevor man sich überhaupt den Lautsprechern zuwendet. Ohne einen weiteren Ton gehört zu haben, kann man risikofrei konstatieren:
Nichts ist wirklich schlecht, viel wirklich schön.
Wenn das kein Lob ist! Ein vernichtendes. Bis hin zu dem erwähnten (heuchlerischen) Ratschlag, man solle die CD sicherheitshalber nicht im Auto hören, da die dynamische Bandbreite der Partitur von Hansjörg Albrecht und seinem Klangkörper voll und durchaus fein ausgeschöpft wird, – „voll und durchaus fein“. Ansonsten kann der Klangkörper aber gar nichts dafür, denn die Bandbreite kommt weniger von der Interpretation, es handelt sich um eine „natürlich schon von Wagner entsprechend angelegte“. Wer hätte denn das gedacht!?
Doch im Ernst: auch die dürftigste Kritik kann einen etwas lehren. Betrachten wir doch nochmals die schon zitierte Phrase: dass die Töne in manchen, gerade getrageneren Passagen nur aneinandergereiht wirken usw., siehe oben. Schon als Erstsemester an der Hochschule lernt man, was bei der Melodiegestaltung zu beachten ist, die Linie besteht nicht aus toten Punkten, die Linie soll leben:
Ich kann den ersten Takt, wenngleich er absteigt, auf den zweiten hin spannen, ja, mit einem Crescendo und ganz dichtem Anschluss über den Taktstrich hinweg, mit leichtem Druck auf dem hohen A, diminuendo auf der dann absinkenden Linie. Die nächsten Takte genauso, aber um eine dynamische Stufe angespannter. Es muss allerdings noch Luft bleiben, für weitere Steigerungen. – Ich könnte es auch anders gestalten, nämlich den ersten Takt stärker beginnen und abfallen lassen, den zweiten jedoch, der durch die Tonhöhe schon stärker wirkt, so hauchzart ansetzen, als sei er viel zu verletzlich für diese Welt; dann erst wachsen lassen zum dritten Takt mit dem Fis. Und dieses weiterdenken – über den Abgrund der Pausen hinweg! Es gehört ja zu den Binsenwahrheiten des klassischen Unterrichtes: immer über den Taktstrich hinweg spannen! Nie die Melodie abfallen lassen, immer beobachten, wo ihr dynamisches Ziel liegt! Dann aber kam die neue barocke, historisch informierte Interpretation, und man musste diese Marotte mühsam zurückbilden: nun galt eine Betonungsordnung innerhalb des Taktes, er hatte starke und schwächere Zeiten. Der Geiger, der mit Inbrunst weiterhin von der letzten Zählzeit des Taktes zur ersten des nächsten Taktes crescendiert, war plötzlich fehl am Platze.
Da dies aber nicht unbedingt auch für die romantische Musik gilt, darf man das Klischee weiterhin ungestraft propagieren. Und so geschieht es auch hier. Falsch ist es ja nicht, es ist – wie gesagt – eine Binsenweisheit. Die Töne dürfen doch nicht einfach aneinandergereiht werden!! Genau! Oder man schaut einfach mal, was der Komponist selbst notiert hat. Vielleicht hat er die dynamische Gestaltung gar nicht so sehr den Interpreten überlassen?
Sie sehen, welche Möglichkeit der Melodiegestaltung Wagner gewünscht hat: piano beginnen, crescendo zum Beginn des nächsten Taktes und wieder zurück ins piano. Und was für ein Ungestüm in dem Zwischenraum der Pause, molto cresendo bis hin zum fortissimo! Und den (damals?) geübten Brauch hat mein Vater beim Dirigierstudium eingetragen: „accellerando“ und eine Fermate auf dem letzten Achtel des Taktes. Die neue Phrase der Melodie dann genau wie die erste, die Pausenfüllung ebenfalls. Dann aber die weiterführenden Phrasen über alle Taktstriche hinweg, bis unten auf die Seite, piano – crescendo rallentando – forte, a tempo – più forte – und weiterhin wachsen bis zum fortissimo (auf der nächsten Seite). Hören Sie doch die Stelle im „Original“ der Weimarer: Tr.9 ab 0:51 (bis etwa 2:17), dann haben Sie des Rätsels Lösung: die Kritik versteht nicht, weshalb Wagner in dem Moment, wo die Melodie den dritten Takt der Phrase erreicht, jeweils wieder im piano ansetzen lässt (der „Abgrund der Pause“ s.o.) und nach dem erreichten fortissimo noch einmal! Jaja, das klingt wie ein Anfängerfehler, das wollen wir mal in die Kritik schreiben. Die Solo-Oboe macht es dann zwar richtig, und überhaupt es geht über mehrere Takte hinweg zum ff Höhepunkt, tut mir leid, jetzt steht es schon anders da in meiner Kritik und macht sich doch recht fachkundig. Im übrigen weiß man doch, dass dieser Dirigent von Haus aus Organist ist und außerdem das Münchner Bach-Orchester leitet: da hat man halt so eine starre, barocke Melodieauffassung.
Typisch für eine Kritik, die soviel Überflüssiges aneinanderreiht (z.B. dass eine Symphonie von Wagner ein „Desiderat“ der Dirigenten war, die nicht an Opernhäusern tätig waren), typisch, den schönen Text nicht zu erwähnen, den man im sorgfältig gestalteten Booklet findet. Wer selber glaubt, schreiben zu können, hält sich mit anderen Schreiberlingen nicht auf. Darum sage ich: sehr lesenswert! Und diese Autorin ist ohnehin bemerkenswert (s.a. hier!). Beginnen Sie einfach hier mit der ersten von siebeneinhalb spannenden Seiten!
Ich freue mich über diese CD. Auffindbar bei OEHMS CLASSICS. Oder hier: niemand muss die Katze im Sack kaufen (oder mit Nachhilfe einer Kritik). Einfach reinhören!