Verführung zum Nicht-Lesen

Ein seltener Fall: die begeisterte Besprechung eines Buches zu lesen und zu beschließen, das besprochene Buch nie und nimmer zu lesen. Und so kann es einem gehen, wenn der eine Dichter den anderen als besonders sprachmächtig charakterisieren will, aber gerade das Gegenteil vermittelt. Ein Lehrstück in der neuen ZEIT: Martin Walser über Rudolf Borchardt und seine Sprache der Liebe.

In dem einzigen Buch, das ich je von Rudolf Borchardt gelesen habe und das mich beeindruckt, ja, begeistert hat, – „Der leidenschaftliche Gärtner“ -, findet sich eine zusammengefaltete Zeitungsseite, die Würdigung anlässlich des letzten Bandes der Gesammelten Schriften Rudolf Borchardts vom 1./2. Juni 1991, und schon diese hat bewirkt, dass ich nichts weiter von ihm lesen wollte. Auch damals ging es um die Liebe, und zwar in einer fragmentarischen Geschichte, überschrieben „Der bestrafte Leichtsinn“.

Marie Louise Borchardt, die verdienstvolle Sachwalterin der Werke ihres Mannes, hat bekannt, daß sie mit diesem Feuerwerk nicht eben viel anzufangen wußte und deshalb vielleicht ihren Teil zum vorzeitigen Abbruch beitrug.

Inmitten der Kapriolen, auf dem Wege zum Maskenfest im schwankenden Gefährt, finden sich die Liebenden zum innigsten Gespräch; überwältigt von der zarten Glut des unerfahrenen jungen Adi vergißt die Geliebte ihr Spiel des Anlockens und Abstoßens, gibt ihren sehnlichsten Wunsch preis und wechselt hinüber zur unverstellten Sprache der Liebenden: „Die Grenzen“, sage ich hinterm Fächer, „mußt Du selber kennen.“ „Wo sind sie?“ sagte er zwischen den Zähnen, ohne die Lippen zu regen. „Wo die Wirklichkeit beginnt; bis dorthin gelten Spielregeln; schenke mir Dein Herz, aber schneide es Dir nicht aus; wirf keine Mühlsteine in Netze aus Haaren. Erlaubt ist, was ich von Dir will, ich will von Dir, was ich brauchen kann; was das ist, mußt Du fühlen, durch Dein eigenes Gefühl. Was ich will, mußt Du wollen, unwillkürlich.“ „Eben“, sagt er durch die Mundwinkel, „hast Du gesagt, Du erlaubst mir, Dich zu lieben. Heißt das, was Du jetzt sagst, Du willst daß ich Dich liebe?“ „Es heißt vielleicht weniger vielleicht sogar noch mehr“, summe ich ihm aus dem Winkel zu, „aber eine Bedingung ist daran geknüpft. – Du mußt sie erfüllen.“ „Jede“, spricht er vor sich hin und schließt die Augen. „Fordere nie, daß ich Dir sage ‚Ich liebe Dich‘. Verlange nie mehr als die zwei Worte, immer die gleichen ‚Liebe mich‘.“

Das Zitat ist der Schluss (Höhepunkt) einer Besprechung aus dem Jahre 1991 und vielleicht der einzige Grund, weshalb ich Martin Walsers Besprechung der Liebesbriefe, die Rudolf Borchardt mit Marie Luise Voigt (bzw. bald Borchardt) real gewechselt hat, von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen habe, daraufhin jedoch die Lektüre der realen Briefe für immer verweigere.

Quelle 1 Süddeutsche Zeitung 1./2. Juni 1991 (Seite 145) Klaus Garber: Ein leidenschaftlicher Gärtner der Kultur / Zum Abschluß der Gesammelten Schriften Rudolf Borchardts.

Quelle 2 DIE ZEIT 11. Dezember 2014 (Seite 55) „Küsse meine Brust“ Der Sprachrausch ist die höchste Form der Erotik: Das beweisen die Liebesbriefe des Dichters Rudolf Borchardt und seiner Frau. Von Martin Walser.

Nein, ich kann nicht glauben, dass die Briefe beweisen, was Walser will. Fast könnte man meinen, dass mit der Überschrift die Erotik tatsächlich ihr Bewenden hat.

Nach diesem reinen Sinnlichkeitsmoment flieht er wieder dahin zurück, wo er herkam, in die Reflexion: dass er nämlich nichts von dem sagen könne, was ihn zu ihr hindränge. Aber er fühle schon ein stetes „Brausen und Brennen“; das schildert er zuerst als grandiosen Wetterwirbel, ein Metaphern-Gewitter ohnegleichen, bis er dann endlich sagen kann: „Ich liebe Dich.“ Und: „lass mich so werden, wie Du mich brauchst.“ Um dann sofort wieder in die pure Weisheit auszubrechen und dann doch wieder zurück zum Bekenntnis, er sei „durchglüht und berauscht, liebe geliebte Figur und Mund, Brust und Hände und sanftes Herz und reines heißes Auge, ich küsse Dich, ich küsse euch mit jedem Pulsschlage in meinem wunden Munde.“